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Anorektische und bulimische Essstörungen sind in entwickelten Industrieländern relativ weit verbreitet. V.a. Jugendliche und junge Frauen sind betroffen.
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In der Diagnostik unterscheidet man zwischen Anorexia nervosa (AN), Bulimia nervosa (BN) und Binge-Eating-Störung (BES).
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Die evidenzbasierte Psychotherapie ist die Therapie der 1. Wahl bei Anorexia nervosa.
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Bulimia nervosa kann häufig durch eine ambulante Psychotherapie behandelt werden, gelegentlich ist eine stationäre Behandlung erforderlich.
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Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist die Therapie der 1. Wahl bei Bulimia nervosa.
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Die Therapie der Wahl bei BES ist Psychotherapie (KVT). Es gibt einige Studien, die eine Wirksamkeit für antidepressive Medikation bei BES aufzeigen.
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Motivationsarbeit ist über den gesamten Therapieprozess ein zentraler Bestandteil und stellt eine der wichtigsten Aufgaben des Therapeuten bei der Behandlung von Essstörungen dar.
Q 6.1 – 1
Einführung
Bei Jugendlichen und jungen Frauen in entwickelten Industrieländern sind anorektische und bulimische Essstörungen inzwischen relativ weit verbreitet. Weit seltener finden sich diese Erkrankungen bei Männern (1 : 12). Nur die Binge-Eating-Störung tritt auch bei Männern wesentlich häufiger auf (1 : 1,5). Spezielle Risikofaktoren für Essstörungen sind
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psychische Erkrankungen in der Familie (Essstörung, Depression, Substanzmissbrauch),
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prämorbide Charakteristika (kindliches Übergewicht, frühe Menarche, niedriges Selbstvertrauen, Perfektionismus, Angststörung) sowie
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prämorbide Belastungen und kritische Lebensereignisse.
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Es spielen sowohl soziokulturelle als auch biologische und persönliche Faktoren in der Ätiologie eine Rolle.
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Diagnostisch unterscheidet man folgende wesentliche Essstörungen:
Anorexia nervosa ist charakterisiert durch Untergewicht (≥ 15% des normalen oder des für das Alter und die Körpergröße zu erwartenden Gewichts), intendierten Gewichtsverlust und starke Ängste, dick zu werden, wobei ein verschobenes Körper- und Selbstbild vorherrschend ist (Körperschemastörung). Unterschieden wird eine restriktive AN von einer AN vom Binge-Eating-Purging-Typ.
Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung sind charakterisiert durch wiederholte Episoden von Heißhungerattacken mit Essen von großen Mengen in relativ kurzer Zeit mit dem Gefühl des Kontrollverlusts über das Essen. Bei BN (Purging-Typ) besteht selbst initiiertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, Einnahme von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika mit dem Ziel, einer Gewichtszunahme entgegenzuwirken; dieses Purging-Verhalten fehlt im Wesentlichen bei der BES. Bei AN besteht Untergewicht, bei BN und BES Normal- oder Übergewicht, das bei der BES ausgeprägter ist. Als Beurteilungsmaßstab wird der Body Mass Index (BMI) herangezogen, der sich aus der Formel
BMI = Körpergewicht (kg)/Körpergröße2 (m2)
berechnet. Bei Erwachsenen beider Geschlechter gelten die folgenden Richtlinien:
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Untergewicht: < 18,5 kg/m2
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Normalgewicht: zwischen 18,5 und 24,99 kg/m2
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Übergewicht: > 25 kg/m2
Sowohl Unter- als auch Übergewicht werden zusätzlich nach ihrem Schweregrad in leicht-, mittel- und hochgradig unterteilt. Zur Beurteilung von Kindern und Jugendlichen liegen altersentsprechende Perzentilkurven vor, wobei Perzentile zwischen 25 und 75 als normalgewichtig anzusehen sind. AN verläuft in vielen Fällen chronisch, wobei zwölf Jahre nach einer stationären Therapie noch ca. 50% der Betroffenen die diagnostischen Kriterien erfüllen (
Deter und Herzog 1994,
Fichter et al. 2006), während es bei einer BN und einer BES nur 33 bis 34% sind (
Fichter und Quadflieg 2004,
Fichter et al. 2008).
Keel und Kollegen (1999) kamen für die BN nach einer ambulanten Therapie auf ähnliche Ergebnisse (ca. 30% zeigen nach zwölf Jahren noch essstörungsspezifsche Symptome). Die
AN stellt dabei die
stabilste Form der Essstörung mit den wenigsten Wechseln zu einer anderen Essstörung dar (Fichter und Quadflieg, 2007). Abhängig ist der Verlauf einer AN vor allem von einer vorliegenden Impulsivität, dem Schweregrad der Erkrankung und dem Chronifizierungsgrad, wohingegen bei einer BN besonders das Vorliegen von komorbiden Störungen einen chronischen Verlauf begünstigen kann. Folgen und Komplikationen wie z. B. Pseudoatrophie des Gehirns, Osteoporose, erhöhte Leberenzyme und endokrine Veränderungen mit Hyperkortisolismus treten insbesondere durch Starvation (bei AN und milder bei BN) auf. Erbrechen bedingt Elektrolytstörungen, Herzrhythmusstörungen, Nierenversagen, metabolische Alkalose, Zahnschäden und Schwellung der Speicheldrüsen.
Die Diagnostik erfolgt durch gezielte psychiatrische Exploration mithilfe strukturierter diagnostischer Interviews oder Diagnose-Checklisten und essstörungsspezfischer Interview-Leitfäden (z. B. Eating Disorder Examination [EDE], strukturiertes Interview für anorektische und bulimische Essstörungen [SIAB]). Laborbefunde und apparative Untersuchungen sind aufgrund der unspezifischen Ergebnisse nur in Grenzfällen wirklich hilfreich und dienen mehr der Vorsorge und dem Erkennen möglicher medizinischer Komplikationen. Betroffene mit Essstörungen stehen einer Behandlung häufig ambivalent gegenüber, sodass auch andere Berufsgruppen des Gesundheitssystems, u. a. Allgemeinärzte, Zahnärzte und Gynäkologen, auf erste Anzeichen einer möglichen Erkrankung achten sollten. Beim Vorliegen eines Verdachts auf eine Essstörung stehen Screening-Fragen zur Verfügung. Die Punktprävalenz für Frauen im Risikoalter zwischen 15 und 35 Jahren beträgt in entwickelten Industrieländern für AN ca. 0,4%, für BN ca. 1% und für BES ca. 2%.
Q 6.1 – 2
Therapie
Q 6.1 – 2.1
Evidenzbasierte Therapie
Die aktuell gültigen S3-Leitlinien wurden 2010 von einer Expertenkomission erstellt und von der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin (DGPM) sowie dem Deutschen Kollegium für Psychosomatische Medizin herausgegeben. Grundlage der Bewertung der Evidenzen ist die Anzahl an qualitativ hochwertigen Studien, die in diesem Bereich positive Ergebnisse nachweisen konnten. Es wird unterschieden zwischen
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Soll-Empfehlungen (A),
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Sollte-Empfehlungen (B) und
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Kann-Empfehlungen (0) sowie
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einem klinischen Konsenspunkt (KKP).
Q 6.1 – 2.2
Anorexia nervosa
Im Vergleich zu den anderen Essstörungen gibt es zu
Anorexia nervosa relativ wenig randomisierte Therapiestudien zur Psycho- und Pharmakotherapie. Gründe hierfür sind vor allem Probleme in der Rekrutierung von Studienteilnehmern und hohe Drop-out-Raten, die eine Auswertung und Generalisierung der Ergebnisse erschweren. Trotzdem stellt die
evidenzbasierte Psychotherapie gemäß den S3-Leitlinien die
Therapie der 1. Wahl dar (
A, ▸
Tabelle 1).
Mäßiggradige Belege liegen in der ambulanten Therapie für die Wirksamkeit von
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kognitiver Verhaltenstherapie (KVT),
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kognitiver analytischer Therapie (KAT),
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psychodynamischer Therapie (PT),
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interpersonaler Therapie (IPT) und
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Familientherapie (FAM)
vor (B). Alle spezifischen Verfahren sind einer unspezifischen Behandlung vorzuziehen (KKP), wobei keine ausreichende Evidenz vorliegt, dass eines dieser Verfahren einem anderen überlegen ist (A). Daher sollte bei der Wahl der Methode vor allem die Präferenz und das Alter der Betroffenen berücksichtigt werden (KKP). Bei allen therapeutischen Verfahren wird eine wöchentliche Gewichtszunahme zwischen 200 und 500 g angestrebt (KKP). Die körperlichen Folgen sollten begleitend beobachtet und regelmäßig abgeklärt werden. Um eine wirksame Behandlung zu ermöglichen, ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der einzelnen an der Therapie beteiligten Personen notwendig (KKP).
Stationäre Therapie
Eine stationäre Therapie sollte nur in Einrichtungen durchgeführt werden, die ein spezialisiertes und multimodales Behandlungsangebot vorweisen können (0). Der Einsatz von klar strukturierten symptomorientierten Behandlungsbausteinen, z. B. Gewichtsvorgaben, führt zu einer höheren Wirksamkeit (B). Es ist eine Gewichtszunahme zwischen 500 und 1000 g/Woche anzustreben, wobei höhere Gewichtszunahmen mit einem besseren Outcome einhergehen und das Ziel der stationären Behandlung daher immer eine Gewichtsrestitution sein sollte (bei Erwachsenen ein BMI zwischen 18 und 20 kg/m2 und bei Kindern und Jugendlichen die 25. Altersperzentile, mindestens aber die 10. Altersperzentile, B). Neue Studien finden wenig Unterstützung für lang dauernde stationäre Behandlungen, sodass eher Intervallaufnahmen anzudenken sind (KKP). Die Entscheidung für eine stationäre Therapie ist abhängig vom
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aktuellen Körpergewicht und dem Gewichtsverlauf,
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vom Erfolg einer ambulanten Vorbehandlung,
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von psychosozialen Faktoren, die eine Genesung negativ beeinflussen,
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vom Vorliegen schwerer psychischer Komorbiditäten und
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von der Schwere der Symptomatik.
Internetbasierte Rückfalltherapieprogramme
Internetbasierte Rückfalltherapieprogramme können nach einer stationären Therapie in der Nachbetreuungsphase eingesetzt werden und zeigen sowohl auf die weitere Gewichtszunahme als auch auf begleitende Symptome wie sexuelle und Entwicklungsängste und soziale Unsicherheit positive Effekte (
Fichter et al. 2012).
Ambulante Therapie
Tagesklinische Behandlungen werden vor allem bei chronischen Verläufen, zur Wiedereingliederung nach einem stationären Aufenthalt oder bei jungen Patienten angedacht, bei denen die Eltern intensiv in den therapeutischen Prozess eingebunden werden sollen und eine ambulante Therapie keinen Erfolg erzielte (KKP).
Medikamentöse Therapie
Antidepressiva (A), Neuroleptika (B), Lithium (B) und Appetitstimulanzien (B) erwiesen sich für die Gewichtszunahme bei AN als nicht wirksam und können daher nicht empfohlen werden.
Lediglich das atypische Neuroleptikum Olanzapin zeigt in Studien positive Effekte auf Gedankenkreisen, beherrschende Hyperaktivität und Zwangssymptome und kann daher bei der symptomorientierten Behandlung in einer niedrigen Dosierung erwogen werden (B). Aufgrund der möglichen schwerwiegenden Nebenwirkungen ist die Gabe des Neuroleptikums aber nicht als Dauermedikation einzusetzen.
Prognose
AN ist eine der psychischen Erkrankungen mit sehr hoher Mortalität (ca. 10% bei zehnjährigem Verlauf). Patienten, die frühzeitig in jugendlichem Alter einer Therapie zugeführt werden, haben einen wesentlich günstigeren Verlauf und eine geringere Chronifizierungsgefahr, sodass eine frühe Behandlung anzuraten ist (A).
Q 6.1 – 2.3
Bulimia nervosa
Ambulante Psychotherapie
Bulimia nervosa sollte gemäß den S3-Leitlinien (▸
Tabelle 2) vorwiegend durch eine
ambulante Psychotherapie behandelt werden
(B). Psychotherapeutische Verfahren haben sich dabei gegenüber einer Pharmakotherapie
(A), gegenüber einer Kombinationsbehandlung, gegenüber anderen Verfahren und auch gegenüber Selbsthilfeprogrammen als
überlegen erwiesen und sind daher zu empfehlen
(A). Zahlreiche kontrollierte randomisierte Studien belegen vor allem die
Wirksamkeit von KVT, auch in Kombination mit Exposition und Reaktionsmanagement. Dieses Verfahren ist daher als
Therapie der 1. Wahl anzusehen und den Betroffenen in erster Linie zu empfehlen
(B).
Außerdem gibt es mäßiggradige Belege für eine Wirksamkeit von IPT (B), und PT (0), die als Alternative eingesetzt werden können. Manualisierte, auf KVT-Elementen basierende Selbsthilfeprogramme können bei leichteren Verläufen oder zur Überbrückung von Wartezeiten auf einen Therapieplatz auch als alleinige Behandlung empfohlen werden (B).
Bei anderen psychotherapeutischen Ansätzen zeigt sich die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) derzeit als mögliche wirksame Ergänzung zu den bestehenden Verfahren: Erste Studien weisen auf eine Wirksamkeit dieses Verfahrens besonders im Hinblick auf die Verbesserung der emotionalen Instabilität hin, sodass diese Therapie vor allem bei einer vorliegenden komorbiden emotional instabilen Persönlichkeitsstörung angeraten wird.
Therapie mit Psychopharmaka
Die Wirksamkeit einer psychopharmakologischen Behandlung ist dagegen insgesamt als geringer einzuschätzen und kann damit nur als 2. Wahl nach einer Psychotherapie angesehen werden. Für mehrere Antidepressiva wurde eine, wenn auch geringe, Wirksamkeit im Akutstadium von BN aufgezeigt, wobei in Deutschland lediglich Fluoxetin bei Erwachsenen ab 18 Jahren in der Behandlung von BN zugelassen und damit zu empfehlen ist (B). Ein Behandlungsversuch sollte mindestens über einen Zeitraum von vier Wochen (KKP) mit einer Dosis von 60 mg/d (B) und immer in Kombination mit einer Psychotherapie erfolgen. Bei einem positiven Ansprechen auf das Medikament wird eine Einnahme über einen Zeitraum von 9–12 Monaten empfohlen. Antidepressiva haben sowohl auf Essanfälle und kompensatorische Maßnahmen als auch auf dysfunktionale Einstellungen zum Körper und Gewicht positive Auswirkungen. Zudem ist durch die Einnahme ein Rückgang an Depressionen, Ängsten, Zwängen und Impulskontrollstörungen zu erkennen, sodass eine Einnahme auch beim Vorliegen komorbider Störungen anzudenken ist.
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!
Die Wirksamkeit von Antidepressiva (Fluoxetin, Fluvoxamin) für die Rückfallprophylaxe ist noch umstritten, da nach ersten positiven Ergebnissen ein Rückgang der Wirkung in der Langzeiteinnahme und hohe Rückfallraten nach dem Absetzen zu beobachten waren.
Q 6.1 – 2.4
Binge-Eating-Störung
Psychotherapeutische Behandlung
Wie bei BN liegen auch für die
Binge-Eating-Störung die eindeutigsten Belege für eine Wirksamkeit von Psychotherapie (A) und vor allem für die
KVT (A) vor (▸
Tabelle 3).
Begrenzte Evidenz liegt vor für die Wirksamkeit von
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IPT (B),
-
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tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (TP) (0) und
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angeleiteten manualisierten Selbsthilfeprogrammen (B), die daher ebenfalls zu empfehlen sind.
Zur Gewichtsreduktion bei adipösen BES-Patienten konnte eine KVT gegenüber gängigen konservativen Gewichtsreduktionsprogrammen keine zusätzlichen Effekte nachweisen.
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!
Von einem restriktiven Essverhalten, das auf eine Gewichtsabnahme abzielt, ist aber bei einer schweren BES, bei der Zusammenhänge zwischen Diätverhalten und der Essstörungssymptomatik nachweisbar sind, abzuraten.
Therapie mit Antidepressiva
Die Wirksamkeit von antidepressiver Medikation (v. a. selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer [SSRI] und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer [SNRI]) für die Behandlung der BES ist belegt (B) und die Wirkung deutlich ausgeprägt.
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!
Derzeit gibt es aber kein Medikament, das in Deutschland für die Behandlung einer BES zugelassen ist, sodass die Patienten über den Off-Label-Use informiert werden müssen.
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Langzeitfolgen einer medikamentösen Therapie sind noch nicht ausreichend erforscht. Daher ist eine Langzeitbehandlung derzeit nicht zu empfehlen (0).
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Medikamente für die Rückfallprophylaxe wurden bislang nicht untersucht.
Nicht näher bezeichnete Essstörungen und atypische Essstörungen machen etwa die Hälfte aller Essstörungen aus, doch gibt es bis dato weder aussagekräftige Veröffentlichungen zur Psychotherapie noch zur medikamentösen Therapie auf der Basis randomisierter kontrollierter Studien.
Q 6.1 – 2.5
Therapeutische Praxis
Die Praxis ist aufgrund der Verschiedenartigkeit der Patienten und Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse zu komplex, als dass sie komplett in den Ergebnissen randomisierter kontrollierter Therapieevaluationsstudien abgebildet werden könnte. Leitlinien versuchen den praktisch Tätigen über randomisierte kontrollierte Therapiestudien hinaus einen Leitfaden für die Therapie zu geben (
APA 2006,
Herpertz et al. 2011,
NICE 2004). Dabei werden sowohl wissenschaftliche Ergebnisse kontrollierter Studien als auch Expertenmeinungen berücksichtigt. Eine Übersicht über gestörte Funktionsbereiche und sinnvolle Interventionen bei Essstörungen gibt ▸
Tabelle 4. Nach Hilde Bruch (1973) sind den genannten Essstörungen gemeinsam:
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Das Vorliegen von Körperschemastörungen,
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Störungen der proprio- und interozeptiven sowie emotionalen Wahrnehmung und
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•
ein alles durchdringendes Gefühl eigener Unzulänglichkeit.
Besonder- heiten für die Behandlung ergeben sich durch Gewichtsdeviationen nach oben oder unten.
Die in ▸
Tabelle 4 aufgeführten Funktionsbereiche liegen in unterschiedlicher Ausprägung bei so gut wie allen anorektisch oder bulimisch Essgestörten vor. Informationsvermittlung kann erfolgen über Bücher, Medien, Selbsthilfeorganisationen, in Vorträgen und im Gespräch mit Fachleuten sowie mit anderen Betroffenen. Dabei ist ein
empathisches Eingehen auf die Betroffenen von großer Bedeutung, da viele einer Therapie ambivalent gegenüberstehen und die intrinsische Motivation häufig gering ist. Zu Beginn stellt daher der
Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung sowohl zu den
Patienteninnen und Patienten als auch zu deren
Angehörigen einen wichtigen Teil der Therapie dar.
Bei Kindern und Jugendlichen sollten auch die
Eltern umfassend über
informiert und in den therapeutischen Prozess einbezogen werden (A).
Motivationsarbeit
Die Motivationsarbeit ist über den gesamten Therapieprozess ein zentraler Bestandteil und stellt eine der wichtigsten Aufgaben des Therapeuten dar (B).
Fairburn (z. B. Fairburn und Harrison 2003) betont die Bedeutung der Überbewertung von schlanker Figur und des eigenen niedrigen Gewichts. Anorektisch und bulimisch Erkrankte definieren ihren Selbstwert in sehr hohem Maße auf der Basis von Figur und Gewicht sowie ihrer Fähigkeit, ihr Essverhalten unter Kontrolle zu halten. Sie tun alles dafür, den westlichen Idealen für körperliche Schlankheit zu entsprechen (und gehen oft weit darüber hinaus). Die von diesen und anderen Autoren entwickelte und auf breiter Basis eingesetzte KVT befasst sich insbesondere mit dysfunktionalen, irrationalen Gedanken, Überzeugungen und Werthaltungen sowie dem Bereich des gestörten Essverhaltens. Betroffene haben durch ihr ganz einseitig auf Figur, Nahrungsreduktion und Schlankheit fokussiertes Denken und durch Heißhungerattacken verlernt, ihre interozeptiven und propriozeptiven Signale und Emotionen wahrzunehmen. Die Wahrnehmung von Körpersensationen und Gefühlen ist Voraussetzung, um eigenen Gefühlen Ausdruck verleihen zu können. Die Betroffenen haben zudem Probleme, sich gegen Zurücksetzung, Missverständnisse, Verletzungen und Kränkungen wehren zu können. Vielen Essgestörten fehlt es an einer Tagesstrukturierung für Mahlzeiten. Das Einhalten von drei festen Mahlzeiten und ggf. ein bis zwei Zwischenmahlzeiten ist eine schlichte, aber sehr wirkungsvolle Interventionsmaßnahme. Das Problem von Reduktionsdiäten bei Übergewicht besteht in der mangelnden Dauerhaftigkeit des Erfolgs.
Untergewichtige Magersüchtige sollten veranlasst werden, schrittweise an Gewicht zuzunehmen, z. B. durch ein kontingentes therapeutisches Gewichtsprogramm, wenn erforderlich. Hier ist es wesentlich, wirklich konsequent zu sein, das Programm aber gelegentlich an neue Gegebenheiten zu adjustieren. In lebensbedrohlichen Situationen wird ein Arzt nicht zögern, auch eine gerichtliche Unterbringung zur Zwangsernährung in eine geeignete Klinik zu veranlassen, wenn alle anderen therapeutischen Maßnahmen ausgeschöpft wurden (KKP). Machtkämpfe sollten aber unbedingt vermieden werden. Ärzten, Therapeuten und Angehörigen verlangt der Umgang mit Patientinnen und Patienten mit AN bzw. BN oft viel Geduld ab, doch lohnt sich die erforderliche Motivationsarbeit. Gerade zu Beginn hat sich der Einsatz von Motivational Interviewing in verschiedenen Studien als gute Voraussetzung für einen langfristigen Therapieerfolg herausgestellt.