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978-3-437-24950-1
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Abb. 48.1

Wirkmechansimus von Laxanzien.
Abb. 48.2

Intraluminale Aktivierung von Bisacodyl, Natriumpicosulfat und Anthrachinonen.
Abb. 48.3

[F816-008]
Algorithmus zur Diagnostik und Behandlung der chronischen Obstipation (in Anlehnung an die gemeinsame Leitlinie Chronische Obstipation der Deutschen Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität [DGNM] und der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten [DGVS]).
Die Rom-III-Kriterien zur Diagnosestellung der chronischen Obstipation von 2006. ObstipationRom-Kriterien
Mindestens zwei der folgenden Symptome über insgesamt ≥ 3 Mon. mit Symptomenbeginn vor ≥ 6 Mon.: | ||
1 | Pressen | bei > 25% der Defäkationen |
2 | knollige oder harte Stühle | bei > 25% der Defäkationen |
3 | Gefühl der inkompletten Entleerung | nach > 25% der Defäkationen |
4 | Gefühl der anorektalen Obstruktion/Blockade | bei > 25% der Defäkationen |
5 | manuelle Praktiken zur Entleerung | bei > 25% der Defäkationen nötig (z.B. digitale Entleerung, manuelle Unterstützung des Beckenbodens) |
6 | < 3 Stuhlentleerungen/Woche | |
Keine ungeformten Stühle, keine hinreichenden Kriterien für Reizdarm! |
Behandlung der Beckenbodendyssynergie.
Pressen vermeiden |
|
„Bedienungsstörung“ abtrainieren |
|
Laxanzien während Schwangerschaft und Stillzeit.
Substanz/Klasse | Schwangerschaft | Stillzeit | ||
Evidenz | Empfehlung | Evidenz | Empfehlung | |
salinische Laxanzien | lange Erfahrung, aber keine Daten | nicht empfohlen | lange Erfahrung, aber keine Daten | nicht empfohlen |
Phosphatsalze | keine Daten | kontraindiziert | keine Daten | nicht empfohlen |
Zucker und Zuckeralkohole | nicht absorbiert, lange Erfahrung | kein Einwand | nicht absorbiert, lange Erfahrung | kein Einwand |
Macrogol | minimal absorbiert | kein Einwand | minimal absorbiert | kein Einwand |
Prucaloprid | keine Daten | kontraindiziert | keine Daten | nicht empfohlen |
Linaclotid | keine Daten | kontraindiziert | keine Daten | nicht empfohlen |
Sennoside | lange Erfahrung, klinische Daten | kein Einwand | geht nicht in die Milch | kein Einwand |
Bisacodyl und Natriumpicosulfat | lange Erfahrung, klinische Daten | kein Einwand | geht nicht in die Milch | kein Einwand |
Obstipation
-
48.1
Vorbemerkungen373
-
48.2
Symptomatik373
-
48.3
Ätiologie373
-
48.4
Pathophysiologie der Defäkation374
-
48.5
Diagnostik374
-
48.6
Behandlung374
-
48.7
Opioidinduzierte Obstipation378
Kernaussagen
-
•
ObstipationDurch seltenen Stuhlgang sind keine Nachteile für die Gesundheit bekannt, sodass es keine minimal erforderliche Stuhlfrequenz gibt.
-
•
Die Rolle der Trinkmenge für die Behandlung der Obstipation wird oft überschätzt.
-
•
Körperliche Bewegung ist zwar gesund, eine Verbesserung der Obstipation ist durch sie jedoch nicht zu erwarten.
-
•
Zur Basisdiagnostik gehören eine proktologische Untersuchung und der Ausschluss von Alarmsymptomen.
-
•
Ballaststoffe lohnen einen Behandlungsversuch, sind aber kein Wundermittel und werden von einigen Patienten schlecht vertragen.
-
•
Die verfügbaren Laxanzien sind wirksam und sicher. Eine Gewöhnung (Tachyphylaxie) ist sehr selten.
-
•
Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch führt die – auch langfristige – Gabe von Laxanzien nicht zu Störungen der Serumelektrolyte (keine relevante Hypokaliämie!)
-
•
Vor dem Einsatz technischer Untersuchungen sind Behandlungsversuche mit Ballaststoffen und bei deren Versagen mit Laxanzien angezeigt.
-
•
Chirurgische Eingriffe (Kolektomie, Ileostoma, Sakralnervenstimulation, Proktochirurgie) sollen sehr zurückhaltend eingesetzt werden.
-
•
Die opioidinduzierte Obstipation kann mit Laxanzien oder peripher wirkenden Opiatantagonisten behandelt werden.
48.1
Vorbemerkungen
48.2
Symptomatik
-
•
Für die meisten Patienten stehen Völlegefühl, harter Stuhlgang und/oder heftiges Pressen zur Stuhlentleerung im Vordergrund.
-
•
Die chronische Obstipation geht mit einer signifikant verschlechterten Lebensqualität einher.
48.3
Ätiologie
Endokrine Ursachen der Obstipation
-
•
Hypothyreose
-
•
Hyperparathyreoidismus
-
•
Hypophysenvorderlappeninsuffizienz
-
•
Phaeochromocytom
-
•
Schwangerschaft
Neurologische Ursachen der Obstipation
-
•
bilaterale Läsionen des Putamens
-
•
diabetische Neuropathie (autonome Polyneuropathie)
-
•
Dysautonomien (z.B. Shy-Drager-Syndrom, paraneoplastisch)
-
•
Schäden des Frontallappens
-
•
Guillain-Barré-Syndrom
-
•
Hirschsprung-Krankheit
-
•
Bleiintoxikation
-
•
multiple Sklerose
-
•
Morbus Parkinson
-
•
Rückenmarksläsionen
Medikamente, die oft zur Obstipation führen
-
•
Antihypertensiva (Kalziumantagonisten, Clonidin)
-
•
Antidepressiva (tri- und tetrazyklische)
-
•
Antiepileptika
-
•
Anti-Parkinson-Medikamente
-
•
Neuroleptika
-
•
Opioide
48.4
Pathophysiologie der Defäkation
-
•
Beckenbodendyssynergie (paradoxe Sphinkterkontraktion)
-
•
Beckenbodensenkung
-
•
Rektozele
-
•
innerer Prolaps
-
•
Morbus Hirschsprung (im Erwachsenenalter Rarität)
48.5
Diagnostik
-
•
genaue Anamnese mit Analyse des Stuhlverhaltens, der Medikamenteneinnahme, der Begleitsymptome und -erkrankungen sowie möglicher verursachender Erkrankungen
-
•
Ausschluss von Alarmsymptomen (z.B. Blut beim Stuhl; Gewichtsverlust, Fieber, Anämie)
-
•
körperliche Untersuchung
-
•
proktologische Untersuchung mit digitaler Prüfung der Sphinkterfunktion, des Kneifdrucks und des Defäkationsversuchs.
-
!
Beim Pressen wie zur Stuhlentleerung darf der Druck nicht ansteigen!
-
•
Kolontransitstudien mit röntgendichten Markern zur Messung der Transitzeit (normal < ca. 70 h) als Grundlage für die Diagnose einer Slow-Transit-Obstipation (hier Transitzeit deutlich > 100 h). Parallel Führen eines Stuhlprotokolls während der Testphase.
-
•
Die anorektale Manometrie erfasst eine Beckenbodendyssynergie (fehlende Sphinkterrelaxation beim Pressen), allerdings teils eingeschränkte Kooperation und kein ausreichendes Pressen der Patienten unter Laborbedingungen. Deshalb Bestätigung durch zweites Verfahren erforderlich. Auch geeignet zum Ausschluss eines Morbus Hirschsprung.
-
•
Die Defäkographie (konventionell oder als MRT-Defäkographie) liefert auffällige Befunde oft unklarer Relevanz bei bis zu ¾ der Patienten mit Obstipation und erfasst sowohl morphologische/anatomische Abnormitäten (z.B. Rektozele, Intussuszeption) als auch eine Beckenbodendyssynergie.
-
•
Erweiterte Diagnostik (z.B. neurologische oder endokrinologische Zusatzuntersuchungen) zur Aufdeckung sekundärer Formen.
Cave
Die Stuhlanalyse auf Bakterien oder Pilze liefert keine relevanten Ergebnisse und sollte nicht durchgeführt werden.
Als Faustregeln gilt
-
•
In den meisten Fällen reicht die Anamnese zur Diagnosestellung aus.
-
•
Die physische Untersuchung dient vorwiegend dem Ausschluss organischer und anatomischer Ursachen.
48.6
Behandlung
Aufklärung und allgemeine Maßnahmen
-
•
Eine regelmäßige Unterdrückung des Stuhldrangs sollte vermieden werden.
-
•
Ein therapeutischer Effekt körperlicher Aktivität auf die Obstipation sollte nicht in Aussicht gestellt werden.
-
•
Bauchdeckenmassage kann bei chronischer Obstipation unterstützend eingesetzt werden. Sie verbessert mehr das subjektive Empfinden als objektive Variablen (Kolontransit, Laxanzienbedarf).
-
•
Bei vermutlich medikamentös induzierter Obstipation:
-
–
Indikation und Dosierung des fraglichen Medikaments überprüfen
-
–
Wechsel auf andere Gruppe möglich (z.B. Betablocker oder ACE-Hemmer statt Kalziumantagonist, SSRI statt Amitriptylin)?
-
–
ansonsten Komedikation mit Laxanzien
-
–
bei opioidinduzierter Obstipation Antagonisten erwägen
-
Als Faustregel gilt
Die Indikation zur aktiven Behandlung ergibt sich ausschließlich aus dem Leidensdruck der Patienten.
Ernährung
-
•
Den größten Effekt auf das Stuhlvolumen haben schlecht lösliche und der bakteriellen Spaltung im Kolon schlecht zugängliche Ballaststoffe wie die Weizenkleie. Sie sind außer in Kleiepräparaten vorwiegend in Vollkornprodukten enthalten.
-
•
Ähnlich gut wirksam wie Kleie, aber besser verträglich sind Plantago-ovata-Samenschalen (Flohsamen).
-
•
Leinsamen muss geschrotet werden, um seine volle Wirksamkeit zu entfalten.
-
•
Obst, Gemüse und vor allem Salat enthalten weniger als die Vorgenannten das Stuhlvolumen steigernde Ballaststoffe.
-
•
Verschiedene Obstsorten können jedoch über ihren Gehalt an Sorbit laxierend wirken.
-
•
Besonders wirksam sind Trockenpflaumen, wohl aufgrund der kombinierten Wirkung von Sorbit, nicht spaltbaren Ballaststoffen, Polyphenolen und Diphenylisatin.
-
•
Milchzucker (Laktose, als Pulver oder Milch) wirkt beim Überschreiten der Digestionskapazität für Laktose ebenfalls laxierend.
Cave
-
•
Ballaststoffe, besonders Kleie, werden nur von einem Teil der Patienten vertragen. Insbesondere bei Reizdarm können die Bauchbeschwerden verschlechtert werden.
-
•
Schokolade scheint nur in Deutschland als obstipierend zu gelten, Daten hierzu fehlen.
Beckenbodendyssynergie
Laxanzien
-
•
Die genaue Dosis und insbesondere die Einnahmefrequenz richten sich nach den Bedürfnissen des Patienten.
-
•
Ziel ist ein weicher, aber geformter Stuhl, der ohne starkes Pressen entleert werden kann.
-
•
Eine Begrenzung des Einnahmezeitraums ist unbegründet.
Pharmakologie der Laxanzien
Orale Laxanzien
-
•
Die salinischen Laxanzien (Magnesiumhydroxid, Glaubersalz, Bittersalz, Karlsbader Salz) bestehen aus schlecht resorbierbaren Ionen. Wegen ihres Geschmacks sind sie für die Langzeitgabe wenig geeignet. Dosis: 5–10–20 g
-
•
Macrogol (Polyethylenglykol, Molekulargewicht 3.350–4.000) kann als synthetischer, bakteriell nicht spaltbarer Ballaststoff betrachtet werden, daher keine Gefahr der Gasbildung. Dosis: 10–30 g
-
•
Disaccharide (Lactulose, Laktose) und Zuckeralkohole (Sorbit) werden im Kolon bakteriell gespalten und verlieren daher umso mehr ihre Wasserbindungsfähigkeit und damit ihre Wirkung, je länger ihr Aufenthalt im Kolon ist. Für viele Patienten störend ist die Gasbildung, teils auch der süße Geschmack. Dosis: 10–30 g
-
•
Prucaloprid ist derzeit das einzige reine Prokinetikum. Dosis: 1–4 mg
-
•
Bisacodyl wird in dragierter Form angeboten, da es sonst im Dünndarm resorbiert und enterohepatisch zirkulieren würde. Durch Hydrolasen des Kolons wird es zu Bis-(p-hydroxyphenyl)-pyridyl-2-methan aktiviert (Abb. 48.2). Dosis: 1–2 Dragees (5–10 mg)
-
•
Natriumpicosulfat, der Ester des Bisacodyls, passiert dagegen den Dünndarm und kann deshalb in Tropfenform gegeben und sehr fein dosiert werden. Es wird im Kolon bakteriell aktiviert. Wie Bisacodyl steigert es die Motilität und hemmt die Resorption. Dosis: 5–10 mg
-
•
Anthrachinone sind pflanzlichen Ursprungs und mit Ausnahme der Sennoside schlecht untersucht. Sie liegen als Glykoside vor, werden daher nicht resorbiert und im Kolon bakteriell aktiviert. Sie wirken ähnlich dem Bisacodyl. Dosis: 10–20 mg
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•
Linaclotid steigert die Sekretion, ist für den Reizdarm vom Obstipationstyp zwar zugelassen, wurde aus Preisgründen von der Firma aber wieder vom deutschen Markt genommen.
Cave
-
•
Ein Elektrolytzusatz zum Macrogol bietet keine Vorteile, verschlechtert aber den Geschmack und damit die Akzeptanz.
-
•
Paraffinöl soll nicht zur Behandlung der chronischen Obstipation eingesetzt werden.
Nebenwirkungen
Substanzspezifische potenzielle Nachteile
-
•
Salinische Laxanzien: salziger Geschmack, selten Elektrolytstörung, z.B. Hypermagnesiämie
-
•
Macrogol: seifiger Geschmack und seifige Konsistenz, Völlegefühl
-
•
Zuckerstoffe: süßer Geschmack der Lactulose, Gasbildung
-
•
Prucaloprid: selten Kopfschmerz
-
•
Bisacodyl, Natriumpicosulfat: krampfartige Bauchschmerzen (bei hoher Dosierung)
-
•
Anthrachinone: krampfartige Bauchschmerzen; die bräunliche Verfärbung der Kolonschleimhaut nach längerer Einnahme (Pseudomelanosis coli) ist funktionell bedeutungslos.
Schwangerschaft und Stillzeit
Rektale Maßnahmen
Cave
Phosphathaltige Klysmen sollen nicht dauerhaft angewendet werden.
Als Faustregeln gilt
-
•
Niemand soll Laxanzien einnehmen, der sie nicht braucht.
-
•
Bei Leidensdruck trotz erfolgloser vorgeschalteter Maßnahmen sind Laxanzien auch langfristig indiziert.
-
•
Relevante Nebenwirkungen sind bei bestimmungsgemäßem Gebrauch nicht zu befürchten.
Chirurgische Eingriffe
-
•
Zuvor müssen hypomotile Störungen des Magens und Dünndarms ausgeschlossen werden.
-
•
Vor einer subtotalen Kolektomie kann ein Ileostoma angelegt werden, um ihre Wirksamkeit sicherzustellen.
Cave
Die anatomische Korrektur der strukturellen anorektalen Entleerungsstörung verbessert die Beschwerden nicht zuverlässig.
Therapieschema bei chronischer Obstipation
Cave
Der Einsatz von Akupunkturverfahren (Akupunktur und Moxibustion) wird nicht empfohlen.
48.7
Opioidinduzierte Obstipation
-
•
Methylnaltrexon ist derzeit nur zur parenteralen Applikation verfügbar.
-
•
Naloxegol 25 mg ist ein oral verfügbares Präparat.
-
•
Ein Kombinationspräparat aus Oxycodon und Naloxon im Verhältnis 2 : 1 wird ebenfalls oral gegeben.
Cave
Die opioidinduzierte Obstipation betrifft nur rund die Hälfte der mit Opioiden behandelten Patienten. Eine prophylaktische Gabe von Laxanzien ist daher nicht angezeigt.
Weiterführende Literatur
Andresen et al., 2013
Kamm et al., 2010
Longstreth et al., 2006
Müller-Lissner et al., 2016
Müller-Lissner et al., 2005
Rao et al., 2010
Shin et al., 2015
Stephen and Cummings, 1979
Suares and Ford, 2011
Tack and Müller-Lissner, 2009
Voderholzer et al., 1997