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Hilfreiche Fragen zur Erkennung einer bestehenden Gefährdung.
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Psychotherapeutische Aufgaben in der Suizidprävention.
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Allgemeine Ziele der medikamentösen Therapie in der Suizidprävention.
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Suizidalität
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Einleitung Q 12 – 1
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Risikogruppen Q 12 – 1
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Diagnostik Q 12 – 2
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Therapie Q 12 – 3
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Pharmakotherapie Q 12 – 3
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Kasuistik Q 12 – 4
Kernaussagen:
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Weltweit versterben jährlich 1 Million Menschen durch Suizid. Über 90% der Selbsttötungen stehen in Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung.
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Alle psychischen Störungen außer Demenzen im fortgeschritten Stadium gehen mit einem erhöhtem Suizidrisiko einher.
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Ein besonders hohes Suizidrisiko besteht bei depressiven Störungen, Suchterkrankungen, schizophrenen Psychosen und Persönlichkeitsstörungen.
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Bei einer Mehrzahl der erfolgreichen Suizide fanden sich im Vorfeld kritische Lebensereignisse.
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Wichtigste Ziele der medikamentösen Behandlung während einer suizidalen Krise sind: Schlafförderung, emotionale Distanzierung, Dämpfung des Handlungsdruckes und Beruhigung.
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Therapeutische Basisstrategien sind ruhige Gesprächsatmosphäre, aktive Beziehungsgestaltung, Prinzip der stellvertretenden Hoffnung und das Gewinnen von Zeit.
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Bei unmittelbar drohender Suizidgefahr: Pflicht zur Hilfeleistung mit Unterbringung auf einer geschlossenen psychiatrischen Station auch gegen den Willen des Patienten.
Q 12 – 1
Einleitung
Zu beachten:
Es empfiehlt sich, den Begriff „Freitod”, der eine gewisse heroisierende Konnotation beinhaltet, zu vermeiden.
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In der Regel entsteht Suizidalität durch extreme psychische Not und gedankliche Einengung auf Selbsttötung als einzige Rettung aus einer als ausweglos erlebten Situation, und damit aus einem Zustand der Unfreiheit heraus.
Ebenfalls vermieden werden sollte der Begriff „Selbstmörder”, der desgleichen eine moralische Bewertung enthält:
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Der Versuch einer Selbsttötung ist kein hinterlistiges Verbrechen.
Als Faustregel gilt:
Bei suizidalen Krisen sollte unbedingt gezielt eine möglicherweise zugrunde liegende behandelbare psychische Störung exploriert werden.
Risikogruppen
CAVE:
! Alle psychischen Störungen außer Demenzen im fortgeschrittenen Stadium weisen ein erhöhtes Suizidrisiko auf!
Depressive Störungen
Abhängigkeitsstörungen
Schizophrene Störungen
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zum einen im Kontext akuter Psychopathologie (zum Suizid auffordernde Stimmen, Wahnerleben) stehen,
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aber auch im Rahmen eines Bilanzsuizides nach Teilremission und Gewahrwerden bleibender Funktionseinschränkungen auftreten.
CAVE:
! Besonders gefährdet sind Menschen mit einem hohen prämorbiden intellektuellen Leistungsniveau, wenn krankheitsbedingt dauerhafte Defizite auftreten.
Persönlichkeitsstörungen
Alter
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Suizidversuche im Alter aufgrund einer erhöhten Fragilität des Körpers gehäuft einen letalen Ausgang nehmen,
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suizidfördernde psychosoziale Risikofaktoren wie Verwitwung und Vereinsamung zahlreicher werden und
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Suizidneigung begünstigende körperliche Erkrankungen wie solche, die mit einer Einschränkung der Beweglichkeit oder Auftreten chronischer Schmerzen einhergehen bzw. Krebserkrankungen vermehrt auftreten.
Suizidversuche in der Vorgeschichte
Geschlecht
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Männer wählen in der Regel härtere Suizidmethoden (Erhängen, Erschießen, Sturz aus hoher Höhe oder vor den Zug), die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zum Tod führen.
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Frauen wählen häufig so genannte weiche Suizidmethoden wie Medikamentenintoxikationen, bei denen die Rettungschancen höher sind.
Positive Familienanamnese
Zusätzlich gilt als Faustregel:
In der Mehrzahl der Fälle eines vollbrachten Suizids findet man im Vorfeld kritische Lebensereignisse wie Schulden, Partnerschaftskonflikte, Verlustsituationen, Arbeitslosigkeit oder Vereinsamung.
Q 12 – 2
Diagnostik
CAVE:
! Folgende irreführende Mythen halten sich recht hartnäckig:
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„Wer darüber spricht, wird sich nichts antun.”
Das Gegenteil ist korrekt! Die deutliche Mehrheit der späteren Suizidenten hat zuvor über ihr Vorhaben gesprochen.
Über die Hälfte sucht im Vorfeld einen Arzt, und zwar häufig keinen Fachpsychiater, sondern einen Allgemeinmediziner auf, um Hilfe zu erhalten, was die herausragende Bedeutung dieser Berufsgruppe in der Suizidprävention verdeutlicht.
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„Durch Nachfragen bringe ich den Patienten eventuell erst auf die Idee.”
Es ist ein Fehler, das Thema nicht anzusprechen. In aller Regel empfinden es gefährdete Patienten als deutliche Entlastung und Zeichen von Expertise und Professionalität, in der Dimension ihrer Notlage aktiv exploriert und unterstützt zu werden!
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„Suizidgefährdete Menschen sind sichtbar niedergeschlagen.”
Vorsicht ist geboten, wenn der Patient plötzlich ohne sichtbaren Grund gelöst und heiter erscheint.
Ist der Entschluss, dem Leben ein Ende zu bereiten, einmal gefallen, kann sich das dadurch wieder gewonnene Gefühl der Kontrolle über die Situation in Entspannung und Gelassenheit widerspiegeln (= Ruhe vor dem Sturm). Möglich sind auch Ärger, Unzufriedenheit und Aggressivität als vorherrschende Emotionen.
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„Der Patient ist nicht mehr gefährdet, denn er ist wieder aktiver.”
Bei schweren Depressionen kann sich der Antrieb vor der Stimmungsaufhellung erholen. Dies ist eine Hochrisikophase für suizidales Verhalten!
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„Mein Patient wird sich nichts antun, weil er einen Non-Suizidvertrag unterschrieben hat.”
Häufig wird bei Vorliegen von Suizidalität ein Non-Suizidvertrag (Patient verspricht, bis zu einem gewissen Zeitpunkt am Leben zu bleiben) formuliert. Für einen präventiven Nutzen dieser Maßnahme liegen keine empirischen Daten vor, und es resultiert daraus keine juristische Absicherung. Gleichwohl kann er, persönlich formuliert, der Festigung der Patienten-Arzt-Beziehung dienen.
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Hoffnungslosigkeit,
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erhebliche innere Unruhe,
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Schlafstörungen,
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Erleben der eigenen Person als Belastung,
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Wahn,
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imperative Stimmen, die zum Suizid auffordern,
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Ambivalenz,
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kognitive Störungen,
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Ärger,
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Aggressivität,
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Kränkbarkeit.
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gute Beziehung zur Familie,
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glaubhafte Äußerung: „Würde es meiner Familie nicht antun!”,
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religiöse Bindung,
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zuverlässige Persönlichkeit,
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vertrauensvolle Patienten-Arzt-Bindung.
Als Faustregel gilt:
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Bei fraglicher Suizidalität sollte unbedingt eine Fremdanamnese erhoben werden.
Q 12 – 3
Therapie
CAVE:
! Ein häufiger Fehler im Umgang mit Suizidalität ist, dass der Patient mit zuviel Eigenverantwortung überfordert wird.
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Grundsätzlich sollte gelten, dass wer wahnhaft ist (unabhängig ob im Rahmen einer depressiven oder schizophrenen Erkrankung) als nicht absprachefähig anzusehen ist.
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Die Absprachefähigkeit ist auch vermindert bei Suizidalität in Zusammenhang mit Alkohol oder Tablettenmissbrauch!
Pharmakotherapie
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Schlafförderung,
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emotionale Distanzierung,
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Dämpfung des Handlungsdrucks und
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Beruhigung.
Suizidalität bei depressiver Erkrankung
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Besonders in den ersten Behandlungswochen ist eine engmaschige Überwachung notwendig, da dort eine erhöhte Suizidrate beobachtet wurde.
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Gesteigerte Unruhe unter SSRI kann suizidfördernd wirken: ggf. Kombination mit niederpotentem Neuroleptikum oder sedierendem Antidepressivum.
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Benzodiazepine sind im Notfall hilfreich, jedoch können sie die Grundsymptome der depressiven Erkrankung überdecken.
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✓
Ein Benzodiazepinentzug kann suizidfördernd wirken.
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In suizidaler Absicht eingenommene trizyklische Antidepressiva weisen eine höhere Toxizität als SSRI auf.
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Auf kleine Packungsgrößen ist bei der Verschreibung zu achten.
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Die Vermutung, dass eine medikamentöse Verbesserung des Antriebs vor der Stimmungsaufhellung suizidfördernd wirkt, wird aktuell noch diskutiert.
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Lithium wird ein eigenständiger antisuizidaler Effekt zugesprochen.
Als Faustregel gilt:
Während der Eindosierungsphase der Medikation, die zur Behandlung einer depressiven Episode gewählt wird, sind engmaschige Kontakte, um Stimmungsschwankungen und medikationsbedingte Nebenwirkungen in Erfahrung bringen zu können, unbedingt nötig.
Suizidalität bei Schizophrenie
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Akathisie als Nebenwirkung einer neuroleptischen Medikation kann suizidfördernd wirken.
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Clozapin wird ein eigenständiger antisuizidaler Effekt zugesprochen.
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Bei Angst und Spannungszuständen sollten niederpotente Neuroleptika oder Benzodiazepine (s. o.) zur Anwendung gelangen.
Q 12 – 4
Kasuistik
Anamnese
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Verstärkt grübelt sie über vermeintliche Fehler und Versagen, die ihr aussichtslos erscheinende gesundheitliche Lage ihrer Mutter und ihre gefürchtete Unfähigkeit, in der neuen Umgebung Anschluss zu finden.
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Mit der Betreuung der Kinder fühlt sie sich überfordert und entwickelt deshalb den Eindruck, für ihre Familie eine Belastung darzustellen, sodass es für alle wünschenswert sei, nicht mehr am Leben zu bleiben.
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Eine ähnliche, wenn auch weniger ausgeprägte Phase erlebte sie Jahre zuvor nach dem Tod ihres Vaters.
Diagnose
Therapie
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Nach vierwöchiger Medikationsdauer ist es zu einer Verbesserung, jedoch noch nicht zu einem Sistieren der Symptome gekommen.
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Im Rahmen dieser werden der Patientin initial Techniken zum Symptommanagement vermittelt.
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Sodann erfolgt eine ausführliche Krankheitsaufklärung mit konsekutiver Zuschreibung der Krankenrolle.
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Die zuvor innegehabte Rolle wird ausführlich beschrieben und das Aufgeben ihrer positiven Aspekte betrauert:
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integrierte Frau an ihrem alten Heimatort, die aufgrund der Rüstigkeit ihrer Mutter zu dieser ein distanziertes Verhältnis wahren konnte, was aufgrund der problematischen Beziehung zwischen den beiden Frauen hilfreich war;
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drohender Verlust der Autonomie durch die Zwillingsgeburt.
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Danach werden die negativen Gesichtspunkte ihres früheren Lebens zusammengetragen und mit den negativen und positiven Anteilen ihrer aktuellen Situation verglichen, um eine ausbalanciertere Betrachtungsweise zu ermöglichen:
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Dazu gehört zum einen, dass ihre Mutter durch ihre eigene Erkrankung mitfühlender und „weicher” geworden war, was eine Annäherung der beiden Frauen ermöglicht, zum anderen auch z. B. Aspekte wie ein höheres Maß an kulturellen, sportlichen und Freizeitangeboten an ihrem neuen Wohnort, was ihre spätere Integration dort erheblich erleichtert.
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Literatur
Althaus et al., 2005
Bronisch 1995
Dormann 2002
Finzen 1997
Harris et al., 1997
Wolfersdorf 2000