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10.1016/B978-3-437-41883-9.00016-5
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Mechanosensoren von Haut und Subkutis (a) und ihre Entladungsmuster (b). AP = Aktionspotenzial.

Modell der mechanosensorischen Transduktion. Bei mechanischer Reizung öffnet sich der über Proteine mit der extrazellulären Matrix und dem Zytoskelett verbundene ENaC-Kanal und Na+-Ionen strömen in die Zelle ein.
Nach [3]

Raumschwellen beim Erwachsenen.

Ansprechen von Kalt- und Warmsensoren auf unterschiedliche Temperaturreize.

Impulsrate eines Warmsensors bei Anstieg der Ausgangstemperatur von 34 °C um 2 °C, 6 °C und 10 °C. Die schnelle Impulsrate zu Beginn des Temperaturanstiegs ist Ausdruck des Differenzialverhaltens des Warmsensors: Empfindlichkeit auf Temperaturänderung. Die im weiteren Verlauf bei höherer Temperatur konstant höhere Impulsrate charakterisiert das Proportional-Verhalten: Impulsrate proportional zur Temperatur.

Transduktion an einem Nozizeptor. Ionotrope (links) und metabotrope Rezeptoren (rechts) nehmen die verschiedenen nozizeptiven Reize auf. Metabotrope Rezeptoren können die Empfindlichkeit ionotroper Rezeptoren beeinflussen; AC = Adenylatcyclase, G = G-Protein, cAMP = zyklisches Adenosinmonophosphat, PKA = Proteinkinase A, PKC = Proteinkinase C, PLC = Phospholipase C, P2X = purinerger (P), ionotroper (X) Rezeptor der Klasse 2.

Head-Zonen. Bei Erkrankungen der aufgeführten inneren Organe sind übertragene Schmerzen in den korrespondierenden Hautbezirken möglich.
Nach [4]

Spezifisches Hinterstrangsystem und unspezifisches Vorderseitenstrangsystem der Somatosensorik. (1–3: Neurone, Erklärung im Text).

Repräsentation des Körpers im Kortexareal S1. Körpergebiete mit hoher Sensordichte sind größere Kortex-Areale zugeordnet: sensorischer Homunkulus.

Brown-Séquard-Syndrom.

Sensortypen des somatosensorischen Systems und ihre Eigenschaften
Sensortyp | Sensor | Adäquater Reiz | Adaptation | Empfindung |
Mechanosensor |
|
Vertikaler Druck | Langsam | Druck |
Ruffini-Körperchen | Tangentiale Zugspannung, Abscherung | Langsam | Dehnung, Spannung | |
Meissner-Körperchen | Druckänderung, niederfrequente Vibration | Rasch | Hautkontakt, Vibration | |
Haarfollikelrezeptor | Haarbewegung | Rasch | Hautkontakt, Berührung | |
Vater-Pacini-Körperchen | Höherfrequente Vibration | Sehr schnell | Vibration | |
Freie Nervenendigung | Hautdeformation | Mittel | Grober Hautkontakt | |
Thermosensor | Warmsensor | 40–45 °C | Mittel | Warm |
Kaltsensor | 20–25 °C | Mittel | Kalt | |
Nozizeptor | Freie Nervenendigung | Gewebeschädigung | Langsam, nichtadaptierend | Schmerz |
Propriozeptor | Primäre Muskelspindel | Muskeldehnung | Rasch | Propriozeption, Vibration |
Sekundäre Muskelspindel | Muskeldehnung | Langsam | Propriozeption | |
Golgi-Sehnenorgan | Sehnenspannung | Langsam | Muskelkraft | |
Gelenksensor | Gelenkbewegung, Druck | Langsam | Propriozeption |
Somatosensorisches System
-
16.1
Wegweiser377
-
16.2
Tastsinn378
-
16.3
Temperatursinn381
-
16.4
Nozizeption382
-
16.5
Juckreiz387
-
16.6
Tiefensensibilität388
-
16.7
Viszerale Sensorik388
-
16.8
Sensorische Informationsverarbeitung388
IMPP-Hits
-
•
Hinterstrang- und Vorderseitenstrangsystem: vor allem Brown-Séquard-Syndrom
-
•
Mechanosensoren: Meissner- und Vater-Pacini-Körperchen
-
•
Schmerzsinn: Transduktion, Fasertypen, antinozizeptives System
16.1
Wegweiser
16.2
Tastsinn
16.2.1
Mechanosensoren
16.2.1.1
Anatomie
•
Merkel-Merkel-ZellenZellen sind rundliche, mit Flüssigkeit gefüllte Kapseln und liegen in der basalen Epidermis der unbehaarten Haut. Wenn sie in Clustern auftreten, heißen sie Merkel-Tastscheiben. Diese gibt es auch in der behaarten Haut, sie heißen dort Pinkus-Iggo-Pinkus-Iggo-TastscheibenTastscheiben.
•
Ruffini-Ruffini-EndkörperchenEndkörperchen liegen in den tieferen Schichten des Koriums und in der Subkutis und kommen auch in submukösem Bindegewebe und in Gelenkkapseln vor.
•
Meißner-Meissner-KörperchenKörperchen liegen unmittelbar unter der Epidermis in den Papillen des Koriums der unbehaarten Haut.
•
Sensoren:HaarfollikelHaarfollikelsensoren liegen direkt an den Haarfollikeln.
•
Vater-Pacini-Vater-Pacini-KörperchenKörperchen: liegen im subkutanen Fettgewebe (also nicht im Korium!). Ihre Nervenendigungen sind von Lamellenkörperchen umgeben. Sie finden sich auch im Bereich von Gelenken, Sehnen, Bändern, Faszien, Knochen, Blutgefäßen und im Bauchraum.
16.2.1.2
Reizaufnahme und -weiterleitung
Adäquate Reize
•
Merkel-Zellen erfassen vertikalen Druck auf die Hautoberfläche. Dabei registrieren sie sowohl die Intensität des Drucks als auch die Geschwindigkeit der Druckänderung: Proportional-Differenzial-Sensoren (Kap. 12.6.1.1).
•
Meißner-Körperchen reagieren auf die Geschwindigkeit einer Druckänderung, also ausschließlich auf die dynamische Komponente der Berührung: Differenzialsensoren (Kap. 12.6.1.1). Sie werden auch durch niederfrequente Vibrationen (25–50 Hz) erregt.
•
Ruffini-Endkörperchen werden durch tangentiale Zugspannung und Scherbewegungen aktiviert.
•
Vater-Pacini-Körperchen registrieren Vibrationen. Sie haben die niedrigste Reizschwelle aller Mechanosensoren.
Transduktion
Transformation
Antwortverhalten und Adaptation
Sensorik:RegulierungMeissner-Körperchen, Vater-Pacini-Körperchen und Haarfollikelsensoren sind Differenzialsensoren: Sie reagieren auf die Geschwindigkeit einer Reizänderung, in diesem Fall auf die Geschwindigkeit, mit der eine Hautreizung oder eine Haarbewegung ausgelöst wird. Meissner-Körperchen haben ihr Frequenzoptimum bei 25–50 Hz, Vater-Pacini-Körperchen zwischen 200 und 300 Hz. Als RA-Sensoren (Rapidly Adapting) reagieren sie schnell oder im Fall der Vater-Pacini-Körperchen sehr schnell.
Merke
Vater-Pacini-Körperchen:
•
Vibrationssensoren
•
Subkutan gelegen
•
Rasche Adaptation
•
Niedrigste Reizschwelle
•
Frequenzoptimum 200–300 Hz
Klinik
PolyneuropathienPolyneuropathien sind Erkrankungen der peripheren Nerven, die nicht durch ein Trauma erklärt werden können. Von den vielen möglichen Ursachen sind in Deutschland Alkoholmissbrauch und Diabetes am häufigsten. Es finden sich motorische, sensible und vegetative Symptome. Zuerst ist die Sensibilität an den distalen Extremitäten gestört. Die Patienten berichten über Missempfindungen mit strumpf- bzw. handschuhförmiger Ausbreitung. Das Vibrationsempfinden ist schon früh eingeschränkt: Pallanästhesie. Zur Diagnostik der Polyneuropathie kann daher eine standardisierte Stimmgabel eingesetzt werden: Rydel-und-Seiffer-Vibrationsgabel.
16.2.2
Tastpunkte und Empfindungsschwellen
16.2.2.1
Tastpunkte
Untersuchungen haben gezeigt, dass nicht überall, sondern nur an bestimmten Stellen der Hautoberfläche Druck- und Berührungsempfindungen hervorgerufen werden können. Diese Stellen werden als Tastpunkte bezeichnet. Die Dichte der Tastpunkte auf der Haut ist sehr unterschiedlich: In berührungsempfindlichen Hautregionen wie den Fingerkuppen und den Lippen gibt es deutlich mehr als z. B. am Rücken oder an Oberschenkeln und Oberarmen. So liegt die Tastpunktdichte an der Hand bei ∼ 20/cm2, am Rücken findet sich nur ∼ 1 Tastpunkt/cm2. Die Tastpunkte entsprechen nicht den einzelnen Mechanosensoren, deren Dichte in der Haut wesentlich größer ist.
16.2.2.2
Raumschwellen
Je mehr Tastpunkte an einer Hautstelle vorhanden sind, desto besser ist das Auflösungsvermögen, wenn die Haut berührt wird. Dies lässt sich ermitteln, indem die räumliche Unterschiedsschwelle bestimmt wird: Raumschwelle. Dazu werden, z. B. mit einem Stechzirkel, entweder mit beiden Enden zugleich (simultane Raumschwelle) oder nacheinander (sukzessive Raumschwelle) auf der Haut benachbarte Reize gesetzt. Hautareale mit hoher Tastpunktdichte, z. B. die Fingerbeere, haben eine geringe Raumschwelle, d. h. ein hohes Auflösungsvermögen.
Die niedrigste simultane Raumschwelle findet sich auf der Zungenspitze (1–2 mm), während die Haut am Rücken mit 55–75 mm die höchste simultane Raumschwelle aufweist (Abb. 16.3).
Lerntipp
Auf den Punkt gebracht: Meissner- und Vater-Pacini-Körperchen waren bisher die Stars unter den Mechanosensoren. Zumindest für das IMPP.
16.3
Temperatursinn
16.3.1
Thermosensoren
16.3.1.1
Histologie
16.3.1.2
Reizaufnahme und -weiterleitung
Adäquate Reize
Das Maximum der Entladungsfrequenz von Kaltsensoren liegt zwischen 20 und 25 °C. Auch bei Temperaturen über 45 °C steigt die Entladungsfrequenz wieder an (Abb. 16.4). Es kommt zu einer paradoxen Kälteempfindung, z. B. beim Eintauchen in ein zu heißes Bad.
Transduktion
Adaptation
•
Bei unveränderter Hauttemperatur geben sie Impulse mit nahezu konstanter Frequenz ab, wobei eine proportionale Beziehung zwischen der Impulsrate und der absoluten Hauttemperatur besteht: Proportional-Verhalten.
•
Auf eine rasche Änderung der Hauttemperatur reagieren die Sensoren mit einem überproportionalen Anstieg (oder Abfall) der Entladungsrate: Differenzialverhalten (Abb. 16.5).
•
Bei konstanter Indifferenztemperatur, d. h. einer Hauttemperatur, bei der weder Warm- noch Kaltempfindung besteht (31–36 °C), arbeiten sowohl Kalt- als auch Warmsensoren mit einer konstanten, niedrigen Impulsrate.
Merke
•
Warm- und Kaltsensoren sind PD-Fühler.
•
Kaltsensoren finden sich in der Epidermis, Warmsensoren im Korium.
16.3.2
Temperaturempfindungen
16.3.2.1
Kalt- und Warmpunkte
Die Temperaturempfindung ist nicht in allen Hautarealen gleich stark ausgeprägt. Hierfür ist die unterschiedliche Verteilung und Dichte von Kalt- und Warmpunkten verantwortlich. Die höchste Dichte von Kalt- und Warmpunkten findet sich im Bereich um die Gesichtsöffnungen. Insgesamt gibt es deutlich mehr Kalt- als Warmpunkte.
16.3.2.2
Indifferenztemperatur
16.3.2.3
Kalt- und Warmempfindung
•
Subjektiv wird bei einer Hauttemperatur von weniger als 32 °C Kälte empfunden, bei Temperaturen < 20 °C herrscht eine ständige Kaltempfindung. Sinkt die Temperatur unter 5 °C, tritt Schmerz durch Reizung der Nozizeptoren auf.
•
Warmsensoren vermitteln ab 30 °C das Gefühl von Wärme. Ab > 40 °C herrscht eine ständige Warmempfindung. Steigt die Temperatur auf mehr als 45 °C, wird dies durch Nozizeptorenreizung als Hitzeschmerz wahrgenommen.
16.4
Nozizeption
16.4.1
Nozizeptoren
16.4.1.1
Histologie
Freie Nervenendigungen
Nervenfasern
Weitergeleitet wird der Schmerz über markhaltige Fasern der Klasse III/Aδ (heller Sofortschmerz), und über marklose Fasern der Klasse IV/C (dumpfer Spätschmerz). Die Übermittlung des viszeralen Schmerzes übernehmen ebenfalls marklose Fasern der Klasse IV (C). Sie sind vorwiegend in den serösen Häuten, Organkapseln und Ausführungsgängen gelegen und laufen mit N. vagus, N. splanchnicus und den Nn. pelvici zentralwärts. Quantitativ überwiegen die markhaltigen Klasse-III-Fasern.
16.4.1.2
Reizaufnahme und -weiterleitung
Adäquate Reize
Merke
Reizung der Nozizeptoren durch Gewebeverletzung, Bradykinin, Serotonin, Substanz P, Prostaglandine, Leukotriene, H+-Ionen, K+-Ionen, Histamin, Acetylcholin.
Transduktion
Der Polymodalität der Nozizeptoren entspricht eine Vielzahl von Proteinen in der Membran der Nervenzelle, die der Reizaufnahme dienen. Sowohl ionotrope als auch metabotrope Rezeptoren sind an der nozizeptiven Transduktion beteiligt (Abb. 16.6).
Der ionotrope Rezeptoren:TRPV1TRPV1-Rezeptor reagiert auf Hitze über 43 °C, Kälte unter 15 °C, Protonen, kurzkettige Alkohole und verschiedene endogene Liganden. Auch Capsaicin wirkt über die Aktivierung des TRPV1-Rezeptors schmerzauslösend: Schmerzempfindung beim Verzehr einer Chili-Schote. Bei Aktivierung wird der Kanal für Ca2+, Na+ und K+ vermehrt durchlässig.
Adaptation
Wie die klinische Erfahrung zeigt, adaptieren Schmerzsensoren bei gleich bleibendem Schmerzreiz praktisch nicht. Die Schmerzempfindung lässt erst nach, wenn die Noxe sich abschwächt oder aufgehoben wird. Nozizeptoren arbeiten als reine Proportionalsensoren.
Sensibilisierung
Vor allem bei Entzündungsprozessen können die nozizeptiven Impulse mit zunehmender Schmerzdauer sogar zunehmen. Für diese Sensibilisierung der Nozizeption ist u. a. eine Rekrutierung „schlafender“ Nozizeptoren durch Bradykinin und Prostaglandin E2 verantwortlich.
16.4.2
Schmerzempfindung
16.4.2.1
Spinale nozizeptive Neurone
Schmerzverstärkung
Die Schmerzempfindung ist keineswegs eine alleinige Funktion der peripheren Nozizeptorenaktivität. Eine Gewebeverletzung zieht die Freisetzung exzitatorischer Transmitter (Glutamat, Aspartat, Substanz P) nach sich und damit die Aktivierung von AMPA- und NMDA-Rezeptoren an nozizeptiven Neuronen im Hinterhorn des Rückenmarks. Diese Aktivierung führt zu einer Schmerzverstärkung und einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit in der Umgebung der Gewebeverletzung (zum Mechanismus dieser synaptischen Lern- und Verstärkungsvorgänge an AMPA- und NMDA-Rezeptoren durch posttetanische Potenzierungen Kap. 20.5.2.3).
Schmerzhemmung
Nozizeptive Neurone können jedoch auch gehemmt werden. Hierfür sind die endogenen Opioide (Enkephaline, Endorphine, Dynorphine, u. a.) verantwortlich. Sie binden im Bereich der Substantia gelatinosa des Hinterhorns an Opioidrezeptoren der spinalen nozizeptiven Neurone. Durch die Blockade von Ca2+-Kanälen wirken sie dort analgetisch.
Nozizeptive Reflexe
16.4.2.2
Deszendierendes antinozizeptives System
Die Schmerzempfindung kann auch durch eine Aktivierung des deszendierenden antinozizeptiven Systems vermindert werden.
Klinik
Nach einem Unfall werden auch schwere Verletzungen oft erst verzögert als schmerzhaft wahrgenommen. Ursache hierfür ist die Aktivierung des antinozizeptiven Systems, das Schmerzreaktionen eine gewisse Zeit unterdrücken kann, um die Handlungsfähigkeit des Organismus in Notsituationen sicherzustellen.
Auch die unterschiedliche Schmerzempfindlichkeit von Patienten wird vermutlich über eine unterschiedlich starke Aktivierung des antinozizeptiven Systems vermittelt.
16.4.2.3
Schmerzformen
Oberflächenschmerz
Tiefenschmerz
Viszeraler Schmerz
16.4.3
Schmerzbewertung
16.4.3.1
Kognitive Schmerzbewertung
16.4.3.2
Affektive Schmerzbewertung
Klinik
Die Verknüpfung von Schmerz, Angst und negativen Emotionen im limbischen System könnte erklären, warum besonderes chronische Schmerzen auf eine Therapie mit Antidepressiva oft gut ansprechen.
16.4.4
Spezielle Schmerzformen
16.4.4.1
Projizierter Schmerz
Klinik
In vielen Fällen von NeuralgieNeuralgie („Nervenschmerz“), z. B. bei der Trigeminusneuralgie, scheint dem Beschwerdebild ein solcher Projektionsmechanismus aufgrund der Irritation weiter zentral liegender Nervenstrukturen (z. B. Trigeminusganglion) zugrunde zu liegen. Der Patient klagt dabei über Schmerzen im peripheren Ausbreitungsgebiet des Nervs.
16.4.4.2
Übertragener Schmerz
Von übertragenem Schmerz spricht man, wenn nach nozizeptiver Reizung innerer Organe der Schmerz nicht oder nicht nur am Ort der Reizeinwirkung, sondern auch an der Hautoberfläche empfunden wird, z. B. Schmerzen im linken Arm bei Angina pectoris.
Mechanismus
Der Schmerz wird dabei in den Hautbereichen wahrgenommen, die Afferenzen in ein Rückenmarkssegment entsenden, das auch das betroffene innere Organ versorgt. Die Übertragung erfolgt also in das zugehörige Dermatom. Grundlage der Schmerzübertragung ist die Tatsache, dass viszerale und somatische Schmerzafferenzen aus demselben Rückenmarkssegment z. T. auf dieselben Neurone in den Hinterhörnern des Rückenmarks konvergieren. Hierbei können die an der Schmerzverarbeitung beteiligten höheren zentralnervösen Strukturen den einlaufenden Schmerzimpuls nicht eindeutig der Peripherie oder den inneren Organen zuordnen. Sie beziehen ihn deshalb im Sinne eines Plausibilitätsurteils auf die Körperperipherie, da Schmerzimpulse in der Vergangenheit ihre Ursache meist in peripheren Reizen hatten.
16.4.4.3
Head-Zonen
Klinik
Die muskuläre Abwehrspannung bei Erkrankungen oder Verletzungen der Bauchorgane beruht auf einer schmerzreflektorischen Innervation der korrespondierenden Myotome.
16.4.5
Störungen der Schmerzempfindung
16.4.5.1
Hyper- und Hypalgesie
16.4.5.2
Phantomschmerz
16.4.5.3
Zentraler Schmerz
16.4.6
Schmerztherapie
16.4.6.1
Nichtsteroidale Analgetika (NSAR)
Typische Vertreter dieser Substanzgruppe sind Acetylsalicylsäure, Ibuprofen oder Diclofenac. Sie hemmen die Cyclooxygenase (COX, Abb. 10.8), das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Prostaglandinsynthese. Durch die blockierte Prostaglandinsynthese werden Entzündungsreaktionen und die Sensibilisierung von Nozizeptoren reduziert (Abb. 16.6).
Klinik
Im Jahr 2004 zeigte sich in einer Studie, dass die Einnahme des COX-2-Hemmers RofecoxibRofecoxib zu einer zweimal höheren Rate an Herzinfarkten und Schlaganfällen führte. Die Studie wurde abgebrochen und das bis dahin kommerziell sehr erfolgreiche Rofecoxib weltweit vom Markt genommen. Die kardiovaskulären Komplikationen, die auch bei anderen COX-2-Hemmern vorkommen, beruhen wahrscheinlich auf der bei COX-2-Hemmern fehlenden TXA2-Hemmung in Thrombozyten (COX-1) und einer PGI2-Hemmung in Endothelien (COX-2). Beide Effekte führen zu einer verstärkten Vasokonstriktion und einer erhöhten Thrombozytenaggregation (Tab. 10.8). Neuere Studien zeigen allerdings, dass unerwünschte thrombotische Ereignisse bei Patienten mit kardiovaskulären Vorerkrankungen auch unter den klassischen nichtselektiven NSAR deutlich häufiger auftreten.
16.4.6.2
Opiate
Klinik
Die Schmerztherapie mit Opiaten ist leider immer noch mit Vorurteilen und Ängsten belastet. Eine Gefahr der Abhängigkeit besteht bei Gabe zur Linderung schwerer Schmerzen nicht. Chronisch Schmerzkranke brauchen ihr Analgetikum wie Diabetiker das Insulin – und nicht wie Süchtige ihr Heroin. Auch das Risiko einer Atemdepression unter Opiaten gibt es bei einer lege artis durchgeführten Schmerztherapie nicht, da Schmerzen ein unspezifischer Atemantrieb sind (Kap. 5.7.1.3).
16.4.6.3
Antidepressiva
Klinik
Eine Schmerztherapie sollte sich am WHO-Stufenschema orientieren:
•
Stufe 1: Nicht-Opioidanalgetika, wie NSAR, Paracetamol oder Metamizol
•
Stufe 2: Nicht-Opioidanalgetika + schwache Opioide, wie Dihydrocodein oder Tramadol
•
Stufe 3: Nicht-Opioidanalgetika + starke Opioide wie Morphin oder Fentanyl
Bei fehlender Wirksamkeit werden die Substanzen der jeweils höheren Stufe eingesetzt.
Ergänzend sollte in jeder Stufe der Einsatz von unterstützenden Medikamenten, z. B. von Antidepressiva, geprüft werden. Wegen der Häufigkeit NSAR-bedingter Nebenwirkungen kann auch in Stufe 1 schon ein Opioidanalgetikum gegeben werden.
16.4.6.4
Lokalanästhetika
16.5
Juckreiz
16.5.1
Sensoren des Juckreizes
16.5.2
Hemmung des Juckreizes
16.6
Tiefensensibilität
16.6.1
Stellungssinn
16.6.2
Bewegungssinn
16.6.3
Kraftsinn
16.7
Viszerale Sensorik
•
Sensoren:ChemoChemosensoren liegen in Glomus aorticum und Glomus caroticum und reagieren vor allem auf einen Anstieg des CO2-Partialdrucks bzw. der H+-Ionen-Konzentration. Sie können über im N. glossopharyngeus und N. vagus laufende Afferenzen eine Steigerung der Atemtätigkeit auslösen (Kap. 5.7.1.2).
•
Sensoren:OsmoOsmosensoren im Hypothalamus veranlassen bei steigendem osmotischem Druck des Blutes die Freisetzung von ADH, das über eine verstärkte Wasserretention diesem Anstieg des osmotischen Drucks entgegenwirkt (Kap. 10.3.3.2).
•
Sensoren:PressoPressosensoren mit Proportional-Differenzial-Eigenschaften (PD-Fühler) finden sich in der Wand von Aorta, A. carotis communis und anderen Arterien. Die Afferenzen laufen zum Rautenhirn und zur Formatio reticularis (Kap. 4.3.3.1).
•
Sensoren:VolumenVolumensensoren in den Herzvorhöfen hemmen bei Reizung die ADH-Ausschüttung der Neurohypophyse und setzen das atriale natriuretische Peptid (ANP) frei (Kap. 10.8.4.1).
•
Sensoren:DehnungsDehnungssensoren in der Lunge steuern im Rahmen eines Reflexkreises den normalen Rhythmus von Ein- und Ausatmung (Hering-Breuer-Reflex, Kap. 5.7.1.2).
16.8
Sensorische Informationsverarbeitung
16.8.1
Reizweiterleitung
•
Die Afferenzen der Muskelspindeln (MuskelspindelnDehnungssensoren) laufen über sehr schnelle (dicke, markhaltige) Fasern der Klasse I/Aα.
•
Die Aktionspotenziale der Mechanosensoren der Haut werden über markhaltige Fasern der Klasse II/Aβ geleitet.
•
Thermosensoren Thermosensorenund Nozizeptoren Nozizeptorenverfügen über relativ langsam leitende Axone der Klassen III/Aδ und IV/C.
16.8.2
Sensorische Bahnen im Rückenmark
•
Im Hinterstrang, der in der Medulla oblongata an den Hinterstrangkernen endet, laufen die Neuriten von Mechanosensoren aus Muskeln, Haut, Gelenken und Viszera.
•
In der Kleinhirnseitenstrangbahn ziehen die propriozeptiven Neuriten mit Informationen über die Tiefensensibilität.
•
Die Neuriten der die Schmerz- und Temperaturempfindung registrierenden Neurone enden im Hinterhorn und werden dort auf Interneurone umgeschaltet. Die Neuriten dieser Interneurone ziehen dann im Vorderseitenstrang der Gegenseite zentralwärts.
16.8.3
Hinterstrang- und Vorderseitenstrangsystem
•
Spezifisches Hinterstrangsystem (lemniskales System, phylogenetisch jünger): Es leitet spezifische Afferenzen einer jeweils exakt abgrenzbaren Sinnesmodalität.
•
Unspezifisches Vorderseitenstrangsystem (phylogenetisch älter): Hier konvergieren Impulse verschiedener Sinnesmodalitäten (Abb. 16.8).
16.8.3.1
Hinterstrangsystem
Das Hinterstrangsystem übermittelt mit dreimaliger synaptischer Umschaltung Informationen der kutanen Mechanosensoren und der Tiefensensibilität: epikritische epikritische SensibilitätSensibilität.
Klinik
Eine Irritation oder Zerstörung der thalamokortikalen Verbindungen (z. B. durch Verletzungen oder Tumoren) führt u. a. zum Symptom der räumlichen Agnosie: StereoagnosieStereoagnosie. Sie ist durch die Unfähigkeit zur räumlichen Orientierung beim Wegfall optischer Informationen gekennzeichnet. Bei geschlossenen Augen kann z. B. ein Gegenstand nicht durch Betasten allein identifiziert oder ein Finger nicht zur Nasenspitze geführt werden.
16.8.3.2
Vorderseitenstrangsystem
Im weniger leicht abgrenzbaren Vorderseitenstrangsystem (spinothalamisches System, Abb. 16.8) ziehen die Afferenzen von Thermo- und Nozizeption: protopathische protopathische SensibilitätSensibilität. Im Gegensatz zum Hinterstrangsystem erreichen die Impulse aus der Peripherie die kortikalen Areale meist erst nach zahlreichen Umschaltungen. Auch eine klare Somatotopie, wie sie für das lemniskale System typisch ist, besteht nicht.
Umschaltung im Hinterhorn und Kreuzung
Die Afferenzen werden nach Eintritt über die Hinterwurzel im Hinterhorn des Rückenmarks umgeschaltet (2. Neuron). Das 2. Neuron kreuzt noch im gleichen Segment auf die Gegenseite und zieht dann im Vorderseitenstrang, speziell im Tractus spinothalamicus und im Tractus spinoreticularis, zentralwärts. Die Afferenzen erreichen über die Formatio reticularis unspezifische, mediale, intralaminäre Thalamuskerne. Sie versorgen diffus praktisch alle Bereiche des Kortex. Vom unspezifischen somatosensorischen System bestehen Verbindungen zu vegetativen Zentren und zum limbischen System (anteriorer cingulärer Kortex).
Umschaltung im Ventrobasalkern des Thalamus
Ein Teil der nozizeptiven Afferenzen aus dem Vorderseitenstrangsystem wird wie das Hinterstrangsystem im Ventrobasalkern (Nucleus ventralis posterolateralis) des Thalamus auf das 3. Neuron umgeschaltet und erhält damit Anschluss zum Gyrus postcentralis des Kortex. Auf diesem Weg kommt es zur bewussten Schmerzempfindung.
Merke
-
•
Hinterstrangsystem: Oberflächen- und Tiefensensibilität: Ventrobasalkern des Thalamus
-
•
Vorderseitenstrangsystem: Temperatur- und Schmerzempfindung: unspezifische Thalamuskerne
Klinik
Der teils gekreuzte (Schmerz, Temperatur), teils ungekreuzte (Berührung, Druck, Vibration) Verlauf sensibler Afferenzen auf spinaler Ebene ist die Erklärung, warum es nach halbseitiger Rückenmarksdurchtrennung zu einer dissoziierten Empfindungsstörung kommen kann: Brown-Séquard-Brown-Séquard-SyndromSyndrom (Abb. 16.10). Unterhalb der Läsion besteht auf der gleichen Seite (ipsilateral) neben einer Lähmung der Muskulatur eine Einschränkung der Berührungs-, Druck-, Vibrations- und Tiefenwahrnehmung: Unterbrechung des Hinterstrangs. Kontralateral findet sich dagegen eine eingeschränkte oder aufgehobene Temperatur- und Schmerzempfindung: Unterbrechung des Vorderseitenstrangs. Reflektorische Reaktionen auf Rückenmarksebene sind jedoch weiterhin auslösbar.
Lerntipp
Mit dem Brown-Séquard-Syndrom läßt sich der Verlauf der sensorischen Bahnsysteme gut abfragen. Nicht umsonst ist die im Jahr 1850 erstmals beschriebene dissoziierte Sensibilitätsstörung ein Liebling des IMPP in diesem Kapitel. Abb. 16.10 fasst die wichtigsten klinischen Symptome zusammen.
Formatio reticularis
Lerntipp
Die 3 wichtigsten Stränge des Rückenmarks und ihre Kreuzungen:
•
Vorderseitenstrang: Schmerz und Temperatur
–
Kreuzt auf Segmenthöhe im Rückenmark
•
Hinterstrang: epikritische Sensibilität
–
Im Rückenmark ungekreuzt – kreuzt erst im Hirnstamm
•
Pyramidenbahn: Willkürmotorik (Kap. 15.6.3.2)
–
Im Rückenmark ungekreuzt – kreuzt erst im Hirnstamm
16.8.4
Regulierung der Sensorik
Von höheren Zentren des ZNS ausgehende Fasersysteme können in den Hinterhörnern des Rückenmarks die Umschaltung von Hautafferenzen auf das 2. Neuron hemmend oder fördernd beeinflussen: deszendierende Hemmung oder Aktivierung. Dadurch kann das Ausmaß der nach zentral weitergeleiteten Hautafferenzen auf Rückenmarksebene im Sinne einer zentralen efferenten Kontrolle gesteuert werden. Dieses auch bei Temperatur- und Schmerzafferenzen gültige Prinzip der zentralen efferenten Modifizierung afferenter Zuflüsse ist mitverantwortlich für die unterschiedliche Berührungs-, Temperatur- und Schmerzempfindlichkeit bei verschiedenen zentralnervösen Zuständen wie z. B. einer stärkeren Schmerzwahrnehmung bei Angst oder einer geringeren Schmerzwahrnehmung bei Wut.