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Relatives Risiko (Hazard-Ratio) für kardiovaskuläre MortalitätKardiovaskuläre ErkrankungenMortalität, ArbeitsstressArbeitsstresskardiovaskuläre Mortalität nach dem Ausmaß von Arbeitsstress (Anforderungs-Kontroll-ModellAnforderungs-Kontroll-ModellValmet-Studie, Modell beruflicher GratifikationskrisenGratifikationskrisenmodellValmet-Studie) in der Valmet-StudieValmet-Studie; adjustiert nach Alter, Geschlecht, beruflicher Stellung des Vaters
(mod. nach Brunner et al. 2004) [L106]

Effekt des Verausgabungs-/ArbeitsbelastungenVerausgabungs-/BelohnungsquotientenBelohnungsquotienten auf Anstiege von C-reaktivem Protein (CRP) und Von-Willebrand-Faktor (vWF) unter mentalem Stress. Mittelwerte und Standardabweichungen adjustiert nach Alter, Körpergewicht und Ausgangswerten (N = 74 Männer; 33,1 ± 8,6 Jahre; Hamer et al. 2006)
[L106]

Arbeit, Gesundheit und Krankheit
-
23.1
Orientierende Übersicht251
-
23.2
Arbeit, Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften252
-
23.3
Empirische Befunde256
-
23.4
Folgerungen für ärztliches Handeln259
-
23.5
Ausblick261
23.1
Orientierende Übersicht
Patientengeschichte
Herr A., 51 Jahre, war seit einigen Jahren als deutscher Entwicklungshelfer in einem afrikanischen Land tätig. Er hatte sich in eine leitende Position hochgearbeitet und war für den Ausbau des Straßennetzes in den Provinzen zuständig. Obwohl er sich mit größtem Einsatz für diesen Ausbau – bekanntlich eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung eines Gebietes – engagierte, kämpfte er gegen eine übermächtige Zentralregierung, die diesen Ausbau zu behindern und zu blockieren suchte (denn dadurch sah sie ihre eigene Machtstruktur gefährdet). Herr A., der seit Jahren ein mäßiger Raucher war und auch erhöhte Blutfettwerte aufwies, ansonsten aber bei bester Gesundheit war, hatte in den vergangenen 2 Jahren ein immer größeres Arbeitspensum zu erfüllen. Die Konflikte mit der Regierung spitzten sich zu, und es wurden entscheidende Verhandlungen in der Hauptstadt angesagt. Es war nicht mehr daran zu denken, an den Wochenenden zur Familie zu fahren. Herr A. gönnte sich keine freie Minute mehr. Unter diesem Druck steigerte er seinen Zigarettenkonsum. Häufig wurde nachts sein Schlaf gestört, die beruflichen Probleme waren übermächtig geworden. Am ersten Verhandlungstag – seine Niederlage zeichnete sich bereits ab – sank er in einer Pause auf der Toilette bewusstlos zusammen. Er starb an Herzversagen (Siegrist 1991: 131 f.).
23.2
Arbeit, Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften
23.2.1
Der Wandel von Arbeit und Beschäftigung und seine Bedeutung für die Gesundheit
23.2.2
Physische Arbeitsbelastungen
Insgesamt kann physischen Belastungen am Arbeitsplatz ein ursächlicher Anteil an der Morbidität und Mortalität in der Erwerbsbevölkerung zugeschrieben werden, der bei Beschäftigten in niedrigen sozialen Schichten besonders ausgeprägt ist. Neben arbeitsbedingten Unfällen und Verletzungen stehen muskuloskelettale Beschwerden im Vordergrund. Gemeinsam mit Berufskrankheiten und weiteren, durch kumulierte Arbeitsbelastungen bedingten Gesundheitsrisiken (Kap. 23.2.2) tragen sie zu einer erhöhten Quote krankheitsbedingter FrühberentungenFrühberentung bei (Dragano 2007).
23.2.3
Psychosoziale Arbeitsbelastungen
Arbeitsstressmodelle
-
1.
Bei fehlender Arbeitsplatzalternative (z. B. aufgrund geringer Qualifikation oder eingeschränkter Mobilität)
-
2.
Bei ungünstigen Arbeitsverträgen, die aus strategischen Gründen über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden (z. B. zum Zweck der Erzielung prospektiver Wettbewerbsvorteile in hochkompetitiven Berufen)
-
3.
Bei Vorliegen eines (angesichts von Leistungssituationen) spezifischen psychischen Bewältigungsmusters, das durch eine distanzlose, übersteigerte Verausgabungsneigung gekennzeichnet ist – häufig einhergehend mit einer unrealistischen Einschätzung der gestellten Anforderungen und der zu erwartenden Belohnungen.
Messung und Überprüfung
Zur Überprüfung der Erklärungskraft stresstheoretischer Modelle bzgl. arbeitsbedingter GesundheitsgefahrenGesundheitsgefahrenarbeitsbedingte stehen unterschiedliche Untersuchungsansätze zur Verfügung. Am wichtigsten ist der methodische Ansatz der prospektiven epidemiologischen Beobachtungsstudie.Arbeitsstressepidemiologische Studien Sie gilt als Goldstandard dieser Forschungsrichtung, da die Erfassung der Exposition der Krankheitsmanifestation stets zeitlich vorgelagert ist (Ursache-Wirkungs-Beziehung) und da die Stärke der statistischen Assoziation (Odds-Ratio, relatives Risiko) unter Berücksichtigung des Einflusses konfundierender Variablen quantifiziert werden kann. Allerdings handelt es sich hierbei, im Gegensatz zu den weniger beweiskräftigen Fall-Kontroll-Studien und Querschnittstudien, um eine sehr zeit- und kostenaufwendige Forschung.
23.3
Empirische Befunde
23.3.1
Evidenz aus epidemiologischen Studien
Herz-Kreislauf-Krankheiten
Resümee
Insgesamt liegt ein überzeugendes Mosaik empirischer Befunde zum Einfluss von Arbeitsstress auf die verschiedenen Stadien und Entwicklungspfade kardiovaskulärer Erkrankungen vor. Allerdings ist es bisher erst in Ansätzen gelungen, diese Pfade in einem einheitlichen, im Längsschnitt geprüften Kausalmodell zu vereinen (Chandola et al. 2008). Für ärztliche Maßnahmen der Diagnostik, Therapie und Prävention wird es zudem hilfreich sein, das relative Gewicht personaler, vor allem psychischer Risikodispositionen (zu ihrem Stellenwert bei KHK Koronare Herzkrankheit (KHK)ArbeitsbelastungenArbeitsbelastungenkoronare HerzkrankheitKap. 78) im Vergleich zu arbeitsbezogenen Risikosituationen genauer bestimmen zuArbeitsbelastungenHerz-Kreislauf-ErkrankungenHerz-Kreislauf-ErkrankungenArbeitsbelastungen können.
Depressive Störungen
Resümee
Die aus den dargestellten Befunden ersichtliche gesundheitspolitische Bedeutung des Einflusses von Arbeitsbelastungen auf psychische Störungen wird durch eine auf umfangreichen Daten beruhende prospektive Studie aus Finnland weiter unterstrichen (Juvani et al. 2014). Danach werden Männer und Frauen in Berufen, die nach dem Gratifikationskrisenmodell im Mittel durch hohe Belastungswerte gekennzeichnet sind,FrühberentungArbeitsstressmodelleDepression/depressive StörungenFrühberentung wesentlich häufiger aufgrund einer psychischen Störung krankheitsbedingt frühberentetArbeitsbelastungenDepressionDepression/depressive StörungenArbeitsbelastungen als Beschäftigte in stressärmeren Berufen. Schließlich muss an dieser Stelle nachdrücklich auf die erhöhten Gefahren depressiver Störungen, ihre Folgen und Komorbiditäten im Fall von ArbeitslosigkeitArbeitslosigkeit, DepressionDepression/depressive StörungenArbeitslosigkeit hingewiesen werden (Dupre et al. 2012; Holleder 2013).
Weitere Anwendungen der Arbeitsstressmodelle
23.3.2
Evidenz aus experimentellen und quasi-experimentellen Studien
Ambulante Registrierung physiologischer Reaktionen während der Arbeit
Experimentelle Untersuchungen
Interventionsstudien
Resümee
Zusammenfassend zeigt sich, dass sowohl Feldstudien mit ambulanten physiologischen Messungen als auch experimentelle Untersuchungen und InterventionsstudienArbeitsbelastungenEvidenz aus experimentellen Studien die epidemiologisch nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen Arbeitsbelastungen und Gesundheitsrisiken stützen, sodass starke Argumente für das Vorliegen einer ursächlichen Beziehung sprechen.
23.4
Folgerungen für ärztliches Handeln
23.4.1
Erfassung von Belastungen und Ressourcen im ärztlichen Gespräch
-
•
Sind Sie (oder waren Sie, und falls ja, wie lange) berufstätig? In welchem Beruf (evtl. Hauptberuf, letzter oder gegenwärtig ausgeübter Beruf)?
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•
Wie gut können Sie Ihre Fähigkeiten und Ihre Interessen in Ihrem Beruf zum Ausdruck bringen (Berufszufriedenheit)?
-
•
Waren (oder sind) Sie von einem der nachfolgenden Ereignisse betroffen: Arbeitslosigkeit (Häufigkeit, Dauer), Berufswechsel (Verbesserung, Verschlechterung), unfreiwillige Versetzung, Frühberentung (krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen, unfreiwillig vs. freiwillig)?
-
•
Fühlen Sie sich bei Ihrer Arbeit sehr stark gefordert (überfordert)? Haben die Arbeitsanforderungen in letzter Zeit zugenommen (Überstunden, Arbeitsintensivierung innerhalb der regulären Zeit)?
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•
Können Sie auf die Gestaltung Ihrer Arbeitsaufgaben Einfluss nehmen? Sind Sie weisungsgebunden? Werden Ihr Arbeitsablauf und Ihr Arbeitsergebnis unmittelbar kontrolliert?
-
•
Entspricht das, was Sie für Ihre Arbeit bekommen (Bezahlung, Anerkennung, Aufstiegschancen) Ihrem Arbeitseinsatz? Haben Sie das Gefühl, dass sich Ihre Anstrengungen bei der Arbeit lohnen?
-
•
Erhalten Sie Hilfe und Unterstützung bei der Arbeit: von Ihrem Vorgesetzten, von Ihren Kollegen? Gibt es dauerhafte Konflikte? Werden Sie ungerecht behandelt?
-
•
Machen Sie sich Sorgen um Ihren Arbeitsplatz oder Ihre berufliche Zukunft?
-
•
Wie leicht fällt es Ihnen, nach der Arbeit abzuschalten und zu entspannen? Wie stark sind Sie innerlich mit Ihrer Arbeit bzw. Ihrem Betrieb verbunden?
-
•
Gibt es Probleme bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie? Oder erleichtert die Familie oder eine andere enge Beziehung Ihren Umgang mit beruflichen Belastungen?
-
•
Haben Sie, abgesehen von Urlaub, eine regelmäßige Abwechslung von den Verpflichtungen des Alltags, z. B. in Form eines Hobbys oder einer Vereinstätigkeit?
23.4.2
Therapeutische und präventive Maßnahmen
-
•
die bewusste Wahrnehmung und das Erleben eigener Stressreaktionen in relevanten Situationen anhand eines gesteigerten Gespürs für psychophysische Zustände der Erregung und Anspannung;
-
•
die durch Visualisieren und Erinnern aktualisierten, mit Spannungszuständen assoziierten Kognitionen, Emotionen und Verhaltensweisen;
-
•
die Erfahrung psychophysischer Entspannung und ihre gezielte Herbeiführung anhand von Methoden des autogenen Trainings bzw. der progressiven Muskelrelaxation;
-
•
den Abbau übersteigerten Leistungsstrebens und unrealistischer Anforderungsbewertungen im Beruf;
-
•
die Stärkung psychosozialer Kompetenzen bei der Bewältigung von Belastungen (Selbstbehauptung, Distanzierungsfähigkeit, Toleranz, Optimismus, Humor, Vertrauen).
Aufgabe des Arztes ist es in diesem Zusammenhang, Patienten auf Chancen betrieblicher GesundheitsförderungsmaßnahmenGesundheitsförderungbetriebliche ArbeitsbelastungenGesundheitsförderung, betrieblichehinzuweisen, Informations- und ggf. Beschwerdeinstanzen zuArbeitsbelastungenInformations- und ggf. Beschwerdeinstanzen benennen und durch Arztbriefe entsprechenden Handlungsbedarf anzumahnen.
Bei der Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungder Begutachtung von Anträgen auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente und anderen Begutachtungen kommt dem Arzt die verantwortungsvolle Aufgabe zu, den Kenntnisstand zu arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren nach bestem Wissen geltend zu machen.
23.5
Ausblick
-
•
ein anspruchsvolles, nicht überforderndes Arbeitsaufgabenprofil mit hoher Autonomie und reichhaltigen Lern- und Entwicklungschancen; angemessene Erfahrungen von Erfolg und sozialer Anerkennung sowie materielle Gratifikationen für erbrachte Leistungen;
-
•
ein vertrauensvolles Klima der Zusammenarbeit sowie des fairen und gerechten Umgangs;
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•
eine aus Sicht der Arbeitenden sinnerfüllte und gesicherte Perspektive der Leistungserbringung.
Literaturauswahl
Bourbonnais et al., 2011
Cartwright and Cooper, 2009
Chandola et al., 2008
Hamer et al., 2006
Juvani et al., 2014
Karasek and Theorell, 1990
Ndjaboué et al., 2012
Rensing et al., 2005
Steptoe and Kivimäki, 2012