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Systematische Nosologie psychogener ErkrankungenPsychogene ErkrankungenNosologie, systematischePsychogene ErkrankungenSymptommuster Nosologie. Auf der Ebene der diagnostischen Kategorien sind lediglich mögliche Beispiele aufgeführt. Die verschiedenen Krankheitsbilder sind der klinischen Hauptmanifestationsebene zugeordnet, was nicht bedeutet, dass eine vorwiegend im psychischen Bereich imponierende Störung nicht auch zusätzlich z. B. körperliche Symptome verursachen könnte. Anpassungs- und posttraumatische Störungen sind in der Abbildung nicht berücksichtigt.
∗ Bei dieser Störungsgruppe ist das Ausmaß der Beteiligung psychosozialer Faktoren an Auslösung und Verlauf umstritten.
[L106]

Verteilung der Probanden der Psychogene ErkrankungenLangzeitspontanverlaufMannheimer KohortenstudieLangzeitverlauf psychogener ErkankungenLangzeitverlaufsstichprobe (n = 301; [n] = absolute Anzahl) hinsichtlich der psychogenen Beeinträchtigung; BSS-Summenwert für die letzten 7 Tage zu t1 (= A-Studie) und t3 (letzte Querschnittuntersuchung 11 Jahre nach t1). Die Fallschwelle ≥ 5 ist markiert.
[L106]

In der Grafik sind die BSS-Summenwerte (letztes Jahr) von t1 (= A-Studie) und t3 (letzte Querschnittuntersuchung nach 11 Jahren) aufgetragen. Die Größe der Kreise entspricht der Anzahl der jeweiligen Probanden der Stichprobe. Im linken unteren (Norm-)Bereich des Verlaufsdiagramms sind die Probanden zusammengefasst, deren psychogene Beeinträchtigung zu keinem Zeitpunkt die Fallschwelle überschritt (54,2 %). Im außerhalb dieser Begrenzung liegenden klinisch relevanten Bereich wurden die Probanden, bei denen keine bedeutsame Veränderung der psychogenen Beeinträchtigung eintrat, mit einer Streuung von ± 1 BSS-Punkt ebenfalls gekennzeichnet; sie liegen innerhalb des diagonal von links unten nach rechts oben gekennzeichneten Doppelstreifens (20,9 %). Unterhalb dieses Streifens liegen die Probanden, die sich im Verlauf von t1 nach t3 um > 1 BSS-Punkt verbesserten (10,6 %), oberhalb davon diejenigen, die sich um > 1 Punkt verschlechterten (14,3 %).
[L106]

Fallraten (%) und psychogene Beeinträchtigung (BSS-Summenwerte für das letzte Jahr) in der A-Studie (Mannheimer KohortenstudieA-Studie= t1) und in der bislang letzten Folgeuntersuchung (= t3) 11 Jahre später (mittleres Untersuchungsintervall) in der Stichprobe der Mannheimer Studie zur Epidemiologie psychogener Erkrankungen. Zur Schichtabhängigkeit psychogener Beeinträchtigung Tab. 54.2Mannheimer KohortenstudieBSS-SummenwerteMannheimer KohortenstudieB-Studie
Erstuntersuchung/t1 (N = 600) 1979–1982 | Folgeuntersuchung/t3 (N = 301) 1991–1994 |
||||
Fallraten (%) | BSS-Summenwert (SD) | Fallraten (%) | BSS-Summenwert (SD) | ||
Gesamt | 26,0 | 4,0 (1,9) | 26,3 | 4,0 (1,9) | |
Männer | 18,0 | 3,6 (1,9) | 22,5 | 3,9 (1,9) | |
Frauen | 34,6 | 4,4 (1,9) | 30,5 | 4,2 (1,9) | |
Kohorte | 1955 | 24,7 | 3,9 (1,9) | 18,4 | 3,9 (1,7) |
1945 | 28,1 | 4,2 (1,9) | 21,2 | 3,8 (1,8) | |
1935 | 25,1 | 3,8 (1,9) | 34,9 | 4,2 (2,1) | |
Schicht | OS | 24,2 | 3,4 (2,2) | 0,0 | 3,0 (0,6) |
MS | 17,6 | 3,7 (1,7) | 20,3 | 3,7 (1,8) | |
US | 36,7 | 4,5 (2,1) | 41,3 | 4,8 (2,0) | |
Familienstand | |||||
|
21,5 | 3,7 (1,9) | 20,8 | 3,2 (1,7) | |
|
26,8 | 4,2 (1,8) | 31,0 | 3,9 (1,8) | |
|
36,8 | 4,9 (2,1) | 50,0 | 4,3 (2,5) |
Kohorte = Geburtsjahrgang; OS = Oberschicht, MS = Mittelschicht, US = Unterschicht
Klinische Beeinträchtigung in Abhängigkeit von der Schichtzugehörigkeit zu t1 und 11 Jahre später zu t3 in der Verlaufsstichprobe (n = 301)Psychogene ErkrankungenSchichtzugehörigkeit
BSS-Summenwert/letztes Jahr (SD) | Fallrate (%) | ICD-Diagnose/letztes Jahr (%) | Zahl psychogener Symptome/letztes Jahr | |||||
t1 | t3 | t1 | t3 | t1 | T3 | t1 | T3 | |
OS | 3,2 (1,9) | 3,0 (0,6) | 22,2 | 0,0 | 44,4 | 16,7 | 4,7 (3,5) | 3,0 (3,6) |
MS | 3,6 (1,8) | 3,7 (1,8) | 14,5 | 20,3 | 53,2 | 40,6 | 5,7 (2,7) | 5,2 (3,9) |
US | 4,6 (2,2) | 4,8 (2,0) | 35,5 | 41,3 | 72,0 | 62,0 | 6,4 (2,9) | 7,0 (3,2) |
OS = Oberschicht, MS = Mittelschicht, US = Unterschicht
Kindheitliche Risiko- und Schutzfaktoren für die Entstehung psychogener/psychosomatischer Erkrankungen im Erwachsenenalter
Risikofaktoren
-
•
Chronische elterliche Disharmonie, elterliche Trennung und Beziehungspathologie innerhalb der Familie (Werner und Smith 1982, 1992Werner and Smith, 1982Werner and Smith, 1992; Gilman et al. 2003)
-
•
Psychische Störungen der Mutter oder des Vaters (Dührssen 1984; Schepank 1990; Werner und Smith 1982, 1992Werner and Smith, 1982Werner and Smith, 1992)
-
•
Mütterliche Depression (Raposa et al. 2014)
-
•
Häufig wechselnde frühe Bezugspersonen
-
•
Kriminalität oder Dissozialität eines Elternteils
-
•
Schwere körperliche Erkrankungen der Mutter oder des Vaters (Dührssen 1984; Werner und Smith 1982, 1992Werner and Smith, 1982Werner and Smith, 1992)
-
•
Sexuelle und körperliche Gewalt, familiäre Gewalt/Gewaltzeugenschaft, emotionale Vernachlässigung (Mullen et al. 1993; Edwards et al. 2003; Chapman et al. 2004; Widom et al. 2007)
-
•
Schlechte Schulbildung der Eltern (Lieberz 1988; Werner und Smith 1982)
-
•
Verlust der Mutter (Dührssen 1984; Werner und Smith 1982) oder des Vaters (Franz et al. 1999a, bFranz et al., 1999aFranz et al., 1999b)
-
•
Alleinerziehende Mutter (Werner und Smith 1982)
-
•
Umfangreiche mütterliche Berufstätigkeit im 1. Lj. (Baydar und Brooks-Gunn 1991)
-
•
Autoritär-rigides Erziehungsverhalten (Kropiunigg 1989)
-
•
Schlecht ausgeprägte Kontakte zu Gleichaltrigen
-
•
Altersabstand zum nächsten Geschwister < 18 Monate (Lieberz 1988; Werner und Smith 1982)
-
•
Unerwünschtheit (Amendt und Schwarz 1992; Matejcek 1991)
-
•
Junge Mütter bei Geburt des ersten Kindes (Lieberz 1988)
-
•
Ernste oder häufige Erkrankungen in der Kindheit (Werner und Smith 1992; Craig et al. 1993)
-
•
Niedriger sozioökonomischer Status (Dührssen 1984; Schepank 1990; Werner und Smith 1982)
-
•
Hohe Gesamtbelastung in der (Früh-)Kindheit (Dührssen 1984; Lieberz et al. 1998)
Protektiv wirksame Faktoren
-
•
Dauerhafte und gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson (Cederblad et al. 1994; Gribble et al. 1993; Lieberz 1988; Reister 1995; Tress 1986; Wyman et al. 1992)
-
•
Aufwachsen in einer Familie mit Entlastung der Mutter, weitere kompensatorische Bezugspersonen
-
•
Insgesamt attraktives Mutterbild
-
•
Gutes Ersatzmilieu nach frühem Mutterverlust
-
•
Mindestens durchschnittliche Intelligenz (Lösel et al. 1989; Werner und Smith 1992)
-
•
Robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament
-
•
Soziale Förderung, Jugendarbeit (Rutter und Quinton 1984; Werner und Smith 1992)
-
•
Eine oder mehrere verlässlich unterstützende Bezugspersonen im Erwachsenenalter
-
•
Das lebenszeitlich spätere Eingehen sog. „schwer auflösbarer Bindungen“
-
•
Eine geringere Risiko-Gesamtbelastung
Epidemiologie psychogener Erkrankungen
-
54.1
Grundlagen577
-
54.2
Grundprobleme der Epidemiologie psychogener Erkrankungen577
-
54.3
Die Entwicklung der epidemiologischen Erforschung psychogener Erkrankungen579
-
54.4
Die Mannheimer Kohortenstudie zur Epidemiologie psychogener Erkrankungen581
-
54.5
Ausblick585
54.1
Grundlagen
-
•
Qualität: Diagnose (z. B. nach ICD)
-
•
Quantität: Ausprägungsschwere der Beeinträchtigung (z. B. durch Festlegung einer klinisch relevanten Fallschwelle mithilfe eines geeigneten Messinstruments)
-
•
Zeit: PrävalenzintervallPrävalenzintervall
Repräsentative EpidemiologieFeldstudienFeldstudien in der Bevölkerung ermöglichen die Erfassung der tatsächlichen Inzidenz und Prävalenz psychogener Krankheiten, sofern sie die Probleme der Stichprobenauswahl, der selektiven Verweigerung und einer expertengestützten Diagnostik bewältigen. Man unterscheidet epidemiologische EpidemiologieQuerschnittstudienQuerschnittuntersuchungen und EpidemiologieLongitudinalstudienLongitudinalstudien. Letztere untersuchen in aufeinander folgenden Untersuchungswellen wiederholt dieselben Personen, oder sie ermitteln im Laufe der Zeit an immer wieder anderen repräsentativen Stichproben aus derselben Grundpopulation die Konstanz bzw. die Veränderungen der Merkmalshäufigkeit.
54.2
Grundprobleme der Epidemiologie psychogener Erkrankungen
-
•
Sie können sich bei Erwachsenen im Anschluss an eine psychotraumatische Psychogene Erkrankungenpsychotraumatische AktualbelastungAktualbelastung manifestieren.
-
•
Sie entstehen im Gefolge (früh-)kindlich erlittener und verinnerlichter Psychogene ErkrankungenEntwicklungstraumataEntwicklungstrauma, psychogene ErkrankungenEntwicklungstraumata (z. B. Ablehnung, Vernachlässigung oder Misshandlung des Kindes, familiäre Gewalt), die zu einer dysfunktionalen Stressbewältigung und Persönlichkeitsstruktur führen.
-
•
Darüber hinaus können sie auch Ausdruck eines unbewussten TriebkonfliktsTriebkonfliktunbewusster und einer hierdurch situationsbezogen kritischen Erlebnisverarbeitung sein.
Psychogene Erkrankungen sind also in Auslösung und Genese von zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen abhängig und deshalb zunächst vor allem auch einer Behandlung durch Psychotherapie zugänglich.
Diese Besonderheiten machen es sinnvoll, die zunächst heterogen anmutenden psychogenen Erkrankungen zu einer Gruppe zusammenzufassen.
-
•
Psychoneurosen (PsychoneurosenF32 und F33 z. T., F34.1, F40–F42, F44, F48)
-
•
Persönlichkeitsstörung(en)Persönlichkeitsstörungen (Persönlichkeitsstörung(en)einschl. Suchterkrankungen und Essstörungen, F10–F19, F50, F60–F69)
-
•
Somatoforme Störungen (Somatoforme StörungenF45, F51 und F52 z. T.)
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•
Psychosomatisch mitbeeinflusste Organerkrankungen, psychosomatisch beeinflussteOrganerkrankungen (F54+)
-
•
Traumatische BelastungsreaktionenBelastungsreaktion(en)traumatische und somatopsychische Anpassungsstörungen (AnpassungsstörungensomatopsychischeF43).
-
•
Beginn und Dauer der Störung liegen oft nicht eindeutig fest.
-
•
Die Verläufe variieren stark (kurzzeitige vs. langfristige Episoden, schleichender vs. akuter Beginn).
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•
Die bestehende Beeinträchtigungsschwere ist inter- und intraindividuell im Verlauf unterschiedlich ausgeprägt.
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•
Meist bestehen mehrere Symptome auf körperlicher, seelischer und sozialer Ebene nebeneinander, wobei die Akzentuierungen erheblich wechseln, von Person zu Person wie auch im Krankheitsverlauf. Eine wirkliche Monosymptomatik oder Einzeldiagnose ist eine Rarität. Die aufgrund von Komorbidität und Symptomverschiebung bestehende Vielfalt der Erscheinungsbilder erschwert die diagnostische Festlegung erheblich.
-
•
Im Gegensatz zu vorwiegend somatogenen Erkrankungen zeigen psychogen Kranke extreme Unterschiede in ihrem Inanspruchnahmeverhalten. Sie beschäftigen nahezu alle Fächer der Medizin, paramedizinische Anbieter, Beratungsdienste, Kirchen, Sozialämter, gelegentlich Gerichte. Häufig nehmen sie überhaupt keine Hilfe in Anspruch.
Die Qualität epidemiologischer Studien über psychogene ErkrankungenPsychogene Erkrankungenepidemiologische Studien steht und fällt mit der klinisch-psychodiagnostischen und psychotherapeutischen Kompetenz und Erfahrung des Feldforschers. Trainierte Laien, die in vielen großen Studien eingesetzt werden, sind als Diagnostiker grundsätzlich ungeeignet. Ferner sind klare Vorgaben zu Prävalenzzeiträumen – von der Punkt- bis zur lebenslangen Prävalenz – für die FalldefinitionFalldefinition unerlässlich. Schließlich dienen Instrumente zur Einschätzung des Schweregrades des Krankheitsbildes dem klinischen Bezug, wenn sie mittels eines validen klinischen Schwellenwertes eine operationalisierte Fallzuordnung ermöglichen.
54.3
Die Entwicklung der epidemiologischen Erforschung psychogener Erkrankungen
-
•
Keine Differenzierung der Häufigkeitskennwerte Inzidenz bzw. Prävalenz
-
•
Unterschiedlich präzise Falldefinitionen (Schweregrad, Diagnosen)
-
•
Fallidentifikationsinstrumente unterschiedlicher Spezifität/Sensitivität
-
•
Unterschiedliche Kompetenz der Untersucher
-
•
Unterschiedliche Untersuchungsdesigns (Probandengewinnung, Fokussierung der Fragestellung, Altersgruppen)
Resümee
Epidemiologieforschungsmethodische ProblemeDieses diagnostische Artefakt machte das Epidemiologic Catchment Area Epidemiologic Catchment Area Program (ECA-Studie)Program für alle Belange der Psychosomatischen Medizin leider gegenstandslos und wirft erhebliche Zweifel an der diagnostischen Kompetenz der Interviewer und der diesbezüglichen Brauchbarkeit von DIS und DSM-III auf. Zudem hatte das DSM-III – ähnlich wie die ICD-10 – als multiaxiales diagnostisches Instrument die Unterscheidung von Krankheitsentitäten wie Neurosen und Psychosen zugunsten einer ätiologisch indifferenten deskriptiven „Symptomdiagnostik“ aufgegeben. Es unterstützte damit den definitorischen Geltungsanspruch der von industriellen Marketingstrategien beeinflussten biologischen Psychiatrie und findet weltweit immer stärkere Anerkennung als Klassifikationssystem für sämtliche seelischen Erkrankungen. Sind aber erst einmal Begriffe wie „Konflikt“ oder „Neurose“ verschwunden, sollte wohl auch der Gegenstand bald in Vergessenheit geraten.
Die symptomatologische Fragmentierung des kranken Subjekts und die immer noch zu geringe Berücksichtigung psychosozialer Zusammenhänge für das Verständnis psychogener Erkrankungen bereits im Medizinstudium begünstigen diese Entwicklungen.
54.4
Die Mannheimer Kohortenstudie zur Epidemiologie psychogener Erkrankungen
Seit Mitte der 1970er-Jahre werden an einer EpidemiologieMannheimer KohortenstudieMannheimer KohortenstudieMannheimer Bevölkerungsstichprobe (Schepank 1987, 1990; Franz et al. 2000; Lieberz et al. 2010) Häufigkeiten, Verlauf und Bedingungsfaktoren psychogener Erkrankungen erforscht. Diese von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte und von ärztlichen Psychosomatikern durchgeführte Studie stellt einen Meilenstein der epidemiologischen Erforschung zu Häufigkeit, Verlauf und Ursachen psychogener Erkrankungen in Deutschland dar. Es ist unseres Wissens die erste und einzige Feldstudie, die sich – von klinisch erfahrenen Psychotherapeuten/Psychosomatikern durchgeführt – umfassend und ausschließlich den psychogenen Erkrankungen zuwendet.
54.4.1
Prävalenz psychogener Erkrankungen
Bemerkenswert erscheint, dass durch ein einfaches Angebot und wenige motivierende Informationsgespräche eine – gemessen an der spontanen, auf Eigeninitiative zurückgehenden Inanspruchnahme von Psychotherapie in dieser Population – Verzehnfachung der Inanspruchnahme von Psychotherapie erzielt werden konnte.
-
•
Qualitatives Kriterium: Diagnose psychogener Erkrankungen, damals nach ICD-8, Ziffern 300–306
-
•
Quantitatives Kriterien: Überschreiten der Fallschwelle des BSS∗∗
Beeinträchtigungsschwere-Score (BSS)SymptomepsychogeneFalldefinitionBSS-Summenscore (Summenwert > 4; Schepank 1995)∗∗
Der Beeinträchtigungsschwerescore (BSS) ermöglicht es trainierten Experten, mit hoher Reliabilität den Grad der bestehenden psychogenen Beeinträchtigung auf drei Subskalen (körperlich, psychisch, sozialkommunikativ) fünfstufig von 0 bis 4 einzuschätzen. Von den Untersuchern wird ein Symptom dann als psychogen eingeordnet, wenn eine somatogene Verursachung aufgrund anamnestischer Informationen und früherer medizinisch-diagnostischer Abklärungen ausgeschlossen werden kann und sich darüber hinaus eine Abhängigkeit der angegebenen Beschwerden von einer psychosozialen Konflikt- oder Belastungskonstellation nachweisen lässt. Der Messbereich des Skalensummenwertes reicht von 0 (keine psychogene Beeinträchtigung) bis zum Maximalwert von 12 (extreme Beeinträchtigung). Der BSS-Summenwert erlaubt über einen Cut-off-Wert von > 4 die Zuordnung eines Probanden als Fall, wenn darüber hinaus für das Prävalenzintervall der letzten 7 Tage eine ICD-Diagnose einer psychogenen Erkrankung vergeben werden kann.
-
•
Zeitliches Kriterium: Erfassung der psychogenen Störungen für die letzten 7 Tage (Punktprävalenz)
-
•
Psychoneurosen (ICD-8 300): 7,2 %
-
•
PersönlichkeitsstörungenPersönlichkeitsstörung(en)Mannheimer Kohortenstudie einschl. SuchterkrankungenSuchterkrankungenMannheimer Kohortenstudie (ICD-8 301–304): 7,2 %
-
•
PsychosomatischePsychosomatische ErkrankungenMannheimer Kohortenstudie (überwiegend somatoforme) StörungenSomatoforme StörungenMannheimer Kohortenstudie (ICD-8 305, 306): 11,6 %
54.4.2
Psychosoziale Risikofaktoren
In der Kindheit erfahrene psychosoziale Belastungen können das – bis vor Kurzem noch als weitgehend unveränderlich angesehene – individuelle Genom in seiner Funktionalität und Expressivität bleibend verändern. Derartige durch emotionale Zuwendung vermittelte epigenetischeEpigenetik/epigenetische MechanismenUmwelt-Genom-Interaktionen Umwelt-Genom-InteraktionenAversive Kindheitsbelastungen (ACE)Umwelt-Genom-Interaktionen sind mit einiger Wahrscheinlichkeit auch beim Menschen für lebenslänglich andauernde und an Folgegenerationen weitergegebene Varianten der Genexpression auch des stressmodulierenden Systems und damit für Unterschiede in der Stressresistenz verantwortlich.
54.4.3
Langzeitspontanverlauf
Resümee
Ein zentraler Befund der Mannheimer Kohortenstudie besteht also in der hohen Psychogene ErkrankungenLangzeitstabilitätLangzeitstabilität der psychogenen Gesamtbeeinträchtigung durch körperliche, psychische und sozialkommunikative Beschwerden, wobei die Manifestationsebene der einzelnen Beschwerden im Verlauf durchaus wechselte. (Die Korrelationskoeffizienten betrugen für die körperliche Subskala des BSS von t1 nach t3 r = 0,27, für die psychische Subskala r = 0,42 und für die sozialkommunikative Subskala r = 0,43; die BSS-Gesamtwerte zu t1 und t3 waren mit r = 0,55 angesichts des langen Untersuchungsintervalls jedoch relativ hoch korreliert.)
In der Langzeitverlaufsstichprobe fanden sich keine Hinweise auf einen überwiegend positiven Langzeitspontanverlauf psychogener Erkrankungen bzw. Beeinträchtigungen. Ein schlechter Langzeitverlauf wird innerhalb komplexer statistischer Modelle u. a. vor allem durch ein schlechtes Ausgangsniveau, Persönlichkeitsmerkmale, Belastungen durch Trennungen und Verluste während der kindlichen Entwicklung und z. B. auch durch eine Trennung vom Vater in den ersten 6 Lebensjahren maßgeblich prädiziert (Franz et al. 1999a, bFranz et al., 1999aFranz et al., 1999b).
54.5
Ausblick
Die möglichen Langzeitfolgen konflikthafter elterlicher Trennung und der damit häufig gegebenen Abwesenheit des Vaters werden möglicherweise bis heute unterschätzt. Eine weitere Untersuchung dieser Zusammenhänge und die breite Verfügbarkeit wirksamer Unterstützungsprogramme sind angesichts der wachsenden Zahl von Einelternfamilien und der mit dieser Familienform verbundenen Belastungen erforderlich.
Literaturauswahl
Brown et al., 2009
Franz, 2013
Franz, 2014
Franz et al., 1999b
Franz et al., 2007
Franz et al., 2009
Jacobi et al., 2004
Schepank, 1987
Schepank, 1990
Steel et al., 2014