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978-3-437-21833-0
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Folgen kriegsbelasteter Kindheiten
Kindheit kriegsbelastete, Folgen
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1.
Allgemein: Risiko bei Vaterlosigkeit: erhebliche psychogene Beeinträchtigung
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2.
Symptome: Kriegsgenerationpsychische Störungen
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Diffuse allgemeine Ängste, PhobienPhobienKriegsgeneration, Panikattacken
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Depressive SymptomeDepression/depressive StörungenKriegsgeneration (leichtere bis mittlere Ausprägung)
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SomatoformeSomatoforme StörungenKriegsgeneration Beschwerden
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BeziehungsstörungenBeziehungsstörungenKriegsgeneration (wiederholte Beziehungsabbrüche bzw. Beziehungsunfähigkeit)
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IdentitätsstörungenIdentitätsstörungKriegsgeneration (verunsicherte oder eingeschränkte psychosexuelle Identität; Identitätsbrüche)
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Vorsichtige, skeptische bis misstrauische Einstellung
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Psychische MüdigkeitMüdigkeitpsychische
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Spezifische ich-syntone VerhaltensweisenVerhaltensweisenich-synton gewordene, Kriegsgeneration (sparsam, altruistisch, geringe Rücksichtnahme auf sich selbst, freundlich, angepasst, „funktionierend“, planend/organisierend, sich absichernd)
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Eingeschränkte psychosoziale FunktionsfähigkeitPsychosoziale Funktionsfähigkeit, Kriegsgeneration (Alltagsbewältigung); eingeschränkte LebensqualitätZeitgeschichtliche ErfahrungenLebensbewältigung
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Erhöhte Nutzung des allgemeinen medizinischen Versorgungssystems bei eingeschränkter Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen/Rehabilitation
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Organische Symptome
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3.
Störungen/Erkrankungen
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a.
Spezifisch:
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Partielle oder vollständige PTBSPosttraumatische Belastungsstörung (PTBS)Kriegsgeneration (chronifizierte Form), oft mit Komorbidität
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b.
Unspezifisch:
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AngststörungenAngst(störungen)Kriegsgeneration
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Depressive SyndromeDepression/depressive StörungenKriegsgeneration
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Somatoforme StörungenSomatoforme StörungenKriegsgeneration
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Schwere chronifizierte AnpassungsstörungenAnpassungsstörungenKriegsgenerationKriegsgenerationAnpassungsstörungen
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PersönlichkeitsveränderungenPersönlichkeitsveränderungKriegsgeneration
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Körperliche Erkrankungen (insb. KHKKoronare Herzkrankheit (KHK)Kriegsgeneration)
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Das Ausmaß von Betroffenheit ist deutlich höher anzusetzen, da Hochrisikogruppen bereits verstorben sind und im Heim Gepflegte nicht einbezogen wurden (Glaesmer 2014; Radebold 2005).
Frühe zeitgeschichtliche Erfahrungen und lebenslange Auswirkungen
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20.1
Kindheit und Jugend im Zweiten Weltkrieg (1939–1945) Hartmut Radebold217
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20.2
Transgenerationale Folgen des Holocausts Ilany Kogan225
Kindheit und Jugend im Zweiten Weltkrieg (1939–1945)
20.1.1
Konfliktorientierte Perspektive
Patientengeschichte
Symptomatik, aktuelle Probleme und bisherige Entwicklung
Anfängliche Diagnose aus konfliktorientierter Perspektive
Behandlung (1. Teil)
Behandlung (2. Teil)
20.1.2
Zeitgeschichtliche Einflüsse
Was geschah damals?
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Im Zweiten WeltkriegZweiter Weltkrieg, Kriegsfolgen (1939–1945) starben von mehr als 18 Mill. deutscher Soldaten ca. 5,3 Mill. („Todesquote“ von ca. 28 %), von den Geburtsjahrgängen 1910–1925 jeder Dritte (ca. 34 %).
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•
Ca. 14 Mill. Menschen verloren zwischen 1944 und 1947 ihre Heimat. 0,5 Mill. Zivilisten starben auf der Flucht und während der Vertreibung (über die Hälfte Frauen und Kinder). 0,5 Mio. wurden Opfer des Bombenkrieges.
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•
Die Gefallenen/Vermissten hinterließen in Deutschland mehr als 1,7 Mill. Witwen, fast 2,5 Mill. Halbwaisen und 100 000–200 000 Vollwaisen. Daher wuchs ein Viertel aller Kinder nach 1945 vaterlos auf.
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•
Im Frühjahr 1947 befanden sich noch 2,3 Mill. Kriegsgefangene in den Lagern der Alliierten und 900 000 in sowjetischen Lagern. Die Mehrzahl der Überlebenden kehrte bis 1950 zurück.
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•
Vergewaltigt wurden ca. 1,9 Mio. Frauen: 1,3 Mio. in den ehemaligen deutschen Ostgebieten und während der Flucht und Vertreibung, 500 000 in der späteren sowjetischen Besatzungszone sowie 100 000 (d. h. jede 7. Frau) während der Eroberung von Berlin.
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•
Im Bundesgebiet wurden Ende 1950 mehr als 2,1 Mill. „KriegsbeschädigteKriegsbeschädigte“ des Ersten und Zweiten Weltkrieges registriert (Radebold 2000, 2005).
Welche Prägungen und Erfahrungen gab es damals?
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Miterleben zahlreicher BombenangriffeBombenangriffe/AusbombungenAusbombung, z. T. Miterleben der Städtezerstörungen (der „Feuersturm“ mit seinen zahlreichen Opfern betraf über 150 deutsche Städte).
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EvakuierungenEvakuierungen der unter 10-Jährigen (zusammen mit der Mutter und weiteren jüngeren Geschwistern) oder erweiterte Kinder-LandverschickungenKinder-Landverschickung der über 10-Jährigen (mit z. T. langer Trennung von der Mutter und der weiteren Familie). FluchtFlucht(verhalten) (vor dem näher rückenden Krieg). VertreibungVertreibung mit zunächst Flucht und späterem Aufwachsen in einer fremden bis feindselig eingestellten Umwelt (Sprache, Religion, Lebensgewohnheiten etc.) mit der Folge von Heimatverlust und oft sozialem Abstieg der Eltern.
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•
Lang anhaltende (Kriegsteilnahme und/oder GefangenschaftGefangenschaft) oder dauernde (gefallen, vermisst, an Krankheit verstorben) väterliche Abwesenheit. Dazu kehrten diese Väter oft physisch/psychisch versehrt/krank zurück. Selbst äußerlich unversehrt blieben sie häufig abgekapselt oder unerreichbar. Hunger, Unterernährung, Verarmung mit oft beschädigten Familienverhältnissen.
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•
Zusätzlicher VerlustVerlust(erlebnisse)Kriegsgeneration der Mutter (Status als Vollwaise), weiterer Geschwister und näherer Verwandter (insb. der Großeltern).
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Passive GewalterfahrungenGewalterfahrungenKriegsgeneration z. B. Verwundungen, Verschleppungen/KriegsgefangenschaftKriegsgefangenschaft, Vergewaltigungen sowie Miterleben derselben.
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Mit zunehmendem Lebensalter aktive GewalterfahrungenGewalterfahrungenKriegsgeneration insbesondere bei Kriegshandlungen, Tötungen/Erschießungen.
Was wurde damals erlebt?
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•
Meine Welt und meine Umwelt werden bedrohlich und gefährlich, zumindest unsicherer. Ich bin dieser Situation völlig hilflos ausgeliefert.
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•
Ich kann mich nicht auf diese Bedrohungen vorbereiten: Jeder BombenangriffBombenangriffe kann katastrophale Folgen haben.
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•
Die Erwachsenen können oft nicht helfen – z. T. erleiden sie selbst Schaden.
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•
Ich verliere meine direkte Kindheitswelt: Wohnung/Haus, Stadtviertel und aufgrund von Flucht/Vertreibung meine Heimat.
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•
Ich bleibe mit meiner Angst, Panik, Verzweiflung und Verlassenheit allein, keiner fragt nach meinen Erlebnissen – geschweige denn, wie es mir geht.
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•
Alle ringsum sind ob der Toten/Vermissten erstarrt. Wenn ich überhaupt trauern kann, muss ich dies für mich alleine.
Bewältigt, verarbeitet oder abgewehrt?
Übersehene Auffälligkeiten
20.1.3
Zeitgeschichtliche Perspektive
Patientengeschichte (Forts.)
Erweiterte Diagnose
Behandlungsergebnisse und Katamnese
20.1.4
70 Jahre danach – lebenslange Folgen?!
Entwicklungen Betroffener im Rückblick
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•
Lebenslang bestehen deutliche soziale, berufliche und finanzielle Einschränkungen bei eher leichterer depressiver und/oder ängstlicher Symptomatik und vielfältigen, ebenfalls leichteren funktionellen Beschwerden. Fortbestehende symbiotische Beziehungen zu den verwitweten Müttern bedingen oft eine weitreichende BeziehungsunfähigkeitBeziehungsstörungenKriegsgeneration.
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•
Ab dem mittleren Erwachsenenalter manifestieren sich zunehmend ausgeprägte depressive und funktionelle Symptome. Mehrfach wiederholen sich Beziehungsschwierigkeiten oder Beziehungsabbrüche. Die Arbeitsfähigkeit zeigt sich zunehmend eingeschränkt. Dazu besteht eine verunsicherte psychosexuelle und/oder psychosoziale Identität. Frauen trennen sich zunehmend nach langjährigen Beziehungen.
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•
Ab dem höheren Lebensalter zeigt sich erstmalig nach dem (als auferlegt empfundenen) Ausscheiden aus dem identitätsstiftenden Beruf eine deutliche depressive und funktionelle Symptomatik. Betroffene reagieren auf ihre zunehmenden Verluste (Trennungen, Tod der Mutter, des Partners und schon von Kindern) teils mit Erstarrung und innerlichen RückzugRückzuginnerlicher, teils mit sich verschlechterndem körperlichen Befinden. Sie können, wie schon in ihrer Kindheit, nicht trauern.
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•
Lebenslang bis in die AlternssituationKriegsgenerationAlternssituation besteht im subjektiven Empfinden psychische, soziale und familiäre Stabilität. Insbesondere betroffene Männer erleben sich durch ihre Vergangenheit in keiner Weise beeinträchtigt und stellen sich als mit dem Leben zufrieden dar. Entgegen diesem vermittelten Selbstbild vermissen ihre Partnerinnen auf Dauer Selbstständigkeit, Übernahme von Verantwortung sowie Männlichkeit.
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Lebenslang bis in die Alternssituation hält subjektiv und objektiv die bisherige psychische, soziale und familiäre Stabilität an. Selbstwahrnehmung und familiäre Einschätzung stimmen überein.
Aktueller Kenntnisstand
Psychodynamisch-zeitgeschichtlicher Verständniszugang
Patientengeschichte (Forts.)
Ein Schleudertrauma und spezifische Folgen
Ergänzte Diagnose
20.1.5
Aktuelle Fragen
Welche damalige Wirklichkeit wird uns heute vermittelt?
Risiko Alternssituation?
Was wurde transgenerational weitergegeben?
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•
Ihre Erziehung nach unverständlichen und nie erklärten Grundsätzen („Man isst alles auf“, „man wirft nichts weg“ u. a.)
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Unerklärliche Symptome, insbesondere Ängste (z. B. vor „Sirenenklängen und Feuerwerk“, „Katastrophen“)
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•
Bindungsschwierigkeiten und Träume, in denen offenbar die Kriegserfahrungen der Eltern nacherlebt werden
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•
Mangelnde gefühlsmäßige Nähe der Eltern zu ihnen (z. B. fehlende Umarmung, liebevolle Zärtlichkeit)
-
•
Das fehlende Gespräch über die elterlichen Erfahrungen im Krieg (schon diese zweite erfuhr diesbezüglich nichts von der ersten Generation); über ähnliche Erfahrungen berichten die Kinder von Holocaust-Überlebenden in Israel (Kap. 20.2).
20.1.6
Diagnostisches Vorgehen
20.1.7
Behandlungs- und Hilfsmöglichkeiten
20.1.8
Fazit
Sich wiederholende Komponenten der traumatischen Situation, „Lebenskrisen“ oder „Passagen im Lebenszyklus“ können auch und gerade während des Alterns ein bisher latentes Traumaschema stimulieren und auch noch nach jahrzehntelanger subjektiv erlebter psychischer und psychosozialer Stabilität zur Symptomreproduktion beitragen (Fischer und Riedesser 1998).
Resümee
Als generelles Fazit bedarf das biopsychosoziale Krankheitskonzept der zeitgeschichtlichen Ergänzung:
Wir haben eine Geschichte, wir sind Geschichte, wir verkörpern Geschichte, und wir haben diese Geschichte weitergegeben!
Literaturauswahl
Adler, 2007
Bode, 2009
Dörr, 2007
Fooken and Heuft, 2014
Franz et al., 2007
Heuft et al., 2006
Heuft et al., 2007
Lamparter et al., 2013
Markowitsch and Welzer, 2005
Radebold, 2004
Radebold, 2009
Radebold, 2015
Rosenthal, 1997
Seidler and Froese, 2006
Werner, 2007
Zarah, 2011
Transgenerationale Folgen des Holocausts11Übersetzung des englischen Textes durch Michèle Adler. Der Originaltext trägt den Untertitel From Enactment to Mental Representation.
20.2.1
Einführung
The concept adopted by the Nazis in devising the Final Solution was the fulfilment of an ideology of hate – an apocalyptic end in itself. Sophisticated technology was applied to the organized and relentless slaughter of a people – a slaughter on a scale surpassing any anti-semitic crimes of the past.
“Based on clinical experience with such patients (children of survivors) our impression is that these individuals present symptomatology and psychiatric traits that bear a striking resemblance to the concentration camp survival syndrome described in the international literature”.
20.2.2
Die Funktion von Enactment
Diese Formen des Enactments, insbesondere diejenigen, die in den Anfangsstadien der Analyse auftauchen, bilden die einzige Möglichkeit für den Patienten, ein verinnerlichtes Erlebnis, das er dem Therapeuten vermitteln will, wieder zu erleben. In diesem Sinn schließt Enactment die Merkmale von Acting-in einHolocaust(überlebende)Acting-in/-out. Dies kann später von Nutzen sein, um dem Patienten das Erkennen des Ursprungs seiner zum Enactment führenden Fantasien zu ermöglichen.
20.2.3
Die Ursache von Enactment
Der Kern des Zwangs, die traumatischen Erlebnisse der Eltern im eigenen Leben zu inszenieren, besteht aus einer Art Identifikation mit dem geschädigten Elternteil. Dies nennt man primitive IdentifikationIdentifikationprimitive (Freyberg 1980; Grubrich-Simitis 1984; Kogan 1995, 1996, 1998Kogan 1995Kogan 1996Kogan 1998aKogan 1998b).
Patientengeschichte
Hannah22
Eine ausführlichere Beschreibung dieses Falls findet sich in Kogan (1993, 1995)Kogan (1993)Kogan (1995).
2
Eine ausführlichere Beschreibung dieses Falls findet sich in Kogan (1993, 1995)Kogan (1993)Kogan (1995).
20.2.4
Vom Enactment zur seelischen Repräsentation
Die Konstruktion eines intaktes Narrativs, das die Wissenslücken des Kindes füllt, das Unaussprechliche aussprechbar macht und das Bewusstsein der Realität und der Schrecken des Holocausts mit der Gegenwart verwebt, ermöglicht es den Nachkommen der Überlebenden, allmählich Trost aus diesem abgespaltenen Wissen zu schöpfen, das von uneingestandenen Affekten und Angst begleitet war. Die Ereignisse und Bilder, die den Ausgangspunkt der traumatischen Wunde des Kindes bilden, kann man rekonstruieren, sodass die vom Bewusstsein abgespaltenen und diffus reinszenierten Fragmente aus einer Welt der Verfolgung aufgeklärt werden. So ermöglicht die Deutung von bruchstückartigen Re-Enactments dem Patienten ein Bewusstsein für Re-Enactment, HolocaustHolocaust(überlebende)Re-Enactmentdie Realität des Traumas – ein Bewusstsein, das zu einem erfüllteren Leben beiträgt.
Literaturauswahl
Auerhahn and Laub, 1998
Barocas and Barocas, 1973
Bergmann and Jucovy, 1982
Brenner, 2002
Garland, 2002
Jacobs, 2000
Kogan, 2000
Kogan, 2001
Kogan, 2007a
Kogan, 2007b
Rosenthal, 1999