3.1.1
Genregulation als Schlüssel für das Verständnis differenzierter Entwicklung
Ein komplexes Programm der GenregulationGenregulation ist die Voraussetzung für die EntwicklungEntwicklungGenregulation jedes Lebewesens aus einer einzelnen Zelle. Sie trägt das Potenzial für die Entwicklung eines ganzen Menschen, der schließlich über mehr als 200 verschiedene Gewebetypen mit gänzlich unterschiedlichen Funktionen verfügt.
Regulationsmechanismen sorgen dafür, dass jede Zelle über ein sehr differenziertes Genaktivierungsmuster verfügen kann. In einem einzigen Zelltyp ist wahrscheinlich jeweils nur ca. ein Drittel der Gene aktiv. Von besonderer Bedeutung ist, dass Gene nicht nur in bestimmten Geweben des Körpers selektiv reguliert bzw. an- oder abgeschaltet werden können, sondern dass diese Aktivitätsmuster auch durch äußere Einflüsse prinzipiell beeinflussbar sind.
Unter den vielen bisher bekannten Steuerungsmechanismen der GenaktivitätGenaktivitätSteuerungsmechanismen sind vor allem drei hervorzuheben:
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DNA-MethylierungDNA-Methylierung: Das Anbringen von Methylgruppen (CH3) an bestimmten Stellen der DNA, vor allem den sog. Promotoren, bewirkt eine Blockade der Eiweißbildung. Das betreffende Gen kann vollständig ausgeschaltet werden: Methylierung schaltet aus.
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HistonmodifikationHistonmodifikation: Die DNA formiert sich an bestimmten Stellen um die sog. Histone. Die Anbringung sog. Acylgruppen (CH3CO) an den Histonen bewirkt ein Einschalten der Proteinbildung: Acetylierung schaltet ein.
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RNA-InterferenzRNA-Interferenz: Kleine, kurze RNA-Bestandteile (sog. Mikro-RNAsMikro-RNA) können über einen speziellen Mechanismus die Aktivität eines Gens beeinflussen bzw. das Gen funktionell gänzlich ausschalten.
3.1.2
Epigenetik
Die EpigenetikEpigenetik/epigenetische MechanismenDefinition in einer sehr allgemeinen Definition befasst sich mit Faktoren, welche die Genaktivität beeinflussen. Hier soll der Begriff jedoch enger gefasst und insbesondere die Weitergabe von Eigenschaften an Nachkommen betrachtet werden, die nicht auf Abweichungen in der DNA-Sequenz zurückgehen, sondern auf eine vererbbare Änderung der Genregulation und Genexpression. Die Epigenetik rüttelt damit an einem Dogma der Evolution, das davon ausgeht, dass die Weitergabe von „Erbinformationen“ ausschließlich durch Gene erfolgt. Der Biologe Conrad Hal Waddington hat 1942 den Begriff Epigenetik geprägt.
Die derzeit größte Beachtung der rasant an Bedeutung gewinnenden Forschung findet die Epigenetik bis heute zweifelsfrei in der onkologischen Forschung.
Epigenetik in der Natur
Epigenetik/epigenetische Mechanismenin der NaturEpigenetik ist im Tier- und Pflanzenreich seit Langem gut bekannt. Dass aus einer wenig attraktiven Larve ein Schmetterling werden kann, ist Ergebnis eines komplizierten Regulierungsmechanismus von Genaktivitäten. Die Larve besitzt die gleichen Gene wie der Schmetterling, sie sind nur in einer anderen Zusammensetzung aktiv. In der Tierwelt gibt es viele Beispiele für die Metamorphose, die einem komplexen Programm folgt. Im Bienenstaat sind zunächst alle Bienenlarven mit dem gleichen Genom ausgestattet; erst die Verfütterung des Geleé royale lässt eine Biene zur Königin werden.
Die EvolutionstheorieEvolutionstheorie basiert darauf, dass es aufgrund von Mutationen zu einer Veränderung der genetischen Ausstattung kommt, die den jeweiligen Lebewesen einen Selektionsvorteil verschafft. Zentraler Mechanismus sind Genmutationen. Diese weitgehend stochastisch ablaufenden Prozesse sind naturgemäß sehr träge, und es bleibt die Frage, ob derart „langsame“ Mechanismen geeignet sind, das Überleben in einer sich schnell verändernden Umwelt effizient zu sichern.
Die Epigenetik sollte gewissermaßen in Ergänzung zur Evolution gesehen werden. Die epigenetische Steuerung von Genaktivitäten ermöglicht eine schnelle, zielgerichtete und klar abgestufte Reaktion des Organismus auf eine sich ändernde Umwelt. Es überrascht nicht, dass derartige Mechanismen für Pflanzen von besonderer Bedeutung sind, da sie den sich ändernden Umweltbedingungen nicht ausweichen können.
3.1.3
Genomische Prägung (Imprinting): Transgenerationseffekte
TransgenerationseffektePrägung(en)genomischeImprintingImprinting(mechanismen) bewirkt in Abhängigkeit von der elterlichen Herkunft der Gene in der frühen Embryonalentwicklung deren unterschiedliche Aktivität. Einige Gene sind nur aktiv, wenn sie von der Mutter, andere nur, wenn sie vom Vater geerbt wurden. Der zentrale biochemische Mechanismus des Imprinting ist vermutlich die MethylierungMethylierung, DNA der DNA. Unser Wissen über Imprintingmechanismen rührt wesentlich von seltenen Krankheitsbildern, deren Phänotyp von der elterlichen Herkunft der jeweiligen Mutation abhängig ist. Beispiele sind das Prader-Willi-SyndromPrader-Willi-Syndrom (mentale Retardierung, Hypogonadismus, Kleinwuchs, Adipositas), das u. a. aus einem Stückverlust des väterlichen Abschnitts des kurzen Arms von Chromosom 15 resultiert, während das sog. Angelman-SyndromAngelman-Syndrom (mentale Retardierung, Mikrozephalie, Ataxie, unmotivierte Lachanfälle) Folge eines mütterlichen Stückverlusts der gleichen chromosomalen Region sein kann.
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele dafür, dass die elterliche Herkunft einer genetischen Veränderung für das klinische Bild verantwortlich ist. Diese Phänomene wurden auf molekularer Ebene intensiv beforscht. Es wurde lange spekuliert, welchen Sinn derartige geschlechtsspezifische Regulationsmechanismen haben könntenGenregulationgeschlechtsspezifische Mechanismen. Vor allem die Interpretation der molekularen Mechanismen von WachstumsstörungenWachstumsstörungen, Imprintingmechanismen, bei denen Imprintingmechanismen von Bedeutung sind, lieferten die Basis für die 1991 von Moore und Craig formulierte „KonflikthypotheseKonflikthypothese, embryonales Wachstum“. Sie basiert auf der Annahme, dass bzgl. des embryonalen Wachstums unterschiedliche elterliche Interessen bestehen: Väterlich exprimierte Gene tendieren dazu, das Wachstum des Embryos ohne Rücksicht auf die mütterlichen Ressourcen zu steigern. Mütterlich exprimierte Gene wirken dem entgegen und reduzieren das Embryowachstum so weit, dass auch weitere Schwangerschaften (evtl. mit anderen Vätern) möglich sind. Inwieweit diese „neodarwinistisch“ anmutende Theorie Bestand haben wird, bleibt abzuwarten. Wir gehen heute davon aus, dass vielleicht bis zu 100 Gene einem genomischen Imprinting unterliegen. Geschlechtsunterschiede müssen heute auch unter dem Aspekt der geschlechtsspezifischen Regulation von Genen betrachtet werden.
In den frühen Phasen der Embryonalentwicklung kommt es bei der Maus bis zum Blastozystenstadium zu einer fast vollständigen Demethylierung des Genoms, die in Abhängigkeit von der elterlichen Herkunft unterschiedlich schnell abläuft. Es kann danach von Neuem eine (geschlechtsspezifische) MethylierungGenom(De-)Meythlierung einsetzen. Methylierung und Demethylierung befinden sich in einem komplexen dynamischen Gleichgewicht, das prinzipiell lebenslang anhält. Die Analyse von Methylierungsmustern eineiiger Zwillinge zeigt mit zunehmendem Alter deutliche Unterschiede. Dieser Befund kann ein Schlüssel für das Verständnis diskordanter Merkmale eineiiger Zwillinge sein.
Wir müssen annehmen, dass die Demethylierung des Genoms in der frühen Embryogenese nicht vollständig erfolgt. Hier könnte eine Erklärung für die überraschende Beobachtung sog. Transgenerationseffekte liegen, die mit klassischen Methoden nicht von der Vererbung von Genveränderungen unterschieden werden können. Der in diesem Zusammenhang in der Literatur gelegentlich gebrauchte Begriff soft inheritanceSoft inheritance soll den Unterschied zu Mechanismen der klassischen Genetik nach Mendel herausstellen, die auf Veränderungen der DNA beruht.
3.1.4
Exkurs in die klassische Genetik: die Entstehung von Volkskrankheiten
Wir verdanken der rasanten Entschlüsselung des Genoms mit der Identifizierung einer Vielzahl von Genen ein zunehmendes Verständnis von physiologischen wie auch pathophysiologischen Vorgängen. Zentrale Beiträge hierzu haben die vergleichsweise seltenen Krankheiten geliefert, die Mendelschen Erbgängen folgen und unser biologisches und medizinisches Grundlagenwissen dramatisch erweitert haben. Die häufigsten von ihnen haben eine Häufigkeit von weniger als 1 : 1 000. Der Erkenntnisgewinn aus der Erforschung monogen erblicher Krankheiten ist trotz ihrer Seltenheit für Biologie und Medizin sehr groß. Durch den Ausfall der Funktion eines einzelnen Gens einer Erbkrankheit gelang über dessen DNA-Sequenz regelmäßig die Identifizierung des jeweiligen verantwortlichen Proteins und machte damit das Studium der Funktion dieses Proteins möglich. Die HumangenetikHumangenetik hat sich innerhalb weniger Jahre zu einer Schlüsselwissenschaft in der Medizin entwickelt.
Volkskrankheiten GenetikVolkskrankheitenVolkskrankheiten, epigenetische Mechanismenwie die koronare HerzkrankheitKoronare Herzkrankheit (KHK)Genetik (KHK), BluthochdruckHypertonieGenetik, DiabetesDiabetes mellitusgenetische Faktoren, AtopienAtopische ErkrankungenGenetik, SchizophrenienSchizophrenieGenetik und affektive StörungenAffektive StörungenGenetik sind die Herausforderung der Medizin und damit auch der sozialen Gesundheitssysteme. Die Entstehung von Volkskrankheiten wird nach gängiger Vorstellung damit erklärt, dass sie Folge eines Zusammenspiels von exogenen Einflussfaktoren und einer in der Regel ererbten genetischen Disposition sind. Die genetische Basis wiederum ist polygen, geht also auf eine Beteiligung vieler Gene zurück. Nach diesem Modell sind folglich viele Gene mit individuell kleinen Beiträgen involviert. Klassisches Beispiel ist die KHKKoronare Herzkrankheit (KHK)Einflussfaktoren, exogene. Exogene Einflussfaktoren wie Adipositas, Rauchen und Bewegungsmangel sind als Risikofaktoren gut bekannt. Weitere KHK-Risikofaktoren wie Diabetes und Hypertonie stellen gewissermaßen ein Bindeglied zwischen rein genetischen und exogenen Einflussfaktoren dar (Kap. 78.1).
Ergebnisse klassischer Methoden der Genetik wie Familien- und Zwillingsstudien liefern sehr plausible Belege für die Bedeutung genetischer Einflussfaktoren. Es ist gut belegt, dass erstgradig Verwandte (Kinder, Geschwister, Eltern) gegenüber der Normalbevölkerung erhöhte Erkrankungsrisiken für die klassischen Volkskrankheiten aufweisen. Die höchsten Risiken (Konkordanzraten) tragen eineiige Zwillingsgeschwister, welche die gleichen Erbanlagen tragen. Diese Beobachtungen führten dann auch zum Konzept der
HeritabilitätHeritabilität (
Kap. 3.2.2), die den genetisch bedingten Anteil der Varianz eines phänotypischen Merkmals beschreibt. Für alle genannten Krankheiten wurde eine Vielzahl von Risikogenen identifiziert.
3.1.5
„The case of the missing heritability“
Mit dieser Überschrift hat
Mahar (2008) in einem Editorial der Zeitschrift
Nature die insgesamt enttäuschenden Ergebnisse von Assoziationsstudien thematisiert. Aktuelle genomweite Assoziationsstudien (GWAS)
Genomweite Assoziationsstudien (GWAS) zur Identifizierung von Genen, die z. B. für die Entstehung von Diabetes oder für die Körpergröße verantwortlich sind, lieferten nicht die erwarteten Ergebnisse. Es zeigte sich, dass die Beiträge der identifizierten Gene an der Entstehung der Krankheiten bzw. Merkmale sehr klein und damit die Zahl der beteiligten Gene sehr groß sein muss. Diese Ergebnisse waren eher ernüchternd und haben die in den letzten Jahren zunehmend aufkommende Skepsis an der tatsächlichen Bedeutung von Genveränderungen, die als Mutationen, zumindest aber als Varianten eines Gens dessen Wirksamkeit beeinflussen und für die jeweiligen Erkrankungen ursächlich von Bedeutung sind, erneut unterstrichen.
Einer der zahlreichen denkbaren Erklärungen für die missing heritability sind epigenetische Veränderungen der GenaktivitätGenaktivitätmissing heritability, die nicht auf eine Veränderung der DNA zurückgehen; sie steuern vielmehr die Aktivitäten von Genen. EpigenetischeEpigenetik/epigenetische Mechanismenmissing heritability Mechanismen können in Familien- und Zwillingsstudien von solchen, die auf Veränderungen der DNA selbst beruhen, nicht unterschieden werden. Mechanismen, welche die Aktivität von Genen beeinflussen und die an die nächste Generation weitergegeben werden können, bekommen für das Verständnis von der Entstehung von Volkskrankheiten daher besondere Bedeutung.
3.1.6
Beobachtungen epigenetischer Mechanismen bei Tieren
Bereits in den 1970er-Jahren wurden Hungerexperimente an trächtigen Ratten durchgeführt, welche die Bedeutung der EpigenetikEpigenetik/epigenetische MechanismenTransgenerationseffekte belegen. Die Experimente zeigen erstens, dass junge Ratten, deren Mütter in der Schwangerschaft mangelernährt waren, ebenfalls wieder unterernährt waren, und darüber hinaus zweitens, dass dies in abgeschwächter Form auch für die Nachfahren folgender Generationen (TransgenerationseffektTransgenerationseffekte) galt.
In anderen Experimenten konnte gezeigt werden, dass Ratten, die über ein aktives (demethyliertes) Agouti-Gen verfügen, eine Art metabolisches SyndromMetabolisches SyndromEpigenetik entwickelten und eine deutlich geringere Lebenserwartung aufwiesen. Die Tiere sind an ihrer gelben Fellfarbe erkennbar. Die Untersuchungen des Agouti-Phänotyps liefern mehrere wichtige Erkenntnisse:
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Epigenetische Mechanismen steuern die Aktivität eines Gens, das für ein Krankheitsbild verantwortlich ist.
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Der Phänotyp war über mehrere Generationen „vererbbar“.
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Die Verfütterung von Substanzen, die das Methylierungsmuster beeinflussen können (z. B. Folsäure), konnte den Methylierungsstatus verändern, also gewissermaßen umkehren und damit den Phänotyp beeinflussen.
Die Gabe sog. endokriner DisruptorenDisruptoren, endokrineEndokrine Disruptoren (VinclozolinVinclozolin) in der SchwangerschaftSchwangerschaftendokrine Disruptoren an trächtige Tiere führte zu Fertilitätsstörungen der Jungen, aber auch zu entsprechenden Veränderungen in den nächsten Generationen. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass infolge der Vinclozolin-Gabe die Expression einer sehr großen Anzahl von Genen, u. a. auch solchen, die im ZNS Bedeutung haben (z. B. Comt, BndF, DrD2), hirnareal- und geschlechtsspezifisch verändert waren. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass das anxiety-like Verhalten verändert war. Wichtige Erkenntnisse sind:
In viel beachteten Experimenten konnten
Weaver et al. (2004) zur molekularen Aufklärung einer seit Langem bekannten verhaltensbiologischen Beobachtung bei der Ratte beitragen, wonach das mütterliche Pflegeverhalten das spätere Verhalten der Jungtiere beeinflusst. Diejenigen Tiere, die ausgiebige Zuwendung
(Licking und
Grooming) in der Neugeborenenperiode erfahren haben, wuchsen zu selbstbewussten Tieren auf, während die vernachlässigten Tiere ängstlich waren. Dieser Mechanismus korreliert mit epigenetischen Veränderungen des
Glukokortikoid-RezeptorsGlukokortikoid-RezeptorenMethylierungsstatus. Die umsorgten Tiere zeigten einen geringeren Methylierungsstatus und damit eine erhöhte Expression des Glukokortikoid-Rezeptors als die vernachlässigten Tiere, was wiederum zu verminderten Glukokortikoidspiegeln führt. Es konnte gezeigt werden, dass das Methylierungsmuster durch spätere intensive Zuwendung veränderbar, also durch Verhalten prinzipiell beeinflussbar war. Ebenso gibt es Hinweise für eine Änderung des Methylierungsstatus durch die Gabe chemischer Substanzen.
Die Bedeutung der mütterlichen Zuwendung für die Entwicklung des Hippokampus konnte in sog. FremdpflegeFremdpflege-Experimente-(Crossfostering-)Experimenten gezeigt werden. Die HippokampusentwicklungHippokampusEntwicklung von Jungtieren, die nicht von ihren leiblichen Müttern, stattdessen aber von Fremdmüttern intensiv umsorgt wurden, entsprach der derjenigen Jungtiere, die von ihren leiblichen Müttern selbst intensiv umsorgt worden waren. Diese Befunde unterstreichen eindrucksvoll die Bedeutung der Auswirkungen von Verhalten auf die Hirnfunktion und das Stressverhalten der Tiere. Das PflegeverhaltenEpigenetik/epigenetische MechanismenPflegeverhalten beeinflusste jedoch das epigenetische Muster vieler weiterer Gene und verweist damit auf dessen komplexe Folgen. Nicht nur KortisolKortisolepigenetische Steuerung, sondern andere Hormone wie OxytocinOxytocinepigenetische Steuerung und VasopressinVasopressinepigenetische Steuerung, die Einfluss auf das Sozialverhalten haben, unterliegen der epigenetischen Steuerung. Es existieren Befunde, dass auch die Psyche und Verhalten beeinflussende Serotonin- und Dopaminspiegel einer epigenetischen Regulation unterliegen.
Diese und weitere Beobachtungen bei Tieren zeigen:
Resümee
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Epigenetische MechanismenEpigenetik/epigenetische MechanismenBedeutung sind für die differenzielle Regulation von Genen verantwortlich, die mit einem morphologischen, aber auch Verhaltensphänotyp spezifisch korreliert sein können.
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Epigenetische Muster einzelner Gene können wahrscheinlich an nachfolgende Generationen vererbt werden, ohne dass diese Vererbung auf Änderungen der DNA basiert, wobei die genauen Mechanismen bisher nicht aufgeklärt sind.
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Epigenetische Mechanismen können geschlechtsspezifisch wirken. Rund 100 Gene unterliegen einem genomischen Imprinting.
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Die epigenetischen Muster können exogenen Einflüssen (Ernährung, Verhalten) unterliegen.
3.1.7
Hinweise für die Bedeutung epigenetischer Mechanismen beim Menschen
Der Nachweis der äußerst komplexen epigenetischen MechanismenEpigenetik/epigenetische Mechanismenbeim Menschen beim Menschen erweist sich als äußert schwierig, da der Mensch über hochkomplexe Regelkreissysteme verfügt, die in der Lage sind, flexibel auf verschiedenartige Einflüsse zu reagieren. Schlüssel für das Studium und Verständnis epigenetischer Basismechanismen waren vor allem seltene Syndrome und Krankheitsbilder, welche die Aufklärung epigenetischer Mechanismen an umschriebenen genomischen Bereichen bzw. Einzelgenen (z. B. Prader-Willi-, Angelman- und Silver-Russell-SyndromSilver-Russell-Syndrom) erlaubten.
Die Regulation von Genen unterliegt äußerst dynamischen Prozessen. Genfunktionen sind in komplizierte Signalwege eingebunden, die wiederum vielfältigen Einflüssen unterliegen. Unser Wissen über die Bedeutung der Epigenetik für die Krankheitsentstehung beim Menschen ist bisher insgesamt gering. Es ist jedoch aufgrund der weltweiten intensiven Forschung zu erwarten, dass wir in naher Zukunft hierüber sehr viel mehr wissen werden. Bisher existieren jedoch bisher erst relativ wenige systematische Studien, welche die Bedeutung der Epigenetik für die Krankheitsentstehung beim Menschen zweifelsfrei belegen.
3.1.8
Ernährung und gesundheitliche Risiken für Nachkommen
Die umfangreichen Untersuchungen der Folgen des holländischen Hungerwinters 1944/45 werden stetig fortgeführt und sind eine Quelle wichtiger Erkenntnisse über dessen Langzeitfolgen geworden. In einem definierten Zeitraum einer klar umschriebenen Region erhielten die dort lebenden hungernden Menschen, darunter auch viele Schwangere, infolge der deutschen Blockade durchschnittlich nicht mehr als 1 000 kcal/Tag. In zahlreichen Studien konnte gezeigt werden, dass die Nachfahren der Mütter, die in der Schwangerschaft gehungert hatten, ein erhöhtes Risiko für niedriges Geburtsgewicht, Diabetes, KHK, Brustkrebs, Schizophrenie, aber auch niedrige Geburtsgewichte für die Enkelkinder der hungernden Mütter aufwiesen. Die vereinfachte allgemeine Erklärung hierfür ist, dass diejenigen Mechanismen, die den unterversorgten Kindern das Überleben sichern sollen, im Laufe des Lebens ein Risiko darstellen. Die erhöhte Aktivität des autonomen Nervensystems, die im Laufe des Lebens nicht angemessen reduziert wird, erweist sich als Risiko. Inzwischen ist durch eine Fülle von Daten die Gültigkeit dieser im Tierversuch bereits vor vielen Jahren gemachten Beobachtung auch beim Menschen belegt.
Pembrey et al. (2006) haben in unterschiedlichen Studien den Einfluss von elterlichem bzw. großelterlichem Ernährungszustand
Ernährung, Krankheitsrisiken auf die Risiken von Kindern und Enkelkindern untersucht. Dies erfolgte in unterschiedlichen Kollektiven. In einer kleinen, drei Generationen umfassenden Kohorte von Menschen des nordschwedischen Fischerdorfs Överkalix wurde aus Daten der gut dokumentierten jeweiligen Lebensmittelpreise indirekt auf das jeweilige Nahrungsangebot und damit auf die Ernährungslage der Vorfahren geschlossen. Die Studie zeigte, dass dann, wenn das Nahrungsangebot der Väter während der Phase der langsamen Wachstumsgeschwindigkeit (SGP) vor dem Pubertätswachstumsschub knapp war, das kardiovaskuläre Risiko der Kinder niedrig (Odds-Ratio, OR 0,42) war. Das Diabetesrisiko stieg, wenn das Nahrungsangebot der paternalen Großväter während der SGP groß war (OR 4,1).
Beobachtungen über die rasante Zunahme des Körpergewichts, aber auch eine Zunahme der Körpergröße sind durch exogene Einflüsse allein nur schwer zu erklären. Die beteiligten Gene können sich in wenigen Generationen nicht wesentlich verändert haben. Die Epigenetik könnte hier einen ergänzenden Erklärungsansatz liefern, wofür es – wie oben dargelegt – bereits erste Hinweise gibt.
3.1.9
Epigenetik und Gehirn: vielfältige Hinweise für ihre bedeutende Rolle
Gehirnepigenetische MechanismenDie Bedeutung der Epigenetik für vielfältige Hirnfunktionen wird zunehmend deutlicher. Es existieren Belege dafür, dass epigenetische Mechanismen für sehr unterschiedliche physiologische Funktionen, aber auch für pathologische Zustände zentrale Bedeutung besitzen. Es konnte gezeigt werden, dass epigenetische Mechanismen für die GedächtnisfunktionGedächtnisfunktion, epigenetische Mechanismen wichtig sind. Mit steigendem Alter wird eine zunehmende Anzahl von Genen methyliert und damit praktisch funktionell ausgeschaltet, während wenige andere demethyliert und damit aktiviert werden. Es gibt Hinweise dafür, dass epigenetische Mechanismen auch in der Entstehung der Alzheimer-KrankheitAlzheimer-Demenzepigenetische Mechanismen involviert sind. Neben Einflüssen der Histonacetylierung ist auch die Methylierung von Bedeutung. Die Hypomethylierung der Promotor-Region des Präsenilin-1-Gens führt zu einer erhöhten Genexpression und damit zu erhöhter Amyloidproduktion. Hieraus ergeben sich interessante therapeutische Ansätze.
Daneben existieren erste Hinweise, dass epigenetische Mechanismen an der Entstehung von PsychosenPsychosenepigenetische Mechanismen und AutismusAutismusepigenetische Mechanismen beteiligt sind, wobei es sich hierbei ätiologisch sicher um sehr heterogene Krankheitsbilder handelt.
Epigenetische MechanismenEpigenetik/epigenetische MechanismenGeschlechtseinfluss können einem Geschlechtseinfluss unterliegen und wären entgegen der bisher postulierten Lehrmeinung auch als Transgenerationseffekte erblich. Die möglichen Konsequenzen dieser Befunde sind heute noch nicht vollständig abzusehen; hier dürften therapeutische Optionen besondere Bedeutung bekommen.
Nachfolgend sollen wenige ausgewählte Forschungsergebnisse zusammengefasst werden.
Mangel an elterlicher Zuwendung
McGowan et al. (2009) suchten nach einem geeigneten Untersuchungskollektiv, um zu überprüfen, ob die bei Ratten erhobenen Befunde auch für den Menschen Gültigkeit haben. Es sollte untersucht werden, ob die eindrucksvollen Befunde der Folgen der mütterlichen Umsorgung von neugeborenen Ratten (
Kap. 3.1.6) auch prinzipiell für den Menschen gelten. Die Arbeitsgruppe sah in Suizidopfern, die als Kinder missbraucht wurden, ein „Modell“ für einen extremen Mangel an kindlicher Fürsorge. Sie untersuchten an Hirnpräparaten den Methylierungsstatus des Glukokortikoid-Rezeptors
Glukokortikoid-RezeptorenMethylierungsstatus des Hippokampus im Vergleich zu einer Kontrollgruppe von Menschen mit anderen Todesursachen sowie von Menschen, die sich suizidiert hatten, jedoch nicht missbraucht worden waren. Es zeigte sich für die Autoren fast erwartungsgemäß, dass die Gruppe der missbrauchten Suizidopfer im Vergleich zu den anderen Gruppen einen stark erhöhten Methylierungsstatus des Glukokortikoid-Rezeptors aufwiesen. Diese wichtige Arbeit bestätigt, dass die an den Versuchen bei Ratten erhobenen Befunde auch beim Menschen nachzuweisen sind.
Auch die Hormone VasopressinVasopressin und OxytocinOxytocin haben für die soziale Bindungsfähigkeit und die Emotionalität Bedeutung. Im Tierversuch konnte gezeigt werden, dass dieses System durch mütterliche Zuwendung beeinflusst wurde. Es ist anzunehmen, dass dies auch für den Menschen gilt. Eine Fülle von epigenetischen Befunden bei SuizidopfernSuizidalitätepigenetische Mechanismen kann Beleg für den Einfluss äußerer Einflussfaktoren auf die Hirnfunktion sein. Auch wenn die dargestellten Zusammenhänge eine starke Vereinfachung weitaus komplexerer Prozesse darstellen dürften, deren Aufklärung bisher nur sehr unvollständig erfolgt ist, können die Ergebnisse bereits heute als Proof of Principle verstanden werden.
Traumatisierung
Trauma(tisierungen)epigenetische MechanismenDie dargestellten Ergebnisse legen nahe, dass traumatische Ereignisse Einfluss auf unser epigenetisches Muster haben können. Die aus der Traumaforschung bekannten Beobachtungen könnten sich jetzt auch experimentell erschließen. Die Brutpflegestudien können bereits in dieser Richtung gedeutet werden. Vielfältige Studien zu Fragen von Risikofaktoren für die Entwicklung einer Psychose bei Kindern von Müttern nach Kriegserlebnissen bzw. Bombenangriffen (z. B. Holocaust, israelisch-arabischer Krieg) und unerwünschten Schwangerschaften bzw. traumatischen Schwangerschaftserlebnissen könnten hier neue Erklärungen finden.
Das erhöhte SchizophrenierisikoSchizophrenieepigenetische Mechanismen für Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft hungern mussten, wurde nicht nur in Nachuntersuchungen zum holländischen Hungerwinter gezeigt. Ähnliche Daten konnten auch im Zusammenhang mit den großen Hungerkatastrophen in China zwischen 1959 und 1961 gezeigt werden. Die relativen Erkrankungsrisiken waren jeweils etwa zweifach erhöht. In einer umfangreichen dänischen Studie konnte gezeigt werden, dass für Kinder ein erhöhtes Schizophrenierisiko (RR 1,67) bestand, wenn ein naher Verwandter im ersten Trimenon plötzlich verstarb. Diese Daten stimmen mit Beobachtungen ganzer Bevölkerungen überein, für deren Nachfahren ebenfalls erhöhte Erkrankungsrisiken nach Stress-Situationen gezeigt werden konnten. Auch hier kann die Epigenetik einen plausiblen Erklärungsmechanismus anbieten.
Es konnte weiterhin gezeigt werden, dass das Vorliegen bestimmter Risikoallele eines bestimmten Gens (FK506 Bindungsprotein 5-Gen) für die Entwicklung einer posttraumatischen BelastungsstörungPosttraumatische Belastungsstörung (PTBS)epigenetische Mechanismen disponierend und im Sinne einer genetisch bedingten erhöhten Vulnerabilität wirkt. Ähnliche Zusammenhänge werden für Varianten des MAOA-GenMAOA-Gens im Zusammenhang mit der Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung von Störungen des SozialverhaltensSozialverhaltensstörungenMAOA-Gen nach kindlicher Traumatisierung diskutiert.
Drogenabhängigkeit
Drogenabhängigkeitepigenetische MechanismenEine zunehmende Zahl von Befunden legt auch für den Menschen nahe, dass epigenetische Mechanismen an der Entstehung der Drogensucht beteiligt sind. Neben erblichen Dispositionen (z. B. die Veränderung der Funktion von Enzymen, die bei Entgiftungsreaktionen beteiligt sind) können auch epigenetische Mechanismen das Suchtverhalten beeinflussen, die in der Erforschung der Pathogenese von SuchtverhaltenSuchtverhaltenPathogenese in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses rücken. Es konnte gezeigt werden, dass sowohl der akute als auch der chronische Kokain-, aber auch Alkoholkonsum die epigenetische Regulation von Genen beeinflussen kann.
Folgestudien des holländischen Hungerwinters haben gezeigt, dass Kinder, deren Mütter im ersten Schwangerschaftsdrittel hungerten, ein erhöhtes Risiko tragen, drogenabhängig zu werden. Vor dem Hintergrund des verbreiteten weltweiten Hungers wird die Bedeutung dieser Befunde von den Autoren ausdrücklich hervorgehoben.
In einer Studie, die auf einer im englischen Avon sehr detailliert prospektiv erfassten Gruppe von 14 341 Personen beruht, die zwischen dem 1.4.1991 und dem 31.12.1992 geboren wurden, konnte gezeigt werden, dass Enkel, deren Großväter vor dem 9. Lj. mit dem Rauchen begonnen hatten, eher übergewichtig waren. Die Avon-Kohorte bietet in der Zukunft sicher eine ideale Basis für die Analyse von TransgenerationseffektenTransgenerationseffekte.
3.1.10
Bedeutung und Ausblick
Die eher ernüchternden Ergebnisse der klassischen Genetik auf der Suche nach Veränderungen der DNA-Sequenz als Erklärung für die Entstehung bestimmter Eigenschaften, Verhaltensmuster oder Volkskrankheiten und die wichtigen Befunde der Epigenetik lassen den Schluss zu, dass epigenetische Mechanismen große Bedeutung haben.
Dass hierbei auch unser Verhalten die Regulationsmechanismen von Genen beeinflussen kann, liefert bisher noch nicht absehbare Erklärungsansätze für unser Verständnis der Entstehung von Erkrankungen und gleichzeitig gänzlich neue Ansätze für die Erforschung der Wirkung von (Psycho-)Therapien. Zugleich werden Mechanismen greifbar, über die das Wechselspiel aus Umwelt und Individuum über den aktuellen Einfluss hinausgehende Auswirkungen entfalten kann.
Die Beobachtung, dass epigenetische Muster wie der Methylierungsstatus einzelner Gene möglicherweise an Kinder weitergegeben werden können, kann eine Brücke zwischen Vererbung und Wirkung exogener Einflüsse bilden. Die Epigenetik als dynamisches System kann ein Bindeglied zwischen Anlage und Umwelt darstellen und liefert wesentliche neue Gesichtspunkte für das Verständnis von Evolutionsmechanismen.
Die Erkenntnisse der Epigenetik lassen Elemente der Theorie von Lamarck (1744–1829), die auch aus ideologischen Gründen gänzlich abgelehnt wurde und in Vergessenheit geraten ist, heute in einem anderen Licht erscheinen. Lamarck ging davon aus, dass evolutionäre Veränderungen erworben sind. Diese während des Lebens erworbenen Veränderungen haben das Ziel, die Überlebenschancen zu erhöhen, werden genetisch codiert und können an Kinder weitergegeben werden.
Die Erforschung epigenetischer Mechanismen bei der Entstehung von VolkskrankheitenVolkskrankheiten, epigenetische Mechanismen steht erst am Anfang. Es ist sicher zu früh, generelle Schlussfolgerungen aus den bisherigen Befunden zu ziehen. Die Erforschung ist sehr komplex und bedarf gänzlich neuer Strategien. Neben molekularen Befunden kommt der Definition des jeweiligen Phänotyps, aber auch biografischen Befunden der Betroffenen und ihrer Vorfahren besondere Bedeutung zu.
Epigenetik muss im Kontext der Erkenntnisse der Evolutionslehre, der klassischen Genetik und der Umweltforschung gesehen werden. Sie wird das Wissen dieser Disziplinen nicht ersetzen; vielmehr bietet sie einen Schlüssel für die Verknüpfung ihrer Erkenntnisse und bietet gänzlich neue Interpretationsmöglichkeiten.
Epigenetische Forschung wird entgegen vorschneller Äußerungen insbesondere die Erkenntnisse der Humangenetik nicht ersetzen. Epigenetik ist ohne die Kenntnis der Funktionen von Genen nicht denkbar, sie baut vielmehr darauf auf. Hinweise dafür, dass auch das Verhalten die Regulation von Genen nachhaltig beeinflussen kann, eröffnen ganz neue Dimensionen für die Erforschung psychischer Krankheiten.
Sollten epigenetische Mechanismen besser verstanden und einzelnen Krankheiten genauer zugeordnet werden können, wird vorstellbar, dass sie sich langfristig auch gezielt beeinflussen lassen. Es existiert eine größere Anzahl von Medikamenten, die epigenetische MechanismenEpigenetik/epigenetische MechanismenMedikamenteneinfluss beeinflussen können. Sie wurden vor allem zur Therapie onkologischer Krankheiten entwickelt. Wenn es möglich werden sollte, epigenetische Veränderungen exakt zu interpretieren und die Mechanismen ihrer Entstehung zu analysieren, könnten diese Veränderungen ein Element für die Beurteilung eines möglichen Therapieerfolgs sein. Sollten sich derartige Befunde im vermuteten Ausmaß weiter erhärten lassen, könnte die Epigenetik auch einen zentralen Platz in der biologischen Psychologie, Psychiatrie und Psychosomatik einnehmen.
In einer langfristigen Perspektive könnten epigenetische Muster diagnostische Bedeutung erhalten oder sogar Anhaltspunkte für Therapiefortschritte liefern. Die beinahe unübersehbare aktuelle Literatur zum Thema Epigenetik lässt jedoch ahnen, wie komplex die möglichen Vorgänge und Interaktionen sind.