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Prävalenz von RückenschmerzenRückenschmerzenPrävalenz (RS) in Deutschland (Daten aus Schmidt et al. 2009)
[L231]

Zusammenspiel von schützenden und belastenden Rückenschmerzenschützende/belastende FaktorenFaktoren bei Auftreten und Persistenz von RückenschmerzenRückenschmerzenpersistierende
(nach Keel et al. 1996) [L106]

Chronische RückenschmerzenRückenschmerzenTeufelskreis können in einen Teufelskreis von Schonung und Depressivität führen, der sich wiederum negativ auf die Schmerzen auswirkt.Rückenschmerzenchronischer Verlauf
[L106]

Beispiel für eine kognitive StrategieRückenschmerzenkognitive Verhaltenstherapie
Situation: „Mein Rücken schmerzt, ich kann mich kaum bücken; auch im Liegen tut es weh“ | |
Ungünstige Reaktionen | Günstige Reaktionen |
Es sind schreckliche Schmerzen. | Ich habe wieder diese Schmerzen, es spannt. |
Ob ein Nerv eingeklemmt ist? | Ich bin wohl verspannt, weil ich diese Reise vor mir habe und noch vieles vorbereiten muss; ich habe Angst, zu spät zu kommen. |
Es wird immer schlimmer. | Wenn es mir gelingt, mich zu entspannen, wird der Schmerz erträglicher werden. |
Ich muss zum Arzt. | Ein warmes Bad und ein paar Entspannungsübungen werden helfen. |
Ich muss mich schonen. | Ich sollte wieder regelmäßig schwimmen gehen. |
Risikofaktoren für die Chronifizierung von Rückenschmerzen (Yellow Flags)
Schmerzsymptomatik (Schmidt 2005; Keel 2007a, BÄK 2013)
-
•
Frühere Schmerzepisoden1 Yellow Flags, chronische Rückenschmerzen Rückenschmerzen Chronifizierung, Risikofaktoren Kreuzschmerzen Chronifizierung, Risikofaktoren
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Schmerzausstrahlung ins Bein (Jellema 2007)
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Schmerzen in anderen Körperregionen1
Andere Symptome
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Schlechter allgemeiner Trainingszustand2
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•
Allgemein schlechte Gesundheit2
-
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Starker Nikotinkonsum1
Psychosoziale Faktoren
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Niedriges Bildungsniveau 1
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Depressivität2Rückenschmerzenpsychosoziale Faktoren
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Weibliches Geschlecht1
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Disstress1
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Somatisierung1
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Ungünstige Selbstprognose2
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•
Ungünstiges Coping: Katastrophisieren1
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Fear-Avoidance Beliefs1 (Angstvermeidungsüberzeugungen)
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Schmerzbezogene Kognitionen: Gedankenunterdrückung (thought suppression)1
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Überaktives Schmerzverhalten: beharrliche Arbeitsamkeit (task persistence), suppressives Schmerzverhalten1
Arbeitssituation
-
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Unqualifizierte RückenschmerzenArbeitssituationArbeit1
-
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Geringes Einkommen1
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Unzufriedenheit mit der Arbeit1
-
•
Monotone Arbeit1
-
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Stress1
-
•
Geringe soziale Unterstützung bei Arbeit1
-
•
Vibrationen, schweres Heben, ungünstige Körperhaltungen1
Multimodale interdisziplinäre Behandlungsprogramme
Physiotherapie/medizinische Trainingstherapie, Schmerzedukation
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•
Anleitung zur RückenschmerzenPhysiotherapieSelbstbehandlung mit Übungen für Beweglichkeit (Dehnübung), Kraft (v. a. Rumpfmuskulatur), Ausdauer (allg., Aerobic), Koordination (Balance, Körpergefühl)
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Informationen, Instruktionen („Rückenschule“, Einsatz der Übungen, ergonomische Beratung)
Psychotherapie
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Entspannungsverfahren (RückenschmerzenEntspannungsübungenmeist progressive RückenschmerzenMuskelrelaxation, progressive nach JacobsonMuskelrelaxation, autogenes Rückenschmerzenautogenes TrainingTraining, RückenschmerzenBiofeedbackBiofeedback; RückenschmerzenKörperwahrnehmungsschulungKörperwahrnehmungsschulung, RückenschmerzenKörperwahrnehmungsschulung, Atemübungen, Achtsamkeitstraining, Selbsthypnose, Autosuggestionen etc.)
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VerhaltenstherapieVerhaltenstherapieRückenschmerzenRückenschmerzenVerhaltenstherapie: Abbau von Verstärkerbedingungen (meist Paartherapie oder stationäre Programme zur Modifikation von Schmerzverhalten)
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Kognitive RückenschmerzenVerfahren:
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–
Wahrnehmungsschulung
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–
Korrektur ungünstiger Denkmuster oder Copingstile (v. a. Katastrophisieren, Vermeidungsverhalten wie fear avoidance beliefs)
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–
Verbesserung der Schmerzbewältigung
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–
Neudefinition von Zielen, Pacing-Techniken (RückenschmerzenPacingPacingVermeidung von Überforderung)
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-
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Ablenkstrategien, Genusstraining
Tendenz zur Selbstüberforderung („Schmerzpersönlichkeit“)
Schmerzpersönlichkeit
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Leistungsorientierung: SchmerzpersönlichkeitSelbstüberforderungRückenschmerzenSelbstüberforderungRückenschmerzenSchmerzpersönlichkeitPerfektionismus, Verausgabung, wenig Erholung
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Selbstwertprobleme: Abhängigkeit von der Anerkennung der eigenen Leistung durch andere, Selbstentwertungstendenz
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•
Vermeidung von Abhängigkeit: forcierte Selbstständigkeit; Mühe, Hilfe zu beanspruchen
-
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Aggressionshemmung: geringes Durchsetzungsvermögen, Überanpassung, Harmonisierungsbedürfnis, konfliktscheu
-
•
AlexithymieAlexithymieSelbstüberforderungstendenz: die Unfähigkeit, vor allem unangenehme Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken
Rücksicht auf den Rücken – Rücksicht auf sich selbst
Rücken schützen
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•
Schwerarbeit dosieren
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•
Konstante Haltungen meiden
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•
Bewegung im Alltag, Sport
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•
Pausen, Sport, Entspannungsverfahren
Stress abbauen
-
•
Zeit nehmen für sich selbst
-
•
Neinsagen lernen
-
•
Sich durchsetzen lernen
-
•
Konfliktfähiger werden
-
•
Perfektionismus abbauen
Lebens- und Vorgeschichte
-
•
Kindheitssituation: Schmerzverhaltenprägende Faktoren
-
–
Mangel an RückenschmerzenLebens- und VorgeschichteLiebe, Zuwendung; Strenge, Strafen, Schläge
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–
Frühes hartes Arbeiten; Missbrauch (körperlich, sexuell)
-
–
Armut, Entbehrungen; Elternverlust, Heimkinder
-
-
•
Schul- und Berufsbildung
-
•
Frühere Krankheiten, Unfälle; Lebensereignisse
Rückenschmerzen
-
72.1
Definition und Klassifikation799
-
72.2
Epidemiologie799
-
72.3
Symptomatik800
-
72.4
Verständniskonzept: Ätiologie, Pathogenese, Risikofaktoren800
-
72.5
Diagnose und Differenzialdiagnose802
-
72.6
Therapiemethoden802
-
72.7
Verlauf, Prognose807
Patientengeschichte
Ein 38 Jahre alter bei einem Maschinenhersteller angelernter Betriebsmechaniker leidet seit Jahren unter wiederholten Episoden von Kreuzschmerzen. Umfangreiche Abklärungen haben nur geringe degenerative Veränderungen ergeben, die das Ausmaß der Beschwerden nicht erklären können.
Er arbeitet seit 18 Jahren in derselben Firma, wo er sehr geschätzt wird. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder im Alter von 7 und 11 Jahren. In seiner Freizeit war er ein aktiver, guter Fußballspieler.
Anfangs besserten sich die Schmerzen nach Physiotherapie und nach der Einnahme von Schmerzmedikamenten (Ibuprofen etc.); auch eine 4-wöchige Intensivbehandlung in einer Rehabilitationsklinik half vorübergehend, und der Pat. führte die erlernten Gymnastikübungen und das Krafttraining zu Hause fort. Wegen weiter zunehmender Schmerzen konnte er schließlich nur noch halbtags arbeiten und bekam eine halbe Invalidenrente zugesprochen.
Anfangs gelang es ihm zwar, unter Einfluss einer vorwiegend kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie (Information, Schmerz- und Stressbewältigung) seine Überhilfsbereitschaft und sein berufliches Überengagement abzubauen (obwohl er immer noch dazu neigte, trotz zunehmender Schmerzen weiterzuarbeiten) und seinen Schmerz, die wachsende Behinderung sowie die wechselnde Arbeitsleistung weniger ängstlich als etwas Vertrautes anzusehen. Eine weitere Zunahme der Schmerzen ließ sich aber – auch durch erneute somatische Interventionen mit Medikamenten, Infiltrationen, Physiotherapie – nicht verhindern. Immer öfter musste er bereits nach wenigen Stunden den Arbeitsplatz verlassen, um sich zu Hause hinzulegen. Die hohen Dosen von Schmerzmedikamenten (Opiate, trizyklische Antidepressiva, Antiepileptika) beeinträchtigten die Konzentration so stark, dass er schließlich voll arbeitsunfähig wurde. Der Arbeitgeber hielt trotzdem zu ihm, war froh, wenn er auch nur stundenweise zur Arbeit kam, bat ihn aber auch, zwei andere Mitarbeiter in seinen Tätigkeitsbereich einzuführen. Schwierige Servicearbeiten wurden ihm wegen seiner Erfahrung, Zuverlässigkeit und Exaktheit weiterhin überlassen.
72.1
Definition und Klassifikation
72.2
Epidemiologie
72.3
Symptomatik
72.4
Verständniskonzept: Ätiologie, Pathogenese, Risikofaktoren
72.4.1
Schmerzwahrnehmung: zentrale Sensibilisierung, Neuromatrix
Eine zentrale Sensibilisierung Sensibilisierungzentrale, RückenschmerzenRückenschmerzenSensibilisierung, zentraledürfte auch im Fallbeispiel eine Rolle gespielt haben, wie aufgrund des hohen Bedarfs an Schmerzmodulatoren (Schmerzmodulatoren, RückenschmerzenRückenschmerzenSchmerzmodulatorenAmitriptylin und Gabapentin) vermutet werden kann.
72.4.2
Schmerz und Spannung, Schonung und Training
72.4.3
Affektive Beeinflussung des Schmerzes: Angst und Depression
Die depressiven Symptome sowie Angst RückenschmerzenDepressionRückenschmerzenAngststörungenAngst(störungen)RückenschmerzenvorDepression/depressive StörungenRückenschmerzen Schmerzprovokation durch körperliche Belastung und entsprechendes Vermeidungsverhalten (avoidance beliefs) Vermeidung(sverhalten)RückenschmerzenRückenschmerzenVermeidungsverhaltenverstärken die Schmerzwahrnehmung (Abb. 72.3) und fördern die Chronifizierung (Asmundson et al. 1997; Geisser et al. 1994).
72.5
Diagnose und Differenzialdiagnose
72.6
Therapiemethoden
72.6.1
Wirksamkeit der einzelnen Verfahren (evidenzbasiert)
Medikamente zur Schmerzlinderung
Manipulationen
Funktionelle Bewegungstherapie
Medizinische Trainingstherapie
Rückenschule
Ergonomische Beratung
Multimodale interdisziplinäre Behandlungsprogramme (inkl. Psychotherapie)
72.6.2
Integratives Behandlungskonzept
Mit dem Schmerz leben
Umgang mit Widerstand
Rücksicht auf den Rücken – Rücksicht auf sich selbst (Box 72.4)
Zugang über das Symptom Schmerz
Information über Schmerz
72.6.3
Kognitive Schmerzbewältigungstechniken (Verhaltenstherapie)
Kognitive Verhaltenstherapie
Entspannungsbehandlung
Gruppenbehandlung
Patientengeschichte (Forts.)
RückenschmerzenFallbeispielErst die nach der Teilberentung eingeleitete psychodynamische PsychotherapiePsychotherapiepsychodynamische deckte die tragische Kindheitsgeschichte mit wiederholter „Verstoßung“ durch die Eltern und die anschließenden Ersatzeltern (Großmutter, Tante) auf und damit die Hintergründe des hartnäckigen Durchhaltens trotz zunehmender Schmerzen: Die Eltern waren aus Süditalien in die Schweiz ausgewandert und hatten ihn 2-jährig bei der Großmutter gelassen. Als diese krank wurde, brachte man ihn mit 4 Jahren zu einer Tante, die bereits fünf Kinder hatte und sich mit ihm zunehmend überfordert fühlte, weshalb er als 9-Jähriger von seinen Eltern zu seinen vier anderen Geschwistern in die Schweiz geholt wurde. Auch hier gab es – sowohl am Esstisch als auch im Familienauto – nur wenig Platz für ihn. Aus dauernder Angst vor erneuter Verstoßung entwickelte er sich zu einem sehr hilfsbereiten, überangepassten, gegen sich selbst harten Menschen, der niemandem zur Last fallen wollte. Am Arbeitsplatz machte er aus Angst vor Stellenverlust versteckt Erholungspausen auf der Toilette, wenn die Schmerzen unerträglich wurden. Er leistete unbezahlte Überstunden für Arbeitsvorbereitung oder Aufräumen, um sicherzustellen, dass man mit seinen Leistungen zufrieden war. Nur noch halbtags arbeitsfähig, fürchtete er dauernd die Entlassung und wagte angebotene Entlastungen von Schwerarbeit nicht anzunehmen. Seine große Angst, durch die Schmerzen behindert zu werden und anderen zu Last zu fallen, schränkte auch Freizeitaktivitäten und Ferienreisen ein. Dies beeinträchtigte auch seine Ehebeziehung. Vielleicht hatte deshalb die Ehefrau eine Außenbeziehung begonnen. Als der Pat. dies entdeckte, trennte sie sich abrupt von ihm. Sie brach den Kontakt zu den Kindern, die beim Pat. bleiben wollten, auf herzlose Weise ab. Erst rückblickend erkannte der Pat., wie kühl, egoistisch und unehrlich seine Frau gewesen war.
Die Aufarbeitung dieser Erlebnisse sowie seines Verhaltens als alleinerziehender Vater den Kindern gegenüber half ihm, auch seine eigene tragische Lebensgeschichte und seinen früheren und jetzigen Umgang mit sich selbst besser zu verstehen und endlich – leider allerdings erst nach Eintreten der vollen Berufsunfähigkeit – neue Verhaltensmuster (Abgrenzung, Hilfe beanspruchen, Perfektionismus ablegen, Versagensängste abbauen) zu erproben. Er versuchte eine Teilzeittätigkeit aufnehmen (z. B. als Betagtenbetreuer), doch scheiterte dies an der Unberechenbarkeit seiner Beschwerden und der geringen körperlichen Belastbarkeit (er konnte z. B. keinen Rollstuhl für längere Zeit schieben). In beschränktem Umfang konnte er dies auf privater Basis verwirklichen, was seine Stimmung deutlich verbesserte.
72.6.4
Psychodynamische Psychotherapie
Widerstände gegen Veränderungen
Tendenz zu Selbstüberforderung
Rolle der Kindheit
Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass diese Patienten nicht nur früh gelernt haben, sich viel abzuverlangen, sondern auch sehr viel Schmerz auszuhalten (Durchhalten u. a. durch Abspaltung oder Dissoziation; Hasenbring 1993; Keel 2015) und diesen erst (oft nur im medizinischen Setting) zeigen, wenn er nicht mehr aushaltbar ist. Da sie in Krankheit ein Zeichen von Schwäche oder gar Faulheit sehen (bzw. so behandelt wurden) und oft erlebt haben, dass ihr Schwachsein grausam missbraucht wurde, haben sie oft lange Zeit Mühe, sich Schwäche einzugestehen und therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
72.6.5
Praktische Umsetzung
Um Patienten mit einem hohen Chronifizierungsrisiko frühzeitig zu erfassen und die Behandlung kosteneffizient zu gestalten, ist ein systematisches Vorgehen nach evidenzbasierten Leitlinien (Übersicht in Waddell 2004; Keel et al. 2007a, b; BÄK 2013) ratsam. Eine Schulung von Hausärzten und Wirbelsäulenspezialisten anhand solcher Konzepte ist notwendig, wobei der praktischen Vermittlung von Fertigkeiten für die Gesprächsführung (Anamnese und nichtdirektive Beratung) große Bedeutung zukommt.
72.7
Verlauf, Prognose
Literaturauswahl
Arnold et al., 2014
Bundesärztekammer (BÄK), 2013
Kamper et al., 2014
Keel et al., 2007a
Martin et al., 2008
Ostelo et al., 2005
Pfingsten et al., 1997
Ramond et al., 2011
Schmidt and Kohlmann, 2005
Schmidt et al., 2007
Söllner and Schüßler, 2001
Waddell, 1998/2004