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Die Wassersüchtige. Dieses im Louvre ausgestellte Gemälde einer wassersüchtigen Patientin von Gerard Dou zeigt nicht nur die bis weit in die Neuzeit hinein fest etablierte Kunst der Urinbeschau, sondern gewährt auch einen Einblick in das Umfeld des ärztlichen Wirkens der damaligen Zeit: Die schwer kranke Patientin leidet zu Hause, umgeben von an der Pflege beteiligten Familienmitgliedern. So sanft die ärztliche Intervention auf diesem Gemälde aussieht, so wenig darf vergessen werden, dass ärztliche Übertherapie durch Abführmaßnahmen, Aderlässe und induziertes Erbrechen in diesem Zeitalter die Regel waren. Neben solchen vor-wissenschaftlichen Verfahren standen bereits im 18. Jahrhundert einige wenige hoch wirksame Medikamente zur Verfügung, wie etwa die in der Laienmedizin schon im Mittelalter in Kräutermischungen verwendete und 1785 von William Withering systematisch erforschte Digitalispflanze.
[J742]

Edward Jenner, seinen Sohn impfend: Noch vor der Entdeckung von Viren und Bakterien wurde das Prinzip der Impfung entdeckt. Die abgebildete Bronzeskulptur zeigt Edward Jenner, wie er seinen kleinen Sohn mit einer kuhpockenhaltigen Flüssigkeit zum Schutz gegen Pocken impft (Bronzeskulptur von Giulio Monteverde, 1873. Galleria Nazionale d'Arte Moderna, Rom). Obwohl Jenner das Verdienst der systematischen Erforschung des Impfprinzips zukommt, wurden Impfungen schon Jahrhunderte zuvor in der chinesischen Medizin eingesetzt, indem Hautkrusten von an milden Verlaufsformen von Pocken Erkrankten zermahlen und in die Haut bisher nicht Erkrankter eingeritzt wurden.
[J743]

Erwerbsunfähigkeitsrenten nach Diagnosegruppen. Psychische Erkrankungen haben die klassischen Berentungsursachen überholt. Auch unter den Berufstätigen hat sich die Zahl der mit Antidepressiva Behandelten in nur 10 Jahren verdoppelt – im Jahr 2009 erhielt im Schnitt jeder Berufstätige 8 Tage Medikamente zur Behandlung von Depressionen verordnet.
[L231]

Das Gesetz des rückläufigen Ertrags nach E. S. Fisher und H. G. Welch. Mit ansteigenden Investitionen in das Gesundheitswesen geht der Nutzen zuerst relativ, dann auch absolut zurück.
[L231]

Verlust an Medizinstudierenden im Verlauf des Studiums (nach Daten des Statistischen Bundesamtes und der Bundesärztekammer).
[L231]

Anteil der Frauen auf den verschiedenen Stufen der Berufskarriere (nach Samir Rabbata, Deutsches Ärzteblatt 2005; 102).
[L141, L231]

Helfen und Heilen
Der Landarzt. Im Jahre 1948 dokumentierte der Bildjournalist W. E. Smith die tägliche Arbeit des im ländlichen Colorado praktizierenden AllgemAllgemeinarztes Dr.Ernest Ceriani. Seine im Life Magazine veröffentlichte Bilderserie zeigt das elementar menschliche Gesicht des Arztberufes.
[J730–001]

Helfen, aber wie?
1
John D. Lantos: Do We Still Need Doctors. Routledge, 1997.
Helfen hat Grenzen
GUT ZU WISSEN
Nicht nur Medizin macht gesund
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Leider kennen wir auch Einflüsse, die wir als gesundheitsschädlich identifiziert haben, aber dennoch weiterhin akzeptieren, wie etwa fehlende Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen und, vor allem, Armut.
Albert Schweitzer. Die meisten im Gesundheitswesen arbeitenden Menschen wählen ihren Beruf, weil sie anderen Menschen helfen wollen. Woran kann diese Hilfe gemessen werden? An der Zahl der geheilten Patienten? An der möglichst hilfreichen Begleitung der unheilbaren Patienten? Dem Zugewinn an Erkenntnis? Der Entwicklung neuer Heilmethoden? Der Zufriedenheit der Patienten? Der Einbeziehung von vom Gesundheitssystem vernachlässigten Patienten? Der Zufriedenheit der eigenen Kinder oder Lebenspartner? Der eigenen Zufriedenheit?
[J789]

3
Ein anderes Beispiel dafür, wie das Gesundheitsverhalten durch Moden und kulturelle Begrenzungen beeinflusst wird, ist das Stillen. Jahrzehntelang galt in den westlichen Industrienationen bei den meisten Eltern (und Ärzten!) die Flaschennahrung als die modernere Alternative. Erst mit dem Aufkommen des neuen Natur- und Umweltbewusstseins in den 1970er-Jahren bekam das Stillen wieder Aufschwung und verdrängte zumindest in Zentral- und Nordeuropa die Kunstmilch – ein Produkt, von dem wir heute ohne jeden Zweifel wissen, dass es für das Kind die minderwertige Alternative darstellt.
4
Dieser Zusammenhang ist in der Medizinethik eminent wichtig geworden: Welche Kriterien sollen wir unseren Entscheidungen gegenüber nicht zustimmungsfähigen Patienten zugrunde legen? Sollen wir das tun, was die meisten kompetenten Fachkollegen als im besten Interesse des Patienten ansehen? Oder sollen wir tun, was die meisten Menschen, die das Wertesystem des Patienten kennen und teilen (ob sie nun Experten sind oder nicht), als die vernünftigste Entscheidung ansehen würden?
GUT ZU WISSEN
Krankheit und Sinn
Magie und Wissenschaft
5
Lewis Thomas, ein amerikanischer Arzt und Schriftsteller, erinnert sich in seinem Buch The Youngest Science [Viking, New York, 1983] an seinen Vater: Er versuchte mir schon frühzeitig den Aspekt der Medizin zu erklären, der ihn in seiner professionellen Laufbahn am meisten quälte: Da waren so viele Menschen, die Hilfe brauchten, und so wenig, was er für sie tun konnte. Es war wichtig, dass er da war, verfügbar war und dass er all diese Hausbesuche machte, aber ich sollte bloß nicht der Vorstellung unterliegen, dass er viel machen konnte, um den Verlauf ihrer Erkrankungen zu ändern.
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Interessanterweise hing das Image der Ärzteschaft wenig von ihren realen Erfolgen ab – das Ansehen der Ärzte war zu Zeiten sehr begrenzter Interventionsmöglichkeiten oft besser als heute.
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Leider ist diese Errungenschaft noch immer nicht fest etabliert. Seit Jahren berichten Krankenhauskommissionen, dass das Händewaschen vor jedem Patientenkontakt nicht allgemein üblich sei, was eine Gruppe amerikanischer Infektiologen zu der Drohung veranlasste, mit der Empfehlung an die Öffentlichkeit zu treten, dass sich jeder Patient persönlich bei seinem Arzt vergewissern solle, ob dieser sich die Hände gewaschen habe, bevor er an das Krankenbett vorgelassen werde. Wem diese Drohung überzogen erscheint, möge bedenken, dass allein in den USA jährlich mindestens 80.000 Todesfälle aus nosokomialen Infektionen resultieren, von denen ein Großteil über helfende Hände übertragen wird.
Zauberei und Realität
Eiserne Lungen: Ein Blick in das Los Angeles County Hospital auf dem Höhepunkt der Polio-Epidemie im Jahre 1952, drei Jahre bevor der erste Polio-Impfstoff auf den Markt kam. Die Eisernen Lungen sind vor allem von Kindern bevölkert und die Ateminsuffizienz endete für viele von ihnen tödlich. Der Fotograf dieses Bildes ist unbekannt. Ein anderes Foto mit demselben Motiv entstand auf Drängen des berühmten Arztes, Philosophen und Dichters William Carlos, der als alter Mann seinen Schüler Robert Coles aufforderte, den Saal mit den Eisernen Lungen am Massachusetts General Hospital zu fotografieren, denn It will all pass, it will all be gone the time you are my age. In der Tat scheint die heute vielfach zu beobachtende Impfmüdigkeit zu belegen, dass die Bilder dieser Zeit weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind.
[J788]

8
Wir wollen unseren Blick jedoch keineswegs auf obsolete Therapieformen verengen. Wie wir wissen, sind Krankenhäusern, durch welche Mechanismen auch immer, einige nicht therapeutische, ja sogar nicht medizinische Aufgaben zugewiesen, die sie finanziell, personell und auch ethisch belasten. In diesem Zusammenhang sei vor allem an das Thema Sterben im Krankenhaus erinnert. Der ehemals als intim, weihevoll und familiär empfundene Akt des Sterbens findet heute zu einem großen Teil im Krankenhaus statt, nicht selten auf der Intensivstation, wo der Tod mehr oder weniger als Betriebsunfall eintritt [Stephan Heinrich Nolte, Deutsches Ärzteblatt 90, Okt. 1993]. Es ist zu hoffen, dass die Ärzte späterer Generationen auch auf diesen Aspekt der Medizin einmal kopfschüttelnd zurückblicken werden.
Medizin als Prozess
9
Fournier JC et al: Antidepressant drug effects and depression severity. JAMA – Journal of the American Medical Association 2010; 303: 47–53
Welche Faktoren bestimmen das ärztliche Tun?
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Auch im Zeitalter der Evidence-based MedicineEvidence-Based MedicineB978-3-437-41114-4.00017-6#idx35:subtopic sind vergleichsweise wenige klinische Strategien durch rigorose Experimente oder Ergebnisanalysen abgesichert, und seien die Fragen auch noch so banal (etwa, in welcher Position Babys am leichtesten geboren werden) – wir wissen es nicht.
•
Vieles von dem, was wissenschaftlich gesichert ist, ist dem einzelnen Arzt nicht bekannt. Dies liegt zum einen an der Menge des in einem Fachgebiet Wissenswerten, hat unter anderem aber auch damit zu tun, dass viele Ärzte – obwohl sie in einem sich rasch wandelnden und anspruchsvollen Beruf arbeiten – keine oder oft von wirtschaftlichen Interessen geprägte Fortbildung betreiben.10
10
Obwohl die interessensneutrale ärztliche Fortbildung ein erklärtes Ziel der deutschen Ärzteschaft ist, werden 90 % der Fortbildungsveranstaltungen in Deutschland von der pharmazeutischen Industrie organisiert: Weber W: Sponsored continuing medical education under scrutiny in Europe. Lancet 357(9254): 452.
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Die Medizin ist – das darf nicht vergessen werden – ein Geschäft mit Milliardenumsätzen. Gewinn macht, wer sein Angebot in möglichst hoher Stückzahl an den Mann bringt. Wie nützlich dieses Angebot ist, ist zunächst sekundär – das ist kein böser Wille der Anbieter und auch keine Schummelei der Pharmaindustrie, sondern liegt in der Logik des Systems begründet. Dass der Nutzen vonArzneimittel:NutzenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx36 Medikamenten übertrieben dargestellt wird, ist Teil dieser Logik und sollte nicht überraschen. In den letzten Jahren wurde immer wieder bekannt, dass Blockbuster-Medikamente – von den COX-2-InhibitorenCOX-2-Inhibitoren:WirksamkeitB978-3-437-41114-4.00017-6#idx37 über orale AntidiabetikaAntidiabetika, orale:WirksamkeitB978-3-437-41114-4.00017-6#idx38 und LipidsenkerLipidsenker:WirksamkeitB978-3-437-41114-4.00017-6#idx39 bis hin zu dem angeblich gegen die Komplikationen der Influenza wirksamen OseltamivirOseltamivir:WirksamkeitB978-3-437-41114-4.00017-6#idx40 (Tamiflu) – weitaus weniger wirksam oder weitaus riskanter sind, als aufgrund der meist von den Herstellern finanzierten und oft selektiv publizierten Studien zu erwarten war.
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Dazu kommt, dass Ärzte die Effektivität ihrer Maßnahmen nur sehr schlecht einschätzen können. Der Mainzer Kinderarzt Prof. J. Spranger hat es einmal so ausgedrückt: Wenn der Ingenieur die richtige Formel anwendet, so arbeitet die Maschine. Wenn sich der Architekt verrechnet, so bricht die Brücke zusammen. Wenn aber das Kind gesund wird, so kann
es die Therapie gewesen sein oder die Kraft der Natur.11Polio-Impfstoff: Selten war ein Medikament so herbeigesehnt worden wie der im Jahre 1955 auf den Markt gebrachte Polio-Impfstoff. Salk, sein Erfinder, wurde in den Vereinigten Staaten über Nacht zu einem Nationalhelden. Schon für die im Jahre 1954 durchgeführten Feldstudien stellten mehrere Millionen Eltern ihre Kinder als Studienobjekte zur Verfügung, ein Zeichen des Vertrauens, das die Menschen der damaligen Jahre der noch jungen modernen Medizin entgegenbrachten.
[J741]
Dieser vage Rahmen leistet der Bildung unbegründeter Glaubenssätze Vorschub. Der Spruch Wer heilt, hat recht, den man in der Klinik nicht selten hört, stimmt also nur bedingt: Manchmal hat selbst, wer heilt, ganz gewaltig unrecht.11
In einem ähnlichen Sinn äußerte Voltaire einmal, das Geheimnis der Medizin bestehe darin, den Patienten abzulenken, während die Natur sich selbst hilft. Diese Erkenntnis, dass die Zeit ein gnädiges Mäntelchen um unsere Bemühungen hängt, hat im angelsächsischen Sprachraum zur Wortbildung tincture of time geführt.
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Da sind zum Beispiel die Erwartungen des Patienten:TherapieerwartungenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx42PatientenTherapie:Erwartungen des PatientenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx43. Während ein Teil der Patienten nach mehr Magie verlangt (s. o.), gibt sich ein anderer Teil nur mit einer raschen Korrektur der Beschwerden zufrieden. Einem Patienten, der mit der Haltung doc, fix it in die Sprechstunde kommt, ist nur schwer eine abwartende Haltung zu vermitteln (Herr Doktor, heutzutage kann man zum Mars fliegen, und Sie sagen mir, Sie können nichts gegen meinen Schnupfen tun?).
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Dann ist da das Selbstverständnis des ärztliches Selbstverständnis:TherapieB978-3-437-41114-4.00017-6#idx44ArztesTherapie:Selbstverständnis des ArztesB978-3-437-41114-4.00017-6#idx45. Ärzte sind zum Handeln ausgebildet, zur Beeinflussung physiologischer und biochemischer Parameter. Der Verzicht auf eine Therapie oder die abwartende Begleitung des Patienten erscheinen da oft als persönliches Versagen. Im Vergleich zum Hantieren mit Endoskop und YAG-Laser hat für viele von uns Machern das Patientengespräch den Charme des Staubsaugens im Wartezimmer.
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Darüber hinaus unterliegt die ärztliche Kunst denselben – bewussten oder unbewussten – Motiven, Emotionen und Eigengesetzmäßigkeiten wie andere Formen von zwischenmenschlichen BeziehungenTherapie:zwischenmenschlichen BeziehungenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx46: Es gibt Patienten, die wir gerne (und deshalb vielleicht auch besser?) behandeln, und es gibt Problempatienten, um die wir gerne einen großen Bogen machen (Kasten Persönliche Prägung versus Wissenschaft).
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Bestimmend sind aber auch andere Faktoren wie wirtschaftlicher Druck, das derzeitige Honorierungssystem, juristische Bedenken (z. B. Kunstfehler-Phobie),Kunstfehler-PhobieB978-3-437-41114-4.00017-6#idx47:subtopic ein bisweilen stark ausgeprägter Geschäftssinn, Stress, Überarbeitung und so weiter. Als Beispiel für die finanzielle Dimension einer Therapieempfehlung sei die einfache Bronchitis genannt: Es bedarf persönlicher Überzeugung, überdurchschnittlicher physiologischer Kenntnisse und viel Zeit, um etwa einem Patienten die Nutzlosigkeit eines Hustenmittels bei der Therapie des Hustens zu vermitteln. Unter den gegebenen Bedingungen ist eine solche Beratung für einen Arzt sicherlich nicht kostendeckend, so kosteneffektiv sie insgesamt gesehen auch sein mag. Wir leben in der paradoxen Situation, dass sich der Griff zum Rezeptblock für den Arzt lohnt, ein Ratschlag zur Selbstbehandlung durch den Patienten:SelbstbehandlungB978-3-437-41114-4.00017-6#idx48PatientenSelbstbehandlung:PatientenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx49 jedoch nicht.
GUT ZU WISSEN
Persönliche Prägung versus Wissenschaft
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Backe B et al.: Norwegian obstetricians prefer vaginal route of delivery. The Lancet 2002; 359(9306): 629
Forschung – Chancen und Grenzen
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Sein Kollege Louis Pasteur stand diesen Anstrengungen keinesfalls nach – ihm wird nachgesagt, dass er praktisch seine gesamte Freizeit im Labor verbrachte und sein Ausspruch: Nicht zu arbeiten erscheint mir gestohlene Zeit, erlaubt uns einen Blick in die Frühgeschichte des Workaholismus.
Bewertung der Ergebnisse
GUT ZU WISSEN
Fetisch Signifikanz
Die richtigen Fragen?
Wer stellt die Fragen?
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Wie sehr sich etwa die pharmazeutische Industrie bemüht, das Marktinteresse für ihre Produkte zu fördern, wird z. B. daran sichtbar, dass sie mehr als 11 Milliarden Dollar für Promotion und Marketing ausgibt, davon allein 5 Milliarden Dollar für Vertreter. Pro Arzt werden in diesem Rahmen jedes Jahr etwa 10.000 Dollar ausgegeben (alles nach Wazana A: Physicians and the pharmaceutical industry – is a gift ever just a gift? JAMA – Journal of the American Medical Association 2000; 283(3): 373–380).
Helfen und Teamwork
Helfen und Lehren
Medizin und Gesundheit
Was ist Gesundheit?
15
Ein Blick um die Welt bestätigt die Korrelation von Krankheit und Armut auf recht bedrückende Weise. Die WHO hat in ihre Definition jedoch zusätzlich die Begriffe justice und equity aufgenommen, und das zu Recht: Wie sich herausgestellt hat, ist die in einer Gesellschaft herrschende Ungleichheit ein noch besserer Prädiktor für Krankheit als das absolute Maß an Armut: Je weiter die Schere zwischen Arm und Reich klafft, desto schlechter ist es um den Gesundheitszustand der Menschen am unteren Ende der Schere bestellt (Wilkinson RG, Pickett KE: Income inequality and population health: A review and explanation of the evidence. Social Science & Medicine 2006; 62(7): 1768–1784).
16
Breslow L: From disease prevention to health promotion. JAMA – Journal of the American Medical Association 1999; 281(11): 1030–1033.
17
Das heißt nicht, dass das Gesundheitssystem keine wichtige Rolle spielen kann (etwa indem es einen gerechten Zugang zu den darin angebotenen Ressourcen gewährleistet), aber es erscheint mir wichtig, die Grenzen anzuerkennen: Ein belastbares Leben ist weder medizinisch herstellbar noch eignet es sich als Dienstleistungsprodukt.
GUT ZU WISSEN
Gesundheit – Streit um Worte?
Schwer einlösbare Ansprüche
Wie entsteht Gesundheit?
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Reeves M: Healthy lifestyle characteristics among adults in the United States, 2000. Archives of Internal Medicine 2005; 165: 854–857.
Gesundheit und Zufriedenheit
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Übersichtsartikel von Meyers AR, American Journal of Mental Retardation 2000; 105(5): 342–351. Am Beispiel der Hämodialyse: Riis J et al., Journal of Experimental Psychology – General 2005; 134(1): 3–9.
20
siehe etwa Dierk JM et al., Journal of Psychosomatic Research 2006; 60(3): 219–227; und Lopez-Garcia E, International Journal of Obesity and Related Metabolic Disorders 2003; 27(6): 701–709.
Nicht jede Krankheit ist behandelbar
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Spranger J, Monatsschrift Kinderheilkunde 1994; 142: 84–89.
•
Gruppe 1: In diese Gruppe fallen KrankheitenKrankheiten:nicht behandelbareB978-3-437-41114-4.00017-6#idx79, deren Ätiologie und Pathogenese klar definiert sind und die durch medizinische Interventionen erfolgreich zu behandeln sind. Hier wäre z. B. die ambulant erworbenePneumonie:ambulant erworbeneB978-3-437-41114-4.00017-6#idx80 Pneumonie zu nennen, welche noch vor 50 Jahren selbst gesunde Menschen innerhalb kurzer Zeit zu Tode brachte.In dieser Gruppe fühlen wir Mediziner uns besonders wohl, denn die Kausalkette von Krankheitsursache zu Krankheitsmanifestation ist geradlinig und kann durch relativ einfache medizinische Interventionen unterbrochen werden.
•
Gruppe 2: Auch diese Krankheiten sind – zumindest von ihrer Ätiologie her – recht klar definiert und im individuellen Falle auch teilweise gut behandelbar; dennoch sind sie ManifestationsbedingungenKrankheiten:ManifestationsbedingungenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx81 unterworfen, die durch medizinische Interventionen nur unzureichend in den Griff zu bekommen sind. In dieser Gruppe ist z. B. das Übergewicht mit seinen metabolischen FolgenAdipositas:metabolische FolgenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx82 wie dem Typ-2-Typ-II-Diabetes:AdipositasB978-3-437-41114-4.00017-6#idx83DiabetesAdipositas:Typ-II-DiabetesB978-3-437-41114-4.00017-6#idx84 zu nennen, über den wir (fast) alles wissen und der durch so simple Mittel wie Gewichtsreduktion und mehr Bewegung im individuellen Falle erfolgreich zu heilen wäre. Trotzdem nimmt seine Häufigkeit im Zuge der immer weiter um sich greifenden Bewegungsarmut in den Industrienationen von Jahr zu Jahr zu. Die Medizin kann hier also zwar mit viel materiellem und menschlichem Einsatz einzelne Krankheitsauswüchse bekämpfen, scheint aber nicht an die (oft in den Alltag eingewobenen) Wurzeln der Krankheitsprozesse zu gelangen. Dasselbe gilt für die Suchterkrankungen.Die Gruppe 2 hält für den Mediziner einiges an Frustration bereit, denn weder ist der Weg von Krankheitsursache zu Krankheitsmanifestation geradlinig (er ist von vielerlei genetischen, sozialen und psychologischen Faktoren beeinflusst), noch ist die Therapie einfach (und heroisch schongar nicht), eben weil sie eine Änderung des Lebensstils und der ihn bedingenden Verhältnisse erfordert.22
22
Dass die Erkrankungen der Gruppe 2 so äußerst therapieresistent sind, liegt auch darin begründet, dass ihnen eine mangelnde Passung zwischen unseren evolutionsbiologischen Voreinstellungen und unserer modernen Umwelt zugrunde liegt: Die stets speicherwillige Fettzelle etwa war unter knappen Umweltbedingungen (in denen wir Menschen 99 % unserer Geschichte verbrachten) ein tolles Erfolgsmodell – jetzt, wo wir in der Nähe gut gefüllter Kühlschränke leben, verkehrt sich der Erfolg in einen Fluch (siehe auch Kasten Warum? in 14.2.5).
•
Gruppe 3: In dieser Gruppe will ich diejenigen Krankheiten zusammenfassen, für die uns derzeit das ätiologische oder pathogenetische Verständnis fehlt. Hierunter fallen viele KarzinomeKarzinome:pathogenetisches VerständnisB978-3-437-41114-4.00017-6#idx85 sowie so beunruhigende Erkrankungen wie die chronisch-entzündlichen DarmerkrankungenDarmKrankheiten:chronisch-entzündliche oder der Typ-1-DiabetesTyp-I-Diabetes:pathogenetisches VerständnisB978-3-437-41114-4.00017-6#idx87, die beide in den Industrienationen auf einem stetigen Vormarsch sind. Auch die in der westlichen Welt am schnellsten zunehmende Diagnose, nämlich DepressionenDepression:pathogenetisches VerständnisB978-3-437-41114-4.00017-6#idx88, fallen in diese Gruppe. Es wird geschätzt, dass Depressionen bis zum Jahr 2020 in den westlichen Ländern die führende Diagnose überhaupt sein werden, schon heute haben sie die ehemals führenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen überholt (Abb. E.7).
Krebskrankes Kind am Spiegel. Wer im Gesundheitswesen arbeitet, setzt sich dem täglichen Erleben von Leiden und Tod aus. Man rückt dem Leiden näher, wie eine alte Krankenschwester dem Autor einmal erklärte, es wird nicht mehr und nicht weniger dadurch, dass du es siehst. Das zu wissen kann dir an verzweifelten Tagen helfen. In der Tat: Leiden scheint grausam, wenn wir es mit unseren eigenen Augen sehen, weniger grausam, wenn im Fernsehen darüber berichtet wird, und noch weniger grausam, wenn wir davon lesen (überhaupt nicht grausam, wenn wir nichts davon wissen).
[J748–090]
Mehr Medizin – mehr Gesundheit?
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Dieser Zusammenhang zeigte sich zum ersten Mal in den 1990er-Jahren durch den Vergleich regionaler Sterblichkeitsdaten in den USA. Nach einem ersten Herzinfarkt war die Sterblichkeit dort niedriger, wo weniger Angiografien und weniger Angioplastien durchgeführt wurden: Guadognoli E et al.: Variation in the use of cardiac procedures after acute myocardial infarction. New England Journal of Medicine 1995; 333: 573–578.
Pseudokrankheiten
24
Ivan Illich sagte dazu Folgendes: When a veterinarian diagnoses a cow's distemper it doesn't usually affect the patient's behavior. When a doctor diagnoses a human being it does (in: Medical Nemesis: The Expropriation of Health. Harmondsworth, New York, 1977).
GUT ZU WISSEN
Pseudo-krank?
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Die Krankmacher, manager-magazin 3/01. Dieser Bericht deckt sich mit einer früheren Studie, in der sich im Laufe einer Standardhospitalisierung in 34 % abnorme Untersuchungsergebnisse ergaben – selbst bei vorher subjektiv gesunden Menschen!
Angebot schafft Nachfrage
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Auch werden mit zunehmender Komplexität der Eingriffe (zunehmende Zahl der Behandlungsschritte) selbst bei geringen Fehlerquoten der Einzelschritte die Gesamtrisiken für den Patienten immer größer: Nimmt man eine Fehlerquote von 1 % für einen einzelnen Schritt eines Verfahrens an, so liegt die Gesamtwahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Fehlers bei 10 Schritten bei 10 %, bei 100 Schritten bei 63 % und bei 1.000 Schritten bei über 99,9 %.
27
Hansen M et al., New England Journal of Medicine 2002; 346(10): 725 to 730.
Unschärfe der Erkrankungsdefinitionen
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Mendelson T: Conflicts of interest in cardiovascular clinical practice guidelines. Archives of Internal Medicine 2011; 171: 577
Neue Krankheitskriterien
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Die Sozialphobie (social anxiety disorder) wurde 1999 in den USA plötzlich zur heißen Diagnose, nachdem die FDA auf Antrag des Herstellers die Diagnose auf die Indikationsliste des Medikaments Paroxetin (in den USA als Paxil) aufnehmen ließ. Damit wurde eine vorher zwar als lästig, aber normal empfundene Eigenschaft, nämlich die situative Schüchternheit, auf einmal zur Krankheit. SmithKlineBeecham zahlte 25 Millionen für den Entwurf einer Werbekampagne, die einen attraktiven, aber offensichtlich verzweifelten jungen Mann zeigt, der ein ebenso attraktives, sich locker zugewandtes junges Paar betrachtet, mit der Unterschrift: Over 10 million Americans suffer from social anxiety disorder. The good news is that this disorder is treatable.
30
Sogar die Heiterkeit wurde inzwischen zu einem Leiden heraufgestuft und zur generalisierten Heiterkeitsstörung promoviert (Forum der Psychoanalyse 2000; 16: 116 u. 17: 94).
Am Bedarf vorbei
31
Dieses Angebot wird immer stärker mit sogenannten IGeL (Individuelle Gesundheits-Leistungen) angereichert, das sind vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen als nicht ausreichend effektiv oder wirtschaftlich bewertete und deshalb von den gesetzlichen Krankenkassen nicht erstattete medizinische Leistungen, die dem Patienten aber auf Privatrechnung angeboten werden können. Praxen, die mehr als 20 % ihres Jahresgewinns über IGeL verdienen, sind heute nicht mehr selten.
Die Frage nach den Grenzen
Was ist pathologisch? Wo beginnt die Behandlung?
•
dass zur Verhinderung eines Krankheitsfalls oft Hunderte von Menschen jahrelang Medikamente einnehmen müssen, die selbst wieder mit Nebenwirkungen Arzneimittel:NebenwirkungenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx121verbunden sind. Durch die Behandlung von RisikofaktorenRisikofaktoren:TherapieB978-3-437-41114-4.00017-6#idx122Therapie:der RisikofaktorenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx123 können also neue Risiken entstehen. Die Einnahme von Statinen zur LDL-Senkung etwa geht mit einem um 9 % gesteigerten Risiko für die Entwicklung eines Typ-2-DiabetesStatine:Entwicklung eines Typ-II-DiabetesB978-3-437-41114-4.00017-6#idx124Typ-II-Diabetes:Entwicklung durch StatineB978-3-437-41114-4.00017-6#idx125 einher32
– kein kleiner Nachteil für ein Medikament, das etwa in den USA inzwischen 1 von 4 Erwachsenen über 45 Jahren verordnet wird.32
Sattar N et al: Statins and risk of incident diabetes: a collaborative meta-analysis of randomised statin trials. Lancet 2010; 375(9716): 735–742.
•
dass die pharmakologische Behandlung von Risikofaktoren, Risikofaktoren:pharmakologische TherapieB978-3-437-41114-4.00017-6#idx126verglichen mit anderen vorbeugenden Strategien, wenig effizient ist. So stellen gerade Lebensstilinterventionen durch ihr niedriges Risikoprofil und ihre meist breitere Wirkung in Fällen eines geringen Ausgangsrisikos eindeutig die überlegene Präventionsstrategie dar.33
Körperliche Bewegung etwa senkt nicht nur das individuelle Herzkrankheitsrisiko, sondern hat darüber hinaus auch positive Effekte auf Körpergewicht, Blutdruck, Stoffwechselparameter und den allgemeinen Lebensgeist.33
Kolenda KD, Sekundärprävention der koronaren Herzkrankheit. Wirksamkeit von Lebensstilveränderungen im Vergleich zur medikamentösen Therapie. Deutsches Ärzteblatt 2005; 102: A-1889–1895.
Wo sind die Grenzen der Medizin – wo sollen sie sein?
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Die Medizin, auch wenn sie noch so gut ist, erlöst nicht vom Tod. Sie zögert ihn allenfalls hinaus, und ob die gewonnene Zeit ein Geschenk ist oder ein Fluch, hängt von vielen Faktoren ab, medizinischen wie persönlichen. Es besteht die Gefahr, dass der spätere Tod durch chronische Krankheit erkauft wird – die Gefahr also, dass wir, anstatt länger zu leben, lediglich länger Patient sind. Wir brauchen dringend eine ethische Diskussion über die Massierung medizinischer Interventionen in ausweglosen Situationen, vor allem am Lebensende.
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Die Medizin beschert uns zunächst lediglich die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit, die positive Gegenseite von Krankheit, unterliegt persönlichen wie auch sozialen Rahmenbedingungen, die weit über medizinische Faktoren hinausgehen. Es wäre deshalb verkehrt, von der Medizin die Schaffung endlosen Wohlbefindens34
zu erwarten. Die Medizin kann zwar Heilung, aber nicht Heil bewirken – und auch in einer noch so rosigen Zukunft erhalten wir unsere Lebenskräfte sicher nicht aus Infusionen, Transfusionen oder Transplantationen und sollten unsere gesellschaftlichen Zielsetzungen entsprechend ausrichten.34
Sisyphus im weißen Kittel, Der Spiegel 16/1999.
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Bedingungen, die für die Bekämpfung von Krankheiten Krankheiten:BekämpfungB978-3-437-41114-4.00017-6#idx128gut sind, müssen nicht unbedingt der Gesundheit dienen. Die einzige Möglichkeit, die Lebenserwartung wilder Tiere sprunghaft zu steigern, ist der Zoo, schreibt der Literaturwissenschaftler Ulrich Horstmann in einem Essay über die moderne Medizin und will damit zur Diskussion stellen, ob das Bestreben, unsere Lebensspanne quantitativ in die Länge zu ziehen, nicht mit einem Verlust an Lebensqualität – nämlich Tiefe und Intensität – erkauft wird. Ein Parcours, der keine Hindernisse und Risiken mehr enthält, kann eintönig werden.
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Ressourcen, die für die Behandlung von KrankheitenKrankheiten:RisikofaktorenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx129Risikofaktoren:KrankheitenB978-3-437-41114-4.00017-6#idx130 oder Risikofaktoren für Krankheiten ausgegeben werden, können nicht für andere – ebenfalls gesundheitswirksame – Bereiche ausgegeben werden, wie etwa Familienförderung, Klimaschutz, sozialen Ausgleich oder neue Umwelttechnologien – alles Anstrengungen, von denen die Zukunftsfähigkeit einer modernen Gesellschaft mindestens genauso abhängt wie von der Qualität der medizinischen Versorgung. Auch muss ganz klar gesehen werden, dass die meisten neuen Therapiemöglichkeiten am größten Teil der Menschheit schlichtweg vorbeigehen. Auch innerhalb der reichen Welt stellt sich zunehmend die Frage, ob wirklich alle von den immer teureren Segnungen des biomedizinischen Fortschritts profitieren werden.
Verheißungen der Zukunft
Globale Erderwärmung
Waffen zur Massenvernichtung
Stoffwechselveränderungen
Verlust emotionaler Sicherung
Ungleichheit
Beruf im Wandel
Neue Aufgaben
Neues Berufsbild
Änderungen sind denkbar
Ärztliche Gesundheit
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Landrigan CP et al: Effect of reducing interns' work hours on serious medical errors in intensive care units. New England Journal of Medicine 2004; 351: 1838–1848.
36
Arnedt JT et al: Neurobehavioral performance of residents after heavy night call vs after alcohol ingestion. JAMA – Journal of the American Medical Association 2005; 294: 1025–1033.
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Ein sehr guter Beitrag zu diesem Thema: Wandel um jeden Preis? Klinikärzte im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, Technik und Menschlichkeit, von Konrad Görg, Deutsches Ärzteblatt 2001; 98(18) (Internet: www.aerzteblatt.de).