29.1
Anliegen und Hintergrund
Die Verbesserung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes mellitus ist eine wesentliche Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie (AGPD).
Um den Besonderheiten einer chronischen Erkrankung im Kindes- und Jugendalter Rechnung zu tragen, müssen spezifische Aspekte dieses Lebensabschnitts berücksichtigt werden.
Die vorliegenden Empfehlungen richten sich an alle Berufsgruppen, die Kinder und Jugendliche mit Diabetes sowie deren Familien betreuen und unterstützen, sowie an übergeordnete Organisationen (z.B. Krankenkassen), die mit der Erkrankung befasst sind.
Entsprechend den Vorgaben der Gesundheitsminister der Länder und gängiger Praxis vieler Kliniken wird als Alter, bis zu dem die vorliegenden pädiatrischen Leitlinien gelten sollen, das vollendete 18. Lebensjahr definiert. Im klinischen Einzelfall können diese Leitlinien allerdings auch für das junge Erwachsenenalter herangezogen werden.
29.2
Epidemiologie und Formen des Diabetes
29.2.1
Typ-1-Diabetes
Der Typ-1-Diabetes ist nach wie vor die häufigste Stoffwechselerkrankung im Kindesalter. Nach aktuellen Schätzungen leben in Deutschland 15.600–17.400 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 14 Jahren mit einem Typ-1-Diabetes (500). In der Altersgruppe 0–19 Jahre waren zu Beginn des Jahrtausends 21.000–24.000 Kinder und Jugendliche betroffen (499). Derzeit schätzt man diese Zahl auf rund 30.000–32.000 (494).
Für die 1990er-Jahre wurden mittlere jährliche Neuerkrankungsraten (Inzidenzraten) zwischen 12,9 (95%-Konfidenzintervall 12,4–13,4) und 14,2 (95%-Konfidenzintervall 12,9–15,5) pro 100.000 Kinder im Alter von 0 bis 14 Jahren und 17,0 (95%-Konfidenzintervall 15,2–18,8) pro 100.000 im Alter von 0 bis 19 Jahren berichtet (421, 498, 420). Die Inzidenzrate steigt mit 3–4% pro Jahr (159, 419). Gegenüber den frühen 1990er-Jahren hat sich die Neuerkrankungsrate für 0- bis 14-Jährige zwischenzeitlich verdoppelt und liegt aktuell bei 22,9 (95%-Konfidenzintervall 22,2–23,6). Der Inzidenzanstieg betrifft insbesondere die jüngeren Altersgruppen.
29.2.2
Typ-2-Diabetes
Parallel zum Anstieg der Prävalenz von Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter (325, 322) hat die Häufigkeit des Typ-2-Diabetes in dieser Altersgruppe zugenommen. Erste populationsbasierte Schätzungen des Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen im Jahr 2002 ergaben eine Inzidenz von 1,57 pro 100.000 (95%-Konfidenzintervall 0,98–2,42) (495). Untersuchungen in Baden-Württemberg aus dem Jahr 2004 zeigen, dass der Typ-2-Diabetes in Deutschland bei den 0- bis 20-Jährigen mit einer Prävalenz von 2,3 pro 100.000 auftritt (422). Die aktuelle jährliche Neuerkrankungsrate wird mit 200 Neuerkrankungen im Alter von 12 bis 19 Jahren geschätzt (105).
29.3
Risikofaktoren, Prävention und Früherkennung des Diabetes
29.3.1
Typ-1-Diabetes
Die Diagnose eines Typ-1-Diabetes basiert auf der klinischen Symptomatik und der Blutzuckermessung. In Zweifelsfällen können weitere Parameter für die Diagnosestellung herangezogen werden. Dazu zählen (273, 161):
-
1.
Diabetesassoziierte Autoantikörper (ICA, GAD65, IA2, IAA, ZnT8)
-
2.
Oraler Glukosetoleranztest
-
3.
HbA1c-Bestimmung
10–15% aller Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren mit einem Typ-1-Diabetes haben Verwandte 1. Grades mit einem Diabetes und somit eine positive Familienanamnese (496, 526). Das Risiko, einen Diabetes zu entwickeln, ist für Kinder mit einem an Diabetes erkrankten Vater 3-fach höher als für Kinder mit einer an Diabetes erkrankten Mutter (189). Während Antikörper und andere Marker zwar eine Vorhersage und Risikokalkulation hinsichtlich der Diabetesentstehung erlauben, fehlen jedoch effektive Präventionsstrategien, die eine Diabetesmanifestation verhindern könnten (501; 24).
Ein generelles Screening auf einen Typ-1-Diabetes sollte deshalb weder bei der Allgemeinbevölkerung noch bei Hochrisikogruppen unter Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden (23).
29.3.2
Typ-2-Diabetes
Ein oraler Glukosetoleranztest zur Früherkennung von Typ-2-Diabetes soll ab dem 10. Lebensjahr bei Übergewicht (BMI > 90. Perzentile) und Vorliegen von mindestens 2 der folgenden Risikofaktoren erfolgen (15):
-
●
Typ-2-Diabetes bei Verwandten 1. oder 2. Grades
-
●
Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko (z.B. Ostasiaten, Afroamerikaner, Hispanier)
-
●
Extreme Adipositas (BMI > 99,5. Perzentile)
-
●
Zeichen der Insulinresistenz oder mit ihr assoziierte Veränderungen (arterieller Hypertonus, Dyslipidämie, erhöhte Transaminasen, polyzystisches Ovarialsyndrom, Acanthosis nigricans)
29.4
Therapie des Typ-1-Diabetes
29.4.1
Beginn der Therapie
Eine Insulintherapie soll umgehend nach Diagnosestellung des Typ-1-Diabetes eingeleitet werden, da sich der kindliche Stoffwechsel rapide verschlechtern kann. Schnellstmöglich soll ein mit Kindern erfahrenes Diabetesteam hinzugezogen werden (34).
29.4.2
Therapieziele
Erstbehandlung und Dauerbetreuung sollen vom 1. bis 18., in Einzelfällen bis zum 21. Lebensjahr, kontinuierlich von einem kinderdiabetologisch erfahrenen Team durchgeführt werden. Die spezialisierte Betreuung trägt nachweislich zu einer Senkung der Krankenhaustage und -wiederaufnahmen, einem niedrigeren HbA1c-Wert bei besserem Krankheitsmanagement und zu weniger Komplikationen bei (71, 461, 25).
Die Behandlung des Typ-1-Diabetes durch das Behandlungsteam sollte umfassen:
-
●
Insulintherapie
-
●
Individuelle Soffwechselselbstkontrolle
-
●
Altersadaptierte strukturierte Schulung
-
●
Psychosoziale Betreuung der betroffenen Familien
Folgende medizinische Ziele stehen bei der Betreuung von pädiatrischen Patienten mit Diabetes mellitus im Vordergrund (107):
-
●
Vermeidung akuter Stoffwechselentgleisungen
-
●
Prävention diabetesbedingter mikro- und makrovaskulärer Folgeerkrankungen
-
●
Normale körperliche Entwicklung (Längenwachstum, Gewichtszunahme, Pubertätsbeginn)
Die psychosoziale Entwicklung der Patienten soll durch den Diabetes und seine Therapie so wenig wie möglich beeinträchtigt werden und die Integration und Inklusion in Kindergarten, Schule und Berufsausbildung gewährleistet werden.
Mit dem Kind bzw. dem Jugendlichen und seiner Familie sollen individuelle Therapieziele formuliert werden (HbA1c-Wert, Blutzuckerzielbereiche, Verhaltensänderungen bei risikofördernder Lebensweise, Integrationsbemühungen u.a.).
Der angestrebte HbA
1c-Wert soll < 7,5% sein, ohne dass Hypoglykämien auftreten. Blutzuckerschwankungen sollten möglichst gering gehalten werden (34, 90; ›
Tab. E29-1).
Die durchschnittliche Frequenz der Glukosekontrolle sollte zwischen 5- und 6-mal täglich betragen, kann aber im Einzelfall deutlich höher liegen (631).
29.4.3
Kontinuierliche Behandlung des Typ-1-Diabetes
Für die Gewährleistung einer möglichst normoglykämienahen Stoffwechsellage sowie einer unbelasteten psychosozialen Entwicklung ist die Kontinuität der Behandlung des Diabetes mellitus sowohl im zeitlichen Verlauf als auch im Hinblick auf die verschiedenen Lebens- und Entwicklungsphasen eines Kindes und Jugendlichen mit Diabetes entscheidend.
Betreuung von Kindern in Kindergärten und Schulen
Kinder mit Diabetes sollen in allgemeinen Kindergärten/Grundschulen betreut werden (234).
Ein individueller Plan zu Häufigkeit und Interventionsgrenzen der Blutzucker- bzw Glukosemessung, Insulingaben (Modus, Zeit, Dosisberechnung), Mahlzeitenfestlegung, Symptomen und Management bei Hypo- und Hyperglykämie soll für die Einrichtung (z.B. Kindergarten, Schule, Hort) erstellt werden (8).
Betreuung beim Übergang ins junge Erwachsenenalter
Die Transition von der pädiatrischen in die internistische Diabetesbetreuung trifft junge Menschen mit Diabetes im Alter von 16 bis 21 Jahren in einer Lebensphase allgemeiner Umbrüche und sollte begleitet werden (Übergangssprechstunden, strukturierte pädiatrisch-internistische Transition o.Ä.) (412, 22, 100).
Betreuung bei Krankheit und Vermeidung von Krankheitsrisiken
Bei schweren Erkrankungen bzw. perioperativ sollen Kinder mit Diabetes in ein entsprechend erfahrenes und ausgerüstetes Zentrum überwiesen werden. Der Kinderdiabetologe ist hinzuzuziehen (63).
In keinem Fall sollte das Insulin bei niedrigen Glukosewerten oder Nahrungsverweigerung komplett weggelassen werden. Notwendig ist vielmehr die Gabe von Kohlenhydraten, um Substratmangel und Ketonkörperbildung zu vermeiden.
Kinder mit Diabetes mellitus sollten nach STIKO-Empfehlungen geimpft werden.
Diabetesbehandlung bei körperlicher Aktivität/Sport
Regelmäßige sportliche Betätigung verbessert die metabolische Kontrolle. Regelmäßiges Schwimmen senkt den HbA1c-Wert nachweislich signifikant (533).
Da bei sportlicher Betätigung der Blutzucker durch Energieverbrauch gesenkt wird, ist das Risiko einer Hypoglykämie erhöht. Stärkster Prädiktor für eine Hypoglykämie ist der Ausgangsglukosewert, der grundsätzlich bei mindestens 120 mg/dl (6,6 mmol/l) liegen sollte (569).
29.4.4
Insulinbehandlung
Der Behandlungsstandard bei pädiatrischen Patienten mit Typ-1-Diabetes sollte die intensivierte Insulintherapie sein.
Jede Insulintherapie soll im Rahmen einer umfassenden Diabetesbetreuung und mit Unterstützung der Familie durchgeführt werden.
Die Insulintherapie soll für jedes Kind individuell ausgerichtet sein (142, 610, 418, 407).
Für pädiatrische Patienten sollen Humaninsulin oder Insulinanaloga verwendet werden (35, 109, 399, 126, 462, 537).
Zur intravenösen Insulinbehandlung sollte Normalinsulin verwendet werden.
Kurz wirksame Insuline und Insulinanaloga (prandiale Substitution)
Kurz wirksames Humaninsulin und schnell wirksame Insulinanaloga zeigen bei Kindern Unterschiede bezüglich Wirkungsbeginn und Wirkdauer und können je nach Situation zur prandialen Substitution bei Kindern flexibel verwendet werden (109, 399).
Für die Insulinpumpentherapie sollten kurz wirksame Insulinanaloga verwendet werden.
Lang wirksame Insuline und Insulinanaloga (basale Substitution)
Sowohl NPH-Insulin wie auch lang wirksame Insulinanaloga können zur basalen Insulinsubstitution bei Kindern individuell eingesetzt werden (106, 108, 573, 490, 114, 572).
Insulinpumpentherapie
Bei folgenden Indikationen sollte eine Insulinpumpentherapie erwogen werden (459):
-
●
Kleine Kinder, besonders Neugeborene, Säuglinge und Vorschulkinder
-
●
Kinder und Jugendliche mit ausgeprägtem Blutzuckeranstieg in den frühen Morgenstunden (Dawn-Phänomen)
-
●
Schwere Hypoglykämien, rezidivierende und nächtliche Hypoglykämien (trotz intensivierter konventioneller Therapie = ICT)
-
●
HbA1c-Wert außerhalb des Zielbereichs (trotz ICT)
-
●
Beginnende mikro- oder makrovaskuläre Folgeerkrankungen
-
●
Einschränkung der Lebensqualität durch bisherige Insulinbehandlung
-
●
Kinder mit großer Angst vor Nadeln
-
●
Schwangere Jugendliche (bei geplanter Schwangerschaft idealerweise präkonzeptionell)
-
●
Leistungssportler
-
●
Große Fluktuationen des Blutzuckers unabhängig vom HbA1c-Wert (trotz ICT)
Kontinuierliche Glukosemessung (CGM), sensorunterstützte Insulintherapie (SuT) und sensorunterstützte Insulinpumpentherapie (SuP)
CGM-Systeme können mit einer ICT genutzt werden (sensorunterstützte Insulintherapie, SuT). Einige CGM-Systeme können mit einer Insulinpumpe zusammen genutzt werden oder die Insulinpumpe kann als Monitor für CGM-Daten dienen. Diese Kombination (CSII + CGM) wird jetzt als sensorunterstützte Insulinpumpentherapie (SuP) bezeichnet. Darüber hinausgehend besteht die Möglichkeit der Abschaltung der Basalrate, wenn der Gewebezucker eine kritische Grenze erreicht (SuP + Low Glucose Suspend [LGS]).
CGM sollte bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes und Insulinpumpentherapie
-
●
zur Senkung der Hypoglykämierate (Häufigkeit, Dauer, Tiefe) oder
-
●
bei rezidivierenden nächtlichen Hypoglykämien oder
-
●
bei fehlender Hypoglykämiewahrnehmung oder
-
●
bei stattgehabten schweren Hypoglykämien
eingesetzt werden (46, 372, 373).
CGM sollte bei pädiatrischen Patienten mit Typ-1-Diabetes bei Nichterreichen des HbA1c-Zielwerts nach Ausschöpfen anderer stoffwechseloptimierender Maßnahmen und Schulungen erwogen und gegebenenfalls eingesetzt werden (41, 47).
29.4.5
Ernährungsempfehlungen
Die Ernährungsberatung im Rahmen der Schulung ist ein wichtiger Teil des umfassenden Therapieplans. Die Ernährungsberatung für Kinder und Jugendliche mit Diabetes soll folgende Komponenten umfassen (modifiziert nach 542):
-
●
Aufklärung über die Blutzuckerwirksamkeit von Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen
-
●
Stärkung gesunder Ernährungsweisen in der Familie und in öffentlichen Einrichtungen: regelmäßige ausgewogene Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten (Obst, Gemüse, Rohkost), Vorbeugung einer Essstörung (insbesondere Binge Eating, d.h. unkontrollierte Essattacken) und Vorbeugung von Übergewicht
-
●
Genügend Energie für altersgemäßes Wachstum und altersgemäße Entwicklung
-
●
Anstreben eines normalen BMI, was regelmäßige körperliche Aktivität einschließt
-
●
Ausgewogene Balance zwischen Energieaufnahme und -verbrauch in Übereinstimmung mit den Insulinwirkprofilen
-
●
Ernährung bei Krankheit und Sport
-
●
Verminderung des Risikos für kardiovaskuläre Erkrankungen
-
●
Berücksichtigung kultureller Ernährungsgewohnheiten
Die Ernährungsberatung sollte durch Fachkräfte für Ernährung (Diätassistenten/Ökotrophologen) erfolgen, die über fundierte Kenntnisse in der Ernährung von Kindern und Jugendlichen und in der Insulintherapie verfügen (542, 101).
Ernährungsempfehlungen sollten alle Nahrungskomponenten und deren Anteil an der täglichen Energiezufuhr umfassen (133).
29.4.6
Diabetesschulung
Die Patientenschulung stellt einen integralen Bestandteil der Therapie dar. Ohne darauf abgestimmte adäquate medizinische Behandlung ist sie nicht erfolgreich (55, 121).
Kinder, Jugendliche und deren Eltern oder andere primäre Betreuer sollen von Diagnosestellung kontinuierlich Zugang zu qualifizierten Schulungsangeboten haben (101, 69, 76, 323, 379, 343, 216, 323).
Betreuenden in Einrichtungen (z.B. Lehrkräften in der Schule, Erziehern in Kindergarten, Hort, Krippe oder Wohngruppe) soll eine Schulung angeboten werden (234, 339, 88).
Die Schulungen sollen von einem multiprofessionellen Diabetesteam durchgeführt werden, das hinreichende Kenntnisse über altersspezifische Bedürfnisse, Möglichkeiten und Anforderungen aktueller Diabetestherapien an die Patienten und ihre Familien hat.
Die Schulungen sollen von allen Teammitgliedern getragen werden und einheitlichen gemeinsam formulierten Therapiekonzepten und Therapiezielen folgen (566, 343, 73).
Der Lernprozess soll durch evaluierte Schulungsunterlagen begleitet werden, die sich an der kognitiven Entwicklung und den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientieren. Gleiches gilt für die Schulungsmaterialien für Eltern, die deren Erziehungsaufgaben und die altersspezifische Diabetestherapie ihrer Kinder einbeziehen sollen (379, 339, 343).
Diabetesschulung ist ein kontinuierlicher Prozess, der nur durch wiederholte bedarfsgerechte Angebote (mindestens alle 2 Jahre) während der Langzeitbetreuung erfolgreich ist. Neue Therapiekonzepte, z.B. der Beginn einer Insulinpumpentherapie oder einer kontinuierlichen Glukosemessung (CGM), neue Lebensabschnitte (z.B. die Einschulung) sollen durch zusätzliche Schulungen begleitet werden. Weitere Erkrankungen (z.B. Zöliakie oder ADHS) oder akute Komplikationen (z.B. DKA, schwere Hypoglykämien) oder psychische Probleme erfordern personalisierte Schulungen (276, 216, 344, 129).
29.4.7
Rehabilitation
Eine stationäre Rehabilitation kann durchgeführt werden
-
●
bei anhaltend mangelhaften Fertigkeiten beim Umgang mit dem Diabetes,
-
●
bei bereits vorhandenen oder aktuell drohenden diabetischen Folgeerkrankungen,
-
●
nach stationärer Primärtherapie des neu diagnostizierten Diabetes mellitus, falls wohnortnah keine Initialschulung erfolgen kann (sog. Anschlussheilbehandlung),
-
●
bei langzeitig nicht ausreichender Stoffwechselführung unter ambulanten Betreuungsbedingungen, z.B. rezidivierende Hypoglykämien oder Ketoazidosen,
-
●
bei erheblicher Störung von Aktivitäten und oder Teilhabe des Kindes oder Jugendlichen an einem altersangemessenen Alltagsleben, z.B. bei häufigen krankheitsbedingten Fehltagen (§ 4 SGB 9 BAR) (68, 183, 139, 136, 549).
29.5
Psychologische und soziale Risiken, Komorbiditäten und Interventionen
Bei Diabetesdiagnose soll die psychosoziale Situation der Familien anamnestisch erfasst werden. Die Familien sollen psychosozial beraten werden. Das interdisziplinäre Team soll ihnen bedarfsgerechte therapeutische Hilfen zur Diabetesbewältigung anbieten. Dabei soll auch die psychische Situation der Eltern bzw. die anderer primärer Betreuungspersonen berücksichtigt werden (263, 560, 128, 101, 129, 180, 557, 181, 629).
Die aktuelle psychosoziale Situation und gegebenenfalls belastende Lebensereignisse sollen im Rahmen der Langzeitbetreuung kontinuierlich erfasst (intellektuelle, schulische, emotionale und soziale Entwicklung) und bei der Therapieplanung berücksichtigt werden.
Deshalb sollen Sozialarbeiter und Psychologen mit diabetesspezifischer Expertise fester Teil des interdisziplinären Diabetesteams sein (536, 101, 123, 129, 323, 324, 240, 216, 122).
Insbesondere bei Jugendlichen soll auf Anzeichen gestörten Essverhaltens und auf affektive Störungen (z.B. Ängste, Depression, Anpassungsstörungen) geachtet, gegebenenfalls eine fachgerechte Diagnostik durchgeführt und frühzeitig interveniert werden.
Bei Vorliegen einer psychiatrisch relevanten Störung sollen Kinder- und Jugendpsychiater oder psychologische Psychotherapeuten hinzugezogen werden, um gegebenenfalls eine Mitbehandlung zu initiieren. Eine zwischen Psychiater und Diabetesteam abgestimmte Behandlung soll angestrebt werden (438, 351, 129, 323, 324, 627).
Kinder und Jugendliche mit Diabetes haben ein erhöhtes Risiko für Beeinträchtigungen der Informationsverarbeitung und des Lernens. Besonders betroffen sind Kinder mit frühem Diabetesbeginn, schweren Hypoglykämien und chronischer Hyperglykämie im frühen Lebensalter.
Daher sollen die schulischen Leistungen der Kinder mit erhöhtem Risiko (Diabetesdiagnose unter 5 Jahren, schwere Hypoglykämien/chronische Hyperglykämien) erfasst werden. Bei Lernschwierigkeiten sollen sie wie alle Kinder neurophysiologisch und psychologisch untersucht werden, um das Vorliegen einer Lernbehinderung abzuklären und gegebenenfalls eine Förderung anzubieten (129).
29.6
Akutkomplikationen
29.6.1
Diabetische Ketoazidose
Die diabetische Ketoazidose ist eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung. Sie soll umgehend in einer spezialisierten Einrichtung von einem mit Kindern erfahrenen Diabetesteam behandelt werden. Es soll ein schriftlicher Behandlungsplan zur Behandlung von diabetischen Ketoazidosen bei Kindern und Jugendlichen vorliegen (27, 199, 177).
Die biochemischen Kriterien für die Ketoazidose umfassen:
Es werden 3 Schweregrade der Ketoazidose unterschieden (614):
-
●
Leicht (pH < 7,3; Bikarbonat < 15 mmol/l)
-
●
Mittelschwer (pH < 7,2; Bikarbonat < 10 mmol/l)
-
●
Schwer (pH < 7,1; Bikarbonat < 5 mmol/l)
Folgende Therapieziele sollen bei einer Ketoazidose angestrebt werden (23, 615; ›
Tab. E29-2):
-
●
Kreislaufstabilisierung mit initialem Volumenbolus mit isotoner Lösung,
-
●
dann langsamer bilanzierter Flüssigkeits- und Elektrolytausgleich,
-
●
langsame Normalisierung des Blutzuckers,
-
●
Ausgleich von Azidose und Ketose,
-
●
Vermeidung von Therapiekomplikationen (Hirnödem, Hypokaliämie),
-
●
Diagnose und Therapie auslösender Faktoren.
Während der Behandlung der schweren diabetischen Ketoazidose sollen klinische Beobachtung und Monitoring mindestens stündlich erfolgen (22, 157, 615).
Patienten mit schwerer Ketoazidose und erhöhtem Risiko für Hirnödem sollen umgehend von einem mit Kindern erfahrenen Diabetesteam auf einer Intensivstation oder einer spezialisierten Diabetesstation mit vergleichbarer Ausstattung behandelt werden.
Patienten mit Verdacht auf Hirnödem sollen auf einer Intensivstation in Kooperation mit einem erfahrenen Diabetesteam betreut werden (23, 615).
Patienten mit deutlichen Zeichen eines Hirnödems sollen umgehend vor Einleitung weiterer diagnostischer Maßnahmen (MRT) mit Mannitol oder hypertoner Kochsalzlösung behandelt werden (22, 177, 221, 488, 182, 36, 615).
Zur therapeutischen Wirksamkeit einer frühzeitigen, gegebenenfalls (nach 30 min) wiederholten intravenösen Mannitolgabe (0,5–1 g/kg) über 10–15 Minuten bei symptomatischem Hirnödem liegen Fallberichte bzw. Fallserien vor (177, 221, 488, 182)
29.6.2
Hypoglykämie
Hypoglykämien sind die häufigsten Akutkomplikationen bei Diabetes (141).
Unterschieden werden
-
●
leichte Unterzuckerungen, die sofort vom Patienten durch Zufuhr schnell wirkender Kohlenhydrate behoben werden können, und
-
●
schwere Unterzuckerungen, die aufgrund der vorliegenden Bewusstseinseinschränkung oder des Bewusstseinsverlusts nur durch Fremdhilfe behoben werden können. Schwere Unterzuckerungen können neben einem Bewusstseinsverlust mit einem zerebralen Krampfanfall einhergehen.
Kinder und Jugendliche mit Typ-1-Diabetes sollen immer schnell wirkende Kohlenhydrate in Form von Traubenzucker o.Ä. bei sich tragen, um bei leichten Unterzuckerungen sofort handeln zu können und so einer schweren Unterzuckerung vorzubeugen. Eltern bzw. andere primäre Betreuungspersonen sollen in der Anwendung der Glukagonspritze bzw. weiterer Sofortmaßnahmen unterwiesen werden.
Betreuer z.B. in Kindergärten, Kindertagesstätten und Lehrkräfte in Schulen sollten ebenfalls eine Einweisung über die Risiken und Behandlungsmöglichkeiten der Unterzuckerung erhalten.
Bei Vorliegen einer Hypoglykämiewahrnehmungsstörung soll vorübergehend ein höheres Blutzuckerniveau angestrebt werden (22, 89).
29.8
Assoziierte Autoimmunerkrankungen
29.8.1
Diagnostik und Therapie von Schilddrüsenerkrankungen
Bei Kindern und Jugendlichen mit Diabetes sollen bei Diabetesmanifestation sowie regelmäßig in Abständen von 1–2 Jahren oder bei entsprechenden Symptomen eine TSH-Bestimmung und eine Bestimmung der Schilddrüsenautoantikörper (TPO-AK, Tg-AK) erfolgen (22, 34, 535, 314).
Bei Vorliegen von TPO-Autoantikörpern und/oder TSH-Erhöhung soll eine Sonografie der Schilddrüse durchgeführt werden.
Zur Therapie der autoimmunbedingten Hypothyreose oder Struma soll L-Thyroxin nach Therapieschema (›
Abb. E29-1) eingesetzt werden.
29.8.2
Diagnostik und Therapie der Zöliakie
Kinder und Jugendliche mit Diabetes sollen bei Diabetesmanifestation und im weiteren Verlauf im Abstand von 1–2 Jahren sowie bei entsprechenden Symptomen auf Zöliakie untersucht werden (22, 239, 535, 316, 312, 314).
Bei nachgewiesener Zöliakie (serologisch und bioptisch) mit Symptomen oder extraintestinaler Manifestation soll eine glutenfreie Diät durchgeführt werden (223, 9, 239, 359 314).
Bei asymptomatischen Patienten sollte die Indikationsstellung zur glutenfreien Diät bzw. die weitere Verlaufskontrolle in Kooperation mit dem pädiatrischen Gastroenterologen erfolgen.
29.9
Andere Diabetesformen im Kindes- und Jugendalter
29.9.1
Typ-2-Diabetes
Der Typ-2-Diabetes bei Jugendlichen soll nach den Grenzwerten für Nüchternglukose und oralem Glukosetoleranztest (OGTT) unter Verwendung der Standard- oder Referenzmethode diagnostiziert werden.
Bei Überschreiten folgender Grenzwerte ist das Ergebnis bei asymptomatischen Patienten durch einen 2. Test an einem weiteren Tag zu bestätigen (194):
-
●
Nüchternglukose: > 126 mg/dl (> 7,0 mmol/l)
-
●
OGTT: 2-h-Wert > 200 mg/dl (> 11,1 mmol/l)
Hinweise zur Abgrenzung des Typ-2-Diabetes vom Typ-1-Diabetes können zusätzliche Laboruntersuchungen liefern (4, 194):
Bei der Therapie des Typ-2-Diabetes bei Jugendlichen (›
Abb. E29-2) soll eine Nüchternglukose von < 126 mg/dl und ein HbA
1c-Wert < 7% angestrebt werden (628, 588, 252).
Die Schulung für Jugendliche mit Typ-2-Diabetes soll eine Ernährungsberatung sowie Anleitung zu körperlicher Aktivität im Rahmen eines strukturierten Adipositasprogramms umfassen (476, 15).
Darüber hinaus sollte eine individuell angepasste modulare Übernahme von für Typ-2-Diabetes relevanten Inhalten der Schulung zum Typ-1-Diabetes erfolgen.
Bei einem initialen HbA1c-Wert ≥ 9% oder einer spontanen Hyperglykämie ≥ 250 mg/dl und bei Zeichen des absoluten Insulinmangels (Ketonurie, Ketoazidose) sollte eine initiale Insulintherapie begonnen werden. In allen anderen Fällen ist Metformin das Mittel der 1. Wahl zur medikamentösen Therapie bei Kindern und Jugendlichen (531, 587, 284, 206, 628).
29.9.2
Monogenetischer Diabetes
Aufgrund der Bedeutung für Therapie, Langzeitprognose und genetischer Beratung der Familien soll die molekulargenetische Diagnostik der häufigsten MODY-Formen (›
Tab. E29-4) bei begründetem Verdacht empfohlen werden.
Vor einer Sequenzierung der betreffenden Gene muss entsprechend des Gendiagnostikgesetzes eine Beratung und Aufklärung insbesondere über das Recht auf Wissen und Nichtwissen genetischer Information erfolgen (406, 385, 162, 31, Gendiagnostikgesetz 2009).
29.9.3
Neonataler Diabetes mellitus (NDM)
Eine Sonderform des genetisch bedingten Diabetes ist der neonatale Diabetes mellitus (NDM) und derjenige Diabetes, der in den ersten 6 Lebensmonaten auftritt. Klinisch werden 2 Subgruppen unterschieden, der transiente (TNDM) und der permanente (PNDM) neonatale Diabetes mellitus.
Diagnostisches Vorgehen bei Diabetesmanifestation bis zum 6. Lebensmonat, gegebenenfalls bis zum 1. Lebensjahr:
-
●
Ausschluss einer Pankreasinsuffizienz:
-
●
Falls Sonografie unauffällig oder nicht beurteilbar:
-
●
Falls Sonografie unauffällig oder nicht beurteilbar, Autoantikörper negativ und Elastase im Stuhl o.B.: molekulargenetische Analysen zur Differenzialdiagnose von:
-
○
Anomalien des Chromosoms 6q24 (TNDM)
-
○
Mutationen des KCNJ11-Gens (PNDM, TNDM)
-
○
Mutationen des ABCC8-Gens (PNDM, TNDM)
-
○
Mutationen des Insulingens (PNDM)
-
●
Bei verminderter Elastase im Stuhl und negativer molekulargenetischer Analyse bezüglich Chromosom 6q24, KCNJ11, ABCC8 und Insulingen sowie negativen oder positiven Autoantikörpern:
Bei ätiologisch nicht geklärtem neonatalem Diabetes mellitus und bei Diabetes mellitus, der sich bis zum 6. Lebensmonat manifestiert, soll möglichst früh eine molekulargenetische Analyse durchgeführt werden, um bei Sulfonylharnstoff-sensitiven Mutationen möglichst früh mit einer dementsprechenden Therapie zu beginnen (178, 29, 300, 40, 528).
Initial soll bei neonatalem Diabetes immer eine Insulintherapie erfolgen. Bei Vorliegen einer Mutation des KCNJ11- oder des ABCC8-Gens soll möglichst früh ein Therapieversuch mit Sulfonylharnstoffen unternommen werden (255, 451, 393, 318, 540, 577).
29.9.4
Diabetes bei zystischer Fibrose
Da Diabetes bei zystischer Fibrose klinisch oft schwer zu erkennen ist, sollten Kinder mit zystischer Fibrose ab dem 10. Lebensjahr jährlich einen oralen Glukosetoleranztest erhalten (347).
Bei gesicherter Diabetesdiagnose soll eine Behandlung des Cystic Fibrosis Related Diabetes (CFRD) eingeleitet werden (440, 492, 347, 145).
Für die Dauertherapie bei CF-bedingtem Diabetes soll Insulin eingesetzt werden. In den ersten 12 Monaten nach Diagnosestellung kann allerdings ein Therapieversuch mit Gliniden oder Sulfonylharnstoffen unternommen werden (33, 442).
Bei Vorliegen einer zystischen Fibrose soll auch nach Diagnose eines Diabetes eine hochkalorische, fettreiche Diät durchgeführt werden. Eine Kalorienreduktion ist kontraindiziert (442).
Literatur
Verfahren zur Konsensbildung
Die Erstellung der evidenzbasierten Leitlinie erfolgte im Auftrag der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). Die Deutsche Diabetes Gesellschaft wird vertreten durch den jeweiligen Präsidenten (2015–2017 Prof. Dr. B. Gallwitz) und die Leitlinienbeauftragte der DDG (Frau Prof. Dr. Monika Kellerer).
Die Leitliniengruppe setzte sich aus Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie (AGPD), Mitgliedern der Leitliniengruppe 2009 sowie einer Patientenvertreterin zusammen.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Andreas Neu
Universität Tübingen
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Hoppe-Seyler-Str. 1
72076 Tübingen