Unser zentrales NervensystemZentralnervensystem ist in neuronalen Netzwerken organisiert. Hierunter versteht man Nervenzellen, die mittels Synapsen miteinander in Kommunikation stehen. Die Informationsverarbeitung innerhalb eines Neurons verläuft elektrisch, die synaptische Aktivität nutzt Botenstoffe.
Lernen bedeutet Veränderung der synaptischen Übertragungskraft bzw. als nachhaltigste Form die Knüpfung neuer Synapsen.
6.2.1
Innerneuronale Homöostase und Aktionspotenzial
Zellen sind von Membranen umschlossene Funktionsräume. Neben den Zellorganellen enthalten sie eine wässrige Salzlösung.
Die Ionen der Salzlösung sind im intra- und extrazellulären Raum in unterschiedlicher Konzentration vorhanden. Die Konzentration der Natrium-Ionen ist z. B. intrazellulär im Vergleich zu extrazellulär relativ niedrig, bei Kalium-Ionen verhält es sich genau anders herum.
Die ZellmembranZellmembran besteht aus einer LipiddoppelschichtLipiddoppelschicht und stellt für geladene Teilchen ein Diffusionshindernis dar. Dadurch haben die Membranen einen hohen elektrischen Widerstand.
In die Lipiddoppelschicht sind als Träger verschiedener Funktionen Proteinmoleküle eingebettet. Einige Proteinmoleküle durchziehen die Membran und können unter bestimmten Bedingungen eine Öffnung bilden, durch die Ionen gemäß dem Konzentrationsgradienten aus der Zelle hinaus bzw. in diese hinein fließen können. Diese Proteinmoleküle nennt man Ionenkanäle.
Durch die wiederholte Öffnung von Ionenkanälen würde der bestehende Konzentrationsgradient der Ionen perspektivisch ausgeglichen werden. Die Zelle verfügt daher über aktive, d. h. Energie verbrauchende Transportmechanismen, die diesen Gradienten wieder herstellen. Ein Beispiel hierfür ist die Natrium-Kalium-Pumpe, die unter ATP-Verbrauch Natrium-Ionen von intra- nach extrazellulär und gleichzeitig Kalium-Ionen in die Gegenrichtung transportiert. Die Pumpe wird durch die intrazelluläre Natrium-Ionenkonzentration gesteuert und stellt die Ionenkonzentrationsgradienten (= Ruhemembranpotenzial) wieder her, sie gewährleistet so die innerneuronale HomöostaseHomöostase, innerneuronale.
IonenkanäleIonenkanäle können spannungsabhängig sein, d. h., in Abhängigkeit von der in der Umgebung anliegenden Spannung (Ionenkonzentrationsdifferenz) ändern sie ihre Gestalt (Konformation). Dies geschieht unmittelbar und ohne Energieverbrauch. Im Bereich des Axonhügels (Bereich, in dem das Axon aus dem Zellleib entspringt) sitzt eine solche Gruppe von Natrium-Ionenkanälen.
Konkret führt eine Erhöhung des Ruhemembranpotenzials über eine bestimmte Schwelle dazu, dass sich die Natrium-Ionenkanäle öffnen und positiv geladene Natrium-Ionen entlang des Konzentrationsgradienten in den Intrazellularraum strömen. Dies erhöht das Membranpotenzial weiterhin. Ab einer bestimmten Höhe des Membranpotenzials schließen sich die Natrium-Ionenkanäle wieder. Bereits kurz vor ihrem Schließen ändert sich die Konformation der Kalium-Ionenkanäle und Kalium-Ionen treten gemäß dem Konzentrationsgradienten aus dem intra- in den extrazellulären Raum über. In der Summe führt der Schluss der Natrium-Ionenkanäle und das Öffnen der Kalium-Ionenkanäle zu einem Austritt von positiver Ladung aus der Zelle und das Membranpotenzial sinkt wieder, bis es den Wert des Ruhemembranpotenzials erreicht bzw. leicht unterschreitet.
Dieser Vorgang wird AktionspotenzialAktionspotenzial genannt. Es besteht aus einem Anstieg des Membranpotenzials (Depolarisation) und dessen darauffolgendem Abfall (Repolarisation).
6.2.2
Reizweiterleitung und synaptische Übertragung
Strömen während der ReizweiterleitungDepolarisation Natrium-Ionen ein, so bleiben diese nicht am Ort des Einstroms, sondern verteilen sich durch Diffusion in die Umgebung. Dadurch steigt auch an den benachbarten Orten das Ruhemembranpotenzial an und es öffnen sich weitere spannungsabhängige Natrium-Ionenkanäle, d. h., Depolarisation und nachfolgend Repolarisation finden ebenfalls in der Umgebung statt. Das Aktionspotenzial wird so von seinem Entstehungsort am Axonhügel über das Axon bis zur Synapse weitergeleitet.
Kurze Zeit nach einem Aktionspotenzial kann kein weiteres ausgelöst werden; diese Phase nennt man Refraktärzeit. Durch diese Refraktärzeit wird sichergestellt, dass sich ein Reiz im Axon nur in eine Richtung ausbreitet.
Die Geschwindigkeit der Reizweiterleitung ist zum einen vom Durchmesser des Axons (je dicker desto schneller) und zum anderen vom Vorhandensein einer Myelinschicht abhängig. Diese Myelinschicht wird im zentralen Nervensystem von den Oligodendrozyten und im peripheren Nervensystem von den Schwann-Zellen gebildet. Diese umscheiden die Axone mehrfach mit einem „Fett-Eiweiß-Gemisch“ und isolieren es so elektrisch, mechanisch und thermisch. Regelmäßig kommt es zu Unterbrechung dieser Umscheidung durch die Ranvier-Schnürringe. An diesen Stellen sind in myelinisierten Axonen die Ionenkanäle lokalisiert. Das Aktionspotenzial muss in myelinisierten Axonen nicht kontinuierlich fortgeleitet werden, sondern kann von Schnürring zu Schnürring springen, was die Übertragungsgeschwindigkeit vervielfacht (saltatorische ReizweiterleitungReizweiterleitungsaltatorische).
An seinem Ende geht das Axon in einen Axonbaum über. Jeder dieser Äste endet in einer Synapse. Der zur Synapse gehörige Abschnitt des Axons wird als präsynaptische Membran bezeichnet.
In der präsynaptischen Membran sind kaum noch spannungsabhängige Natrium- und Kalium-Ionenkanäle anzutreffen; dafür finden sich hier spannungsabhängige Kalzium-Ionenkanäle. Kalzium liegt intrazellulär relativ niedrig- und extrazellulär relativ hochkonzentriert vor. Erreicht ein Aktionspotenzial die präsynaptische Membran, öffnen sich die Kalzium-Ionnenkanäle kurz, Kalzium strömt in die Zelle ein und heftet sich an die Vesikel. Dies sind von einer doppelschichtigen Lipidmembran umschlossene Bläschen, die den Botenstoff (Transmitter) für die synaptische Übertragung enthalten. Dabei enthält jede Synapse nur einen bestimmten TransmitterTransmitter, nach dem sie auch benannt wird. Ist der Botenstoff z. B. Acetylcholin, spricht man von einer cholinergen Synapse.
Bindet eine bestimmte Anzahl von Kalzium-Ionen an die dafür vorgesehenen Bindungsstellen an den Vesikeln, werden dort spezifische Enzyme aktiviert. Die Vesikelmembran verschmilzt mit der präsynaptischen Membran und setzt den Transmitter in den synaptischen Spalt frei, in dem sich dieser gemäß der Diffusion verteilt (Exozytose).
Die postsynaptische Membran liegt der präsynaptischen gegenüber und gehört zum korrespondierenden Neuron (oder Muskel oder Drüsenzelle). Diese postsynaptische Membran enthält Rezeptoren, die eine Anziehungs- bzw. Bindungskraft auf den Transmitter ausüben. Gelangt ein Transmittermolekül durch Diffusion in die Nähe eines unbesetzten Rezeptors, kann es an ihn andocken und ein mit dem Rezeptor verbundener Ionenkanal öffnet sich.
Im synaptischen Spalt wird der Transmitter durch Enzyme gespalten und in die umliegenden Gliazellen oder das präsynaptische Neuron aufgenommen (z. T. wird der Transmitter auch ungespalten wieder aufgenommen). Dadurch verringert sich die Konzentration des Transmitters im synaptischen Spalt. Wenn der Sog durch Diffusion auf den am Rezeptor gebundenen Transmitter größer wird als die Rezeptorbindungskraft, wird der Transmitter vom Rezeptor abdiffundieren und der mit dem Rezeptor assoziierte Ionenkanal schließt sich.
Die an der postsynaptischen Seite an den Rezeptor gekoppelten Ionenkanäle entscheiden über das entstehende postsynaptische Potenzial. Handelt es sich z. B. um Natrium-Ionenkanäle, werden bei ihrer Öffnung positiv geladene Natrium-Ionen in das postsynaptische Neuron einströmen und das Membranpotenzial anheben – es entsteht ein erregendes postsynaptisches PotenzialPotenzial, postsynaptisches (EPSP). Liegen Kalium-Kanäle vor, so werden nach deren Öffnung positiv geladene Kalium-Ionen aus dem postsynaptischen Neuron ausströmen und das Membranpotenzial absenken – ein inhibitorisches postsynaptisches Potenzial (IPSP) entsteht.
6.2.3
Synaptische Übertragungskraft und Summation
Die synaptische ÜbertragungskraftÜbertragungskraft, synaptische ist durch die Größe des postsynaptischen Potenzials gekennzeichnet. SynapsenSynapse mit starker Übertragungskraft können große EPSP oder IPSP hervorrufen. Sämtliche EPSP und IPSP, die am Zellleib und an den Dendriten eines Neurons eingehen, werden letztendlich am Axonhügel verrechnet (= SummationSummation) und führen, wenn die Schwelle überschritten wird, zur Auslösung eines Aktionspotenzials.
Verändert sich an einer Synapse die Übertragungskraft, so ändert sich auch das gesamte neuronale Netzwerk. Veränderungen der synaptischen Übertragungskraft werden bei kurzer Dauer als Adaptation (z. B. bis 100 ms) und bei längerer Dauer als Grundelemente des Lernens bezeichnet.
Merke
Mechanismen, welche die synaptische Übertragungskraft nachhaltig ändern, stellen die Basis von Lernen auf zellulärer Ebene dar.
6.2.4
Langzeitpotenzierung (LTP) und Langzeitdepression (LTD)
LangzeitpotenzierungLangzeitpotenzierung (LTP) bezeichnet die nachhaltige Erhöhung, LangzeitdepressionLangzeitdepression die nachhaltige Erniedrigung (LTD) der synaptischen Übertragungskraft.
Die zellulären Abläufe, die diesen Mechanismen zugrunde liegen, sind z. T. aufgeklärt und zum größten Teil postsynaptisch lokalisiert. Die LTP ist hierbei intensiver erforscht als die LTD. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse stammen zum größten Teil aus Tierexperimenten.
LTP kann ausgelöst werden, indem Synapsen mit hochfrequenten präsynaptischen Reizen (= Tetanus) gereizt werden. Führt man der Synapse danach wieder einen Einzelreiz zu, ist das durch diesen ausgelöste EPSP deutlich größer als vor dem Tetanus. Dieser Effekt kann je nach Versuchsaufbau über Stunden anhalten, ohne dass ein erneuter Tetanus appliziert wird.
Merke
Hochfrequent genutzte Synapsen können ihre Übertragungskraft nachhaltig steigern.
6.2.5
Assoziative Steigerung der synaptischen Übertragungskraft
Eine Steigerung der Übertragungskraft, synaptischeSteigerungsynaptischen Übertragungskraft tritt ebenfalls ein, wenn mehrere Synapsen gleichzeitig aktiv waren und dadurch zur Depolarisation des postsynaptischen Neurons beigetragen haben. Je häufiger diese Synapsen gemeinsam feuern und zu einer Depolarisation führen, desto stärker werden sie.
6.2.6
Molekulare Grundlagen
Die molekularen Grundlagen dieser Prozesse sind z. T. aufgeklärt. So spielen spezifische Rezeptoren an Synapsen, die den Transmitter GlutamatGlutamat benutzen, eine große Rolle. Sie heißen N-Methyl-D-aspartat-Rezeptoren (NMDA-RezeptorenNMDA-Rezeptoren) und sind sowohl spannungsabhängig als auch auf die Bindung des Transmitters angewiesen.
Metabotrope RezeptorenRezeptor, metabotroper, die nach Bindung eines Liganden im extrazellulären Bereich spezifische intrazelluläre Botenstoffe freisetzen (Second MessengerSecond Messenger), sind ebenfalls von großer Bedeutung. Diese Second Messenger können intrazellulär zahlreiche Prozesse anstoßen. So können z. B. blockierte postsynaptische Rezeptoren deblockiert (führt zu weiterer Erhöhung der synaptischen Übertragungskraft) oder neue Rezeptoren gebildet werden. Diese neu gebildeten Rezeptoren können dann in die postsynaptische Membran eingebaut werden (weitere Verstärkung der synaptischen Übertragungskraft).
6.2.7
Synaptoneogenese
Mit dem Einbau weiterer SynapseNeubildungRezeptoren in die postsynaptische Membran vergrößert sich die Synapse rein mechanisch. Dieses Wachstum ist allerdings limitiert. Überschreitet die Synapse eine spezifische Ausdehnung, teilt sie sich und eine neue Synapse entsteht. Dies ist natürlich die nachhaltigste Form einer Veränderung eines neuronalen Netzwerks (= Lernprozess).
6.2.8
Metaplastizität
Synapsen im Bereich des Hippocampus, des Kleinhirns und der Großhirnrinde können die oben genannten synaptischen Phänomene zeigen. Viele Synapsen können sowohl LTP als auch LTD entwickeln. MetaplastizitätSynapseMetaplastizitätMetaplastizität befasst sich mit der Frage, wann eine Synapse welches Phänomen zeigt.
Die etablierteste Theorie wird nach ihren drei Entdeckern als Bienenstock-Cooper-Munro-ModellBienenstock-Cooper-Munro-Modell (BCM-Theorie) bezeichnet. Diese Theorie vertritt den Begriff einer gleitenden Schwelle, d. h., es wird nicht jedes Mal nach einer bestimmten Anzahl von Reizen eine bestimmte Änderung der Übertragungskraft stattfinden. Entscheidend ist vielmehr, welche synaptische Aktivität diesem Reizzug vorausgegangen ist. Lag an einer Synapse schon sehr viel synaptische Aktivität vor, gleitet die Schwelle nach oben, d. h., für die weitere Zunahme der synaptischen Übertragungskraft ist ein relativ langer Reizzug notwendig. Lag an der Synapse lange keine synaptische Aktivität vor, gleitet die Schwelle entsprechend nach unten.
6.2.9
Folgerungen für die Therapie
Es ist nicht ganz unkritisch, aus Ergebnissen von Tierexperimenten auf zellulärer Ebene Handlungsempfehlungen für die tägliche Praxis abzuleiten. Um (motorische) Lernprozesse anzustoßen, sollte man auf eine ausreichend große Anzahl von Wiederholungen achten (= Repetition). Wann immer möglich, sollte assoziativesLernenassoziatives Lernen genutzt werden, Beispiel kann eine mit Musik unterstützte Therapie sein, in der eine sensomotorische und akustische Kopplung stattfindet.
Gemäß der BCM-Theorie ist es sinnvoll, immer wieder einzuschätzen, wie viel synaptische Aktivität über die gerade trainierten Synapsen gelaufen ist und wie viel Aktivität notwendig wäre, um eine weitere Verbesserung herbeizuführen. Dies kann natürlich nicht durch neurophysiologische Messung am lebenden Menschen erfolgen, sondern kann nur indirekt aus dem Lernfortschritt abgeschätzt werden. Daraus lassen sich dann eine sinnvolle Steigerung der Übungsintensität immer an der Leistungsgrenze und eine angemessene Gestaltung von Übungen und Pausen ableiten.
6.2.10
Subkortikale Plastizitätsvorgänge
Die oben genannten Mechanismen neuronaler PlastizitätPlastizitätneuronale auf zellulärer Ebene sind im zentralen Nervensystem hauptsächlich im Hippocampus, im Kleinhirn und in der Großhirnrinde anzutreffen. Sie erklären unmittelbare Leitungszugewinne. Doch auch andere Strukturen sind maßgeblich in Lernprozesse involviert. Im Bereich des motorischen Lernens spielen die Basalganglien eine wichtige Rolle. Sie sind für die Verstetigung von Lernleistungen zuständig (KonsolidierungKonsolidierung).
Motorisches Lernen endet nicht nach der Therapieeinheit. Weitere Leistungsverbesserungen nach einer motorischen Therapie werden durch fortlaufende Verarbeitungsvorgänge des bereits Gelernten erzielt.
Kurz zusammengefasst, scheinen die Basalganglien in Verbindung mit dem Hippocampus dem Kortex immer wieder und wieder bestimmte Inhalte zu repräsentieren. Hierdurch werden die neu eingeschliffenen Verschaltungen effizienter und langfristig konsolidiert. Diese wiederholte Repräsentation geschieht während des Schlafes.
Merke
Nur wer ausreichend schläft, kann motorische Leistung festigen.
Führe ich unmittelbar nach einer motorischen Therapie A eine motorische Therapie B durch, kann es zum Phänomen der InterferenzInterferenz = Auslöschung kommen. Nur die letzten Inhalte werden wiederholt repräsentiert und so werden nur die Leistungen der Therapie B verstetigt.
Merke
Interferenz durch zu viele Übungen in rascher Folge vermeiden.
Wichtigster Transmitter an den Synapsen der Basalganglien ist Dopamin. Es wird besonders reichlich ausgeschüttet, wenn unvorhersehbare Erfolge eintreten.
Merke
Eine Verstetigung der Leistung ist zu erwarten, wenn dem Patienten unerwartete Behandlungserfolge gelingen.