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Besonderheiten im Umgang mit Fragen zur sexuellen Orientierung
Gleichgeschlechtliche Sexualität hat es zu allen Zeiten und in allen Kulturen verschiedener Entwicklungshöhen gegeben. Der Begriff der Homosexualität und die damit begonnenen wissenschaftlichen Debatten und Theorien entstanden erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis zur Mitte des 20. Jahrhundert wurde in der Psychiatrie die Homosexualität als eine Form der Perversion oder als eine Entwicklungsstörung angesehen. Diese Annahme prägte auch den gesellschaftlichen, politischen und strafrechtlichen Umgang mit Homosexualität.
Eine differenziertere Betrachtungsweise von HomosexualitätHomosexualität begann vor allem in Folge der Ergebnisse der sogenannten Kinsey-Studien (Kinsey et al. 1948, 1954). Heute zählen Hetero-, Bi- und Homosexualität zu den natürlichen Varianten der sexuellen Orientierung. Erst 1973 wurde die Homosexualität aus der DSM- und 1991 aus der ICD-Klassifikation als Diagnose gestrichen. Auch wenn bei den meisten Ärzten und Therapeuten Konsens darüber besteht, dass Homosexualität keine Erkrankung ist, herrscht häufig eine große Verunsicherung und Ambivalenz vor (Bartlett 2009). Dies ist kontraproduktiv für den psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontakt. Ein Grund dafür mag sein, dass ein offener und nachhaltiger Diskurs über Ursachen, Auswirkungen und Definitionen sexueller Orientierung vor allem im deutschsprachigen Raum nach der offiziellen „Entpathologisierung“ zum Erliegen kam. Nicht pathologisierende Entwicklungstheorien und neuere Erkenntnisse zur sexuellen Orientierung, die einen wertfreien und professionellen Umgang mit Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung ermöglichen und deren spezifischen Bedarf im psychiatrischen und therapeutischen Setting erkennbar machen, finden in der Lehre kaum Beachtung.
Kasuistik 1a
Ein 19-jähriger Mann stellt sich in Begleitung seiner Eltern in einer psychiatrischen Rettungsstelle vor. Bei der Begrüßung äußern sich die Eltern sehr besorgt darüber, dass mit ihrem Sohn etwas nicht mehr stimme. Er habe sich in letzter Zeit stark verändert und sie fänden keinen Zugang mehr zu ihm. Er wirke deprimiert und verschlossen. Sie äußern große Angst davor, dass er sich etwas antun könnte. Zuletzt habe er jede ihrer Kontaktaufnahmen einfach unbeantwortet gelassen. Der Sohn von Bekannten habe sich letztes Jahr ohne Vorwarnungen suizidiert, daher seien sie alarmiert. Sie seien heute unangekündigt bei ihm vorbeigefahren und haben ihn überredet, sich Hilfe zu suchen.
Kasuistik 1b
Der Patient berichtet zunächst, nicht zu wissen, warum seine Eltern sich Sorgen machen. Nur ihnen zuliebe würde er sich psychiatrisch vorstellen. Mit ihm sei eigentlich alles in Ordnung. Er habe sein Abitur vor einem halben Jahr gut bestanden, sei danach bei den Eltern aus- und in eine WG gezogen. Derzeit absolviere er ein freiwilliges soziales Jahr. Seine Eltern besuche er nur noch selten, ihn würden diese Besuche immer sehr belasten. Er fühle sich bei ihnen zunehmend fremd, habe Angstgefühle und Beklemmungen bis hin zum Gefühl der Atemnot. Schon vor anstehenden Begegnungen mit den Eltern schlafe er schlecht. Früher habe er zu beiden Eltern ein eigentlich enges, entspanntes und liebevolles Verhältnis gehabt.
In der weiteren Exploration antwortet der Patient auf die Frage, ob er in einer Beziehung sei, dass gerade dies ja das Problem sei. Er habe sich schon früh eher zu Jungen hingezogen gefühlt. Er dachte aber immer, dass dies nur eine Phase sei, die vorbeigehe. Seit er in der WG wohne, fühle er sich stark zu seinem Mitbewohner hingezogen und es sei zu sexuellen Kontakten gekommen, die er sehr genossen habe. Der Patient gibt an, sich jetzt mehr denn je sicher zu sein, dass er schwul sei. Momentan sei es für ihn undenkbar, seinen Eltern davon zu erzählen, er befürchtet deren Enttäuschung und Zurückweisung. In der Vergangenheit haben sie sich bezüglich Homosexualität eher abfällig geäußert. Zudem würden sie immer betonen, wie sehr sie sich auf seine erste Freundin und auch zukünftige Enkelkinder freuen würden. Ebenso meide er den Kontakt zu alten Schulfreunden, diese würden ihn niemals verstehen, und er fürchte deren Spott und Ausschluss. Er sei daher zu allen erst mal auf Distanz gegangen und habe sich zurückgezogen. Generell fühle er sich derzeit stark verunsichert, es falle ihm schwer, seinen Alltag zu bewältigen, und er schildert Grübeln sowie starke Scham- und Schuldgefühle.
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OrientierungsexuelleWichtig ist, bei jedem Patienten eine heterosexuelle Orientierung nicht per se vorauszusetzen.
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Fragen zur sexuellen Orientierung, zu Partnerschaften oder sexuellen Kontakten sollten immer offen und nicht bewertend sein. Fragen an den Patienten wie: „Haben Sie eine Freundin?“, sollten aufgrund der implizierenden Norm vermieden werden.
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Fragen können wie folgt formuliert werden: „Leben Sie in einer Beziehung?“, „Haben Sie eine Partnerin oder einen Partner?“, „Sind sie verheiratet oder leben Sie in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft?“. Die meisten homo- und bisexuellen Menschen sind offen bezüglich ihrer Orientierung, wenn sie direkt, wertfrei und mit Selbstverständlichkeit und Akzeptanz danach gefragt werden.
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Der Patient zeigt eine depressive Stimmung, Ängste, Sorgen und zunehmenden sozialen Rückzug bei subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung im Rahmen eines Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung, was für eine depressive Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) spricht.
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Die sexuelle Orientierung an sich hat keinen Krankheitswert und stellt damit keine Diagnose dar.
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Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung suchen psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe aus den gleichen Gründen, jedoch häufiger als die Allgemeinbevölkerung (Jones und Gabriel 1999). Schwule, Lesben und Bisexuelle zeigen häufiger affektive Störungen, Angststörungen und Substanzmissbrauch (King 2008, Gilman et al. 2001). Zudem besteht ein höheres Suizidrisiko, vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Über 30 % der Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung haben einen Suizidversuch hinter sich (Cochran und Mays 2000, Paul et al. 2002, Plöderl et al. 2013). Die höhere Prävalenz psychischer Störungen in dieser Gruppe ist auf direkte oder latent erfahrene Diskriminierung (Meyer 2003) und damit verbundene spezifische psychische Entwicklungen (z. B. internalisierte Homophobie, Selbstentwertung oder starke Scham- und Schuldgefühle) zurückzuführen.
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Realisieren, dass man sich von der Mehrheit bezüglich seines sexuellen und emotionalen Erlebens unterscheidet, das Gefühl „anders“ zu sein
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„Sich-bewusst-Werden“ oder „Sich-Selbst-Eingestehen“, also die Erkenntnis über die eigene sexuellen Orientierung (sog. inneres Coming-out)
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„Sich-Erklären“, also das Coming-out bei Familie, Freunden oder Kollegen und Einnehmen einer offenen homo- oder bisexuellen Identität.
Kasuistik 2
Die 42-jährige Frau S. stellt sich in einer psychiatrischen Praxis mit der Frage vor, ob es möglich sei, sie von ihren homosexuellen Tendenzen zu heilen. Sie habe im Internet recherchiert, dass es dementsprechende Therapien gäbe und bittet um Beratung.
Frau S. wuchs in einem religiösen Umfeld in einem kleinen Dorf auf. Ihre Familie war stark in die Dorfgemeinde integriert. Homosexualität wurde allenfalls als Beispiel sündhaften Verhaltens thematisiert. Schon als Jugendliche fühlte sie sich von anderen Mädchen angezogen, was sie als Bewunderung für selbige wertete. Sie litt nicht unter diesen Gefühlen. Mit Anfang 20 heiratete sie einen Mann aus ihrer Gemeinde. Frau S. fühlte nie sexuelles Verlangen nach ihrem Mann und empfand weder Genuss noch Befriedigung während des Sexes. Sie nahm dies als gegeben hin und sah es als natürlichen Teil der Ehe. Das Ehepaar bekam zwei Kinder. Aufgrund einer neuen Arbeitsstelle des Ehemanns zog die Familie vor einigen Jahren in eine größere Stadt um. Frau S. befreundete sich mit der Mutter einer Schulfreundin ihrer Tochter, für die sie bald starke Gefühle mit sexuellen Fantasien entwickelte, die nun seit einem Jahr anhalten. Ihr sei klar, auch wenn sie an die Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend denke, dass sie eine homosexuelle Veranlagung haben könnte. Weder für ihren Mann noch für andere Männer habe sie je vergleichbare Gefühle entwickelt.
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Die Therapie sollte einen geschützten und freien Raum bieten, in dem die Patientin ihre Gefühle und Gedanken bezüglich ihrer sexuellen Orientierung reflektieren und im Weiteren eventuell neu bewerten und in das Selbstkonzept integrieren kann.
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Generell sollte die Therapie vor allem ich-stärkend sein und ohne Druck erfolgen, sich auf eine sexuelle Identität festlegen zu müssen.
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Geraten Patienten in einen schweren Konflikt aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, da diese z. B. im Widerspruch zu den eigenen moralischen, politischen oder religiösen Werten steht, sollten zunächst die Gründe und Auswirkungen dieses Konflikts wert- und vorurteilsfrei aufgearbeitet werden. Thematisch stehen hierbei v. a. Scham und Angst vor den eigenen Gefühlen, internalisierte Homophobie, Diskriminierungserfahrungen sowie die mit einer Entscheidung für eine sexuelle Orientierung verbundenen Lebensveränderungen im Mittelpunkt.
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Besteht eine Inkongruenz zwischen homosexuellem Verlangen einerseits und Selbst- und Fremdbild andererseits, sollte an Akzeptanz und Vereinbarkeit bzw. Annährung der scheinbar divergenten Aspekte gearbeitet werden.
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Im Weiteren sollte eine Therapie vor allem dann stützend sein, wenn bei Coming-out-Prozessen Verluste, Ausgrenzung oder Trennungen durchlebt werden.
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Es gibt zudem zahlreiche Hilfsangebote und Anlaufstellen für homo- und bisexuelle Menschen in Krisensituationen, auf die verwiesen werden kann. Im Falle der Patientin in der Kasuistik 2 könnte dies z. B. eine Gruppe für religiöse Homosexuelle, für den Patienten in der Kasuistik 1 könnte dies eine „Coming-out-Gruppe“, für seine Eltern eine Gruppe für Eltern mit lesbischen und schwulen Kindern sein.
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F66.0 Sexuelle Reifungskrise
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F66.1 Ich-dystone Sexualorientierung
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F66.2 Sexuelle Beziehungsstörung.
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Sogenannte Konversions- und reparative Verfahren haben die Änderung von gleichgeschlechtlichem Sexualverhalten und/oder der homosexuellen Orientierung in eine heterosexuelle zum Ziel.
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Die weltweit führenden Fachgesellschaften und Ärztekammern lehnen solche Behandlungsversuche als unethisch ab und warnen vor den negativen Folgen solcher Interventionen (u. a. Weltärztekammer WMA 2013; DGPPN 2013).
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Es gibt keinen Beleg für eine nachhaltige Veränderbarkeit der sexuellen Orientierung durch therapeutische Interventionen.
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Bei einem Teil der Behandelten wurden im Rahmen solcher Behandlungen Depressionen, Ängste und Suizidalität beschrieben (Beckstead und Morrow 2004, Shildo und Schroeder 2002), die möglicherweise durch Nichterreichen der versprochenen Therapieziele bedingt sind.
Literatur
Bartlett et al., 2009
Beckstead and Morrow, 2004
Cochran and Mays, 2000
De Monteflores, 1986
DGPPN, 2013
Frankowski, 2004
Gilman et al., 2001
Jones and Gabriel, 1999
King et al., 2008
Kinsey et al., 1948
Kinsey et al., 1954
Mahler, 2014
Meyer, 2003
Paul et al., 2002
Plöderl et al., 2013
Savin-Williams, 2006
Shildo and Schroeder, 2002
Wagner and Rossel, 2006
WMA, 2013