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978-3-437-23421-7
Elsevier GmbH
Juristische Aspekte in der Psychiatrie und psychiatrische Begutachtung
20.1
Grundbegriffe der Forensischen Psychiatrie
20.1.1
Strafrecht
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Schuldfähigkeit von psychisch kranken Rechtsbrechern (§§ 20, 21 StGB)
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•
Kriminalprognose von vermindert/nicht schuldfähigen Straftätern (§§ 63, 64, 67 d StGB)
-
•
Gefährlichkeitsbeurteilung von langjährig untergebrachten Häftlingen, wenn eine Entlassung bei lebenslanger Freiheitsstrafe oder zeitiger Freiheitsstrafe von mehr als 2 Jahren bei bestimmten Straftaten (§§ 57, 57a StGB i. V. m. § 454 Abs. 2 StPO) erwogen wird
-
•
Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen.
Kasuistik 1a
Gegen einen 37-jährigen arbeitslosen Elektroinstallateur wird wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt, weil er verdächtigt wird, auf offener Straße einer ihm völlig unbekannten Frau mit einer leeren Bierflasche mehrfach gegen den Kopf geschlagen und ihr dadurch zahlreiche Platz- und Schnittwunden zugefügt zu haben. Unmittelbar nach der Tat wird der Täter, der auf die ihn vernehmenden Polizeibeamten „verwirrt“ gewirkt hatte, per PsychKG in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen. Dort gibt er an, im Vorfeld der Tat bereits mehrere Stunden lang angstgetrieben durch die Straßen gelaufen zu sein, da er der Überzeugung gewesen sei, das Weltende und die Übernahme der Macht durch „Dämonengötter“ stehe nun unmittelbar bevor und es seien bereits nahezu alle Menschen durch Zombies ausgetauscht worden. Er habe dann in dem ihm fremden Tatopfer eine vom Satan geschickte Hexe erkannt, die im Begriff gewesen sei, auch ihn in einen Zombie zu verwandeln. Er selbst habe sich plötzlich, in einem Akt der „Fernsteuerung durch die guten Mächte“ als „Werkzeug der Vorsehung“ begriffen und, nach verbaler Aufforderung durch einen „positiven Dämonen“, die Frau zu seiner eigenen und der Welt Rettung mit der Flasche attackiert.
Psychopathologisch wird bei der Aufnahmeuntersuchung in der Klinik im formalen Denken eine ausgeprägte Weitschweifigkeit bis hin zur inkohärenten Themenwahl beschrieben, inhaltlich zeigen sich teils religiös gefärbte, teils von satanistischen Ideen geprägte Wahngedanken mit hoher Wahndynamik. Ich-Störungen finden sich im Sinne von Fremdbeeinflussungserleben, es bestehen Wahrnehmungsstörungen in Form von Stimmenhören mit imperativem Charakter. Die Stimmung ist euthym bei gleichgültig-flachem Affekt mit deutlich reduzierter Schwingungsfähigkeit und parathymen Reaktionen.
-
•
paranoide Schizophrenie
-
•
anhaltende wahnhafte Störung
-
•
drogeninduzierte Psychose
-
•
organisch begründete psychotische Störung.
Schuldfähigkeitsbegutachtung
-
1.
Krankhafte seelische Störungen im strafrechtlichen Sinne können sein:
-
–
akute exogene Psychosen (z. B. Intoxikationen, delirante Zustände)
-
–
„endogene“ Psychosen (Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis und affektive Erkrankungen)
-
–
Abhängigkeitserkrankungen
-
–
degenerative Hirnerkrankungen.
-
-
2.
Eine tief greifende Bewusstseinsstörung kann auch bei psychiatrisch ansonsten gesunden Menschen auftreten und meint einen schwergradigen psychischen Ausnahmezustand, durch den das seelische Gefüge des Täters gestört oder erheblich erschüttert ist („Affektdelikte“). Solche Zustände treten infolge von massiven affektiven Erregungen wie Wut oder Angst auf und erfordern für eine mögliche De- oder Exkulpierung eine besonders exakte Analyse der Tatumstände und -dynamik.
Die typischen Merkmale einer Affekttat sind:
-
–
charakteristisch eskalierende Vorgeschichte mit einer Aufschaukelung der affektiven Erregung
-
–
abrupter Tatablauf ohne geplante Sicherungsmanöver des Täters
-
–
Folgeverhalten mit schwerer seelischer Erschütterung, Erinnerungs- und Wahrnehmungsstörungen im Zusammenhang mit dem Tatgeschehen
-
–
Persönlichkeitsfremdheit der Tat
-
–
psychopathologische Persönlichkeitsdisposition (vgl. z. B. Saß 1983).
-
-
3.
Das Eingangsmerkmal Schwachsinn umfasst die nicht eindeutig organisch bedingten Formen der Intelligenzminderung (also nicht Altersdemenzen oder genetisch definierte Formen der Minderbegabung). Für die Anwendung dieses Merkmals werden jedoch nicht allein eine deutliche intellektuelle Beeinträchtigung (IQ-Wert von höchstens 80 im Hamburg-Wechsler-Intelligenztest), sondern darüber hinaus auch Alterationen der Persönlichkeit und sozialen Verhaltensweisen des Täters gefordert, die zu einer tatfördernden Disposition geführt haben (z. B. vermehrte Erregbarkeit und Impulsivität, gestörte Handlungsplanung in komplexen Situationen, leichte Verführbarkeit).
-
4.
Das in der Praxis am häufigsten zu einer De- oder Exkulpierung führende Eingangsmerkmal ist die schwere andere seelische Abartigkeit. Hierunter werden
-
–
Persönlichkeitsstörungen
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–
sexuelle Devianzen
-
–
neurotische Entwicklungen
-
–
primäre Störungen der Impulskontrolle
-
–
chronische Substanzmissbrauchsformen ohne körperliche Abhängigkeit und
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–
wahnhafte Entwicklungen zusammengefasst.
-
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•
die Unrechtmäßigkeit seiner Tat zu erkennen (EinsichtsfähigkeitEinsichtsfähigkeit) und
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•
gemäß dieser Einsicht zu handeln (SteuerungsfähigkeitSteuerungsfähigkeit) bzw. sich zu entscheiden, die Tat zu unterlassen oder den Tatvorgang zu unterbrechen (Hemmungsvermögen).
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•
ausführliche Planung und Vorbereitung der Tat
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komplexes, lang hingezogenes Tatgeschehen
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planvolle Sicherung gegen Entdeckung
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•
Auftreten von anderen Verhaltensmustern in ähnlichen Situationen.
Kasuistik 1b
Beim Patienten wird eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Im Rahmen der psychiatrischen Behandlung kommt es nach anfänglicher Therapieresistenz erst nach Einstellung auf Clozapin zu einer deutlichen Reduktion der floriden psychotischen Symptomatik. Zum Begutachtungszeitpunkt zeigt der Proband Einsicht in seine Krankheit und deren Behandlungsnotwendigkeit, befindet sich in regelmäßiger ambulanter psychiatrischer Behandlung und ist im psychopathologischen Befund von den wahnhaften Gedankeninhalten weitgehend distanziert.
Anamnestisch sind seit der Jugend bereits vier akut-psychotische Episoden aufgetreten; durch den unregelmäßigen Gebrauch von Cannabis kam es in der Vergangenheit zu einer Verschlechterung der Psychopathologie. Diesbezüglich besteht keine Krankheitseinsicht. Bislang ist es noch nicht zu strafrechtlich relevanten Delikten gekommen.
-
•
Cannabiskonsum mit Symptomverstärkung der Schizophrenie
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•
fehlende Krankheitseinsicht hinsichtlich des Cannabiskonsums.
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Episodenhaftigkeit der Schizophrenie mit Besserung unter Clozapin
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•
Krankheitseinsicht
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•
Behandlungsbereitschaft
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•
regelmäßige ambulant-psychiatrische Vorstellungen.
-
•
Auferlegen von Weisungen für den Täter, z. B. regelmäßige nervenärztliche Vorstellungen
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•
regelmäßige Einnahme von Medikamenten mit Mindestdosen und/oder Applikationsform (z. B. Depotneuroleptika)
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•
Inanspruchnahme spezieller Wohnmaßnahmen für psychisch Kranke.
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•
worin genau die Gefährlichkeit bestanden hat (überdauernde vs. situative Faktoren)
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•
was sich bei dem Täter seitdem geändert hat (Verhalten im Vollzug, Therapieverlauf, Lebensverhältnisse)
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•
inwiefern sich insbesondere die psychischen Risikofaktoren geändert haben
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•
wie stabil und zukunftsgerichtet diese Veränderungen sind
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•
wie die sozialen Rahmenbedingungen im Falle einer Entlassung beschaffen sind.
Betäubungsmittelrecht
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•
nicht verkehrsfähige (Anlage I)
-
•
verkehrsfähige, aber nicht verschreibungsfähige (Anlage II)
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•
verkehrsfähige und verschreibungsfähige (Anlage III) Betäubungsmittel.
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•
legale Genussmittel (Alkohol, Nikotin etc.)
-
•
verschreibungsfähige suchterzeugende Mittel (Barbiturate, Benzodiazepine etc.)
-
•
BtMG-pflichtige Medikamente (Morphin, andere Opiate etc.)
-
•
illegale Drogen (Cannabis, LSD etc.).
Verhandlungs- und Haftunfähigkeit
-
•
Demenzen, Intelligenzminderungen und schwere organische Psychosen dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit bedingen
-
•
akute floride Schizophrenien und Manien führen in aller Regel nur zu vorübergehender Aufhebung der Verhandlungsfähigkeit.
-
•
Behandlung in einem Haftkrankenhaus
-
•
einstweilige Einweisung in den Maßregelvollzug nach § 126 a StGB.
20.1.2
Sozialrecht
Kasuistik 2
Ein U-Bahn-Zugführer hat einen Menschen überfahren. Die überrollte Person stirbt an den Folgen der Verletzungen. Der Zugführer entwickelt im Verlauf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). In direkter Folge sieht er sich außer Stande, einen U-Bahnzug zu führen. Mehrfache Versuche, die Tätigkeit wieder aufzunehmen, scheitern daran, dass die Symptome der PTBS zunehmen. Der U-Bahnfahrer gibt zu verstehen, dass er diese Tätigkeit keinesfalls wieder aufnehmen könne, sei aber in der Lage, eine andere Tätigkeit bei der Bahngesellschaft auszuführen. Das Ergebnis der Begutachtung lautet, dass diese alternative Tätigkeit regelmäßig auf absehbare Zeit nur für maximal 3 Stunden täglich möglich ist.
-
•
Es muss ein innerer Zusammenhang bestehen („Ist das schadenbringende Ereignis der versicherten Tätigkeit zuzurechnen?“).
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•
Es muss eine haftungsbegründende Kausalität (Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung) bestehen.
-
•
Es muss eine haftungsausfüllende Kausalität (Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und dem eingetretenen Schaden) bestehen.
Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI)
-
•
Dauer des bisherigen Verlaufs, Chronizität der Störung (vorausgegangene Remissionen, ggf. nach therapeutischen Interventionen?)
-
•
bisher durchgeführte Therapiemaßnahmen (ambulante/stationäre Therapien? Erfolg derselben? nicht genutzte Therapieoptionen?)
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•
(Miss-)Erfolg vorausgegangener beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen.
Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII)
Soziales Entschädigungsrecht (BVG, OEG, SVG etc.)/Schwerbehindertenrecht (SGB IX)
20.1.3
Zivilrecht
Geschäftsfähigkeit
Kasuistik 3a
Ein 82-jähriger verwitweter, allein in seiner Wohnung lebender Rentner wird nach einem häuslichen Sturz wegen einer Humeruskopffraktur stationär behandelt. In diesem Zusammenhang stellt sich heraus, dass der Patient offenbar seit Monaten aus Angst vor einer Verfolgung durch seine nach dem Erbe trachtenden Enkel seine erheblich verwahrloste Wohnung nicht mehr verlassen hat und nur noch sehr sporadisch von einem Lieferservice gebrachte Lebensmittel zu sich genommen hat. Der sonst gesundheitsbewusste Patient hat außerdem die medikamentöse Behandlung seiner internistischen Erkrankungen (Hypertonie, Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus) vernachlässigt und seinen Hausarzt nicht mehr aufgesucht. Das Laborprofil zeigt einen Blutglukosespiegel von 220 mg/dl, eine Leukozytose von 21.000 und ein CRP von 31 mg/dl. Die Hilfsangebote des Krankenhauspersonals lehnt er vehement ab, da er nicht krank sei, keiner Hilfe bedürfe und außerdem wisse, dass die Ärzte mit seinen Enkeln unter einer Decke steckten.
-
•
wahnhafte Störung
-
•
organisch bedingte wahnhafte Störung
-
•
Delir
-
•
demenzielle Erkrankungen.
-
•
den für die Entscheidung relevanten Sachverhalt zu verstehen (Verständnis),
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•
ihn im Hinblick auf seine gegenwärtige Situation und die sich daraus ergebenden Folgen und Risiken zu verarbeiten (Verarbeitung),
-
•
zu erfassen, welchen Wert die betroffenen Interessen für ihn haben und zwischen welchen Möglichkeiten er wählen kann (wichtig ist die Bezugnahme auf die – nicht durch Krankheit verzerrte – Werthaltung des Betroffenen) (Bewertung),
-
•
den eigenen Willen auf der Grundlage von Verständnis, Verarbeitung und Bewertung der Situation zu bestimmen (Bestimmbarkeit des Willens; vgl. Helmchen und Lauter 1995).
Kasuistik 3b
Dem Patienten wird hinsichtlich der Humeruskopffraktur, der internistischen Erkrankungen und der psychiatrischen Symptomatik eine weitere Diagnostik empfohlen. Der Patient lehnt dies strikt ab. Er wiederholt, nicht krank zu sein und besteht darauf, das Krankenhaus sofort zu verlassen.
20.1.4
Unterbringungsrecht
-
•
im Strafrecht die §§ 63, 64 StGB und §§ 81, 126 a StPO (Maßnahmen zum Schutz der Öffentlichkeit)
-
•
im Zivilrecht der § 1906 BGB (Maßnahmen zum Wohl/Schutz des Betroffenen)
-
•
im öffentlichen Recht die landeshoheitlichen Unterbringungsgesetze/PsychKGs (Maßnahmen sowohl zum Schutz der Öffentlichkeit als auch zum Wohl/Schutz des Patienten).
Öffentlich-rechtliche Unterbringung
20.2
Juristische Aspekte verschiedener psychiatrischer Störungen
20.2.1
Hirnorganische Erkrankungen
-
•
Lokalisation der Läsion (z. B. orbitofrontaler Kortex)
-
•
soziale/biografische Faktoren (z. B. Verlust sozialer Bindungen, Isolation, frühere Delinquenz)
-
•
Art und Ausmaß der Psychopathologie (z. B. Reizbarkeit, Orientierungsstörungen, Verlust von Schamgefühl, Rücksichtslosigkeit).
20.2.2
Affektive Störungen
Kasuistik 4
Ein 44-jähriger Immobilienmakler mit einer langjährig bestehenden, bislang ambulant behandelten bipolaren affektiven Störung begeht im Rahmen einer erstmals schwergradig ausgeprägten depressiven Episode einen Suizidversuch durch Injektion von Insulin und wird daraufhin stationär-psychiatrisch auf ein trizyklisches Antidepressivum eingestellt. Einige Monate später fällt er durch von Tag zu Tag zunehmende inadäquate Verhaltensweisen am Arbeitsplatz auf, indem er auffällig gekleidet das Büro betritt und der ihn darauf hinweisenden Sekretärin aggressiv und beleidigend den Mund verbietet. Während der Betreuung einer Kundin legt er eine inadäquate und sexuell anzügliche Verhaltensweise an den Tag. Der Ehemann der Kundin droht mit einer Anzeige, worauf der Patient mit körperlicher Gewalt reagiert. Die Betroffenen erstatten Anzeige wegen Beleidigung und Körperverletzung.
20.2.3
Schizophrenie und andere psychotische Störungen
20.2.4
Substanzinduzierte Störungen
Kasuistik 5a
Zur strafrechtlichen Begutachtung der Schuldfähigkeit gelangt eine bislang psychiatrisch unauffällige 18-jährige Schülerin, gegen die wegen Gefährdung des Straßenverkehrs und Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz ermittelt wird. Im Vorfeld der Tat verbringt die Probandin den Großteil der Nacht in einer Diskothek, wo sie ab Mitternacht fünf Tequila à 4 cl (40 Vol.%) zu sich nimmt und drei Joints raucht. Um 2:30 Uhr ruft sie eine Freundin an und teilt dieser mit, sie wolle sich nun das Leben nehmen, da sie in der letzten Nacht ihr Freund verlassen habe. Die Freundin beschreibt die Schülerin als „schwer betrunken“. Als kurz darauf die von der Freundin verständigte Polizei eintrifft, flieht die Probandin in äußerst erregtem Zustand mit dem Auto des Vaters und liefert sich eine einstündige Verfolgungsjagd mit der Polizei, bei der unter anderem zwei Dienstfahrzeuge beschädigt werden, da die Probandin die sich ihr in den Weg stellenden Fahrzeuge mit ihrem Fahrzeug rammt. Schließlich hält die Flüchtige spontan an und lässt sich von der Polizei widerstandslos in eine psychiatrische Klinik bringen.
-
•
akute Intoxikation mit Alkohol und Cannabis
-
•
akute Intoxikation mit Alkohol und Cannabis mit Delir/Wahrnehmungsstörungen
-
•
akute Intoxikation mit Alkohol und Cannabis mit pathologischem Rausch.
Merke
Der Begriff „pathologischer Rausch“ wird von der ICD-10 und der juristischen Kommentarliteratur verwendet und daher der Vollständigkeit halber auch hier genannt. Er ist jedoch unscharf definiert, als Kategorie nicht empirisch belegt und wurde eher zur Abgrenzung exkulpierungsrelevanter Intoxikationsformen eingeführt. Seine weitere Verwendung wird daher infrage gestellt (Venzlaff und Foerster 2015).
Kasuistik 5b
In der Klinik erklärt die Frau, dass dies eine Verzweiflungstat gewesen sei, da sie angesichts der Einschaltung der Polizei völlig den Kopf verloren habe. Üblicherweise trinke sie nur 1–2 Bier an Wochenendtagen und konsumiere einmal im Monat Cannabis. Zum Aufnahmezeitpunkt finden sich keine Bewusstseinsstörungen, Desorientierung, Erinnerungslücken oder psychotische Symptome. Die um 4:00 Uhr, eine Stunde nach der Tat, entnommene Blutprobe enthält eine Blutalkoholkonzentration von 0,6 ‰; des Weiteren werden hohe Konzentrationen von Tetrahydrocannabinol (THC) und Hydroxy-THC festgestellt. Das Körpergewicht der Patientin beträgt 60 kg.
-
1.
Berechnung der Ethanolmenge: 200 ml Tequila ≙ 80 ml Alkohol ≙ 64 g Alkohol
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2.
Abzug eines Resorptionsdefizits von 20 %: 64 g – 12,8 g = 51,2 g
-
3.
errechnete BAK = 51,2 / (60 × 0,6) = 1,42 ‰
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4.
minimale BAK zur Tatzeit: 1,42 ‰ – 3 × 0,2 ‰ = 0,82 ‰
-
5.
maximale BAK zur Tatzeit: 1,42 ‰ – 3 × 0,1 ‰ = 1,12 ‰
Alkohol
-
•
leichter Rausch: Euphorisierung, Stimmungslabilität, Enthemmung, Rededrang, vermehrte Aktivität, subjektiv erhöhte Leistungsfähigkeit bei objektiver Abnahme der intellektuellen und psychomotorischen Leistungen. Neurologisch: Leichte Koordinationsstörungen, Störungen der Augenmotilität
-
•
mittelgradiger Rausch: Euphorie oder Gereiztheit, Enthemmung, Benommenheit, psychomotorische Unsicherheit, Impulsivität, Triebdurchbrüche, Sprunghaftigkeit und Ziellosigkeit des Handelns, Perseverationsneigung, explosible, auch gewalttätige Reaktionsweisen. Neurologisch: Ataxie, Nystagmus, Intentionstremor, Sprechstörungen
-
•
schwerer Rausch: Bewusstseinsstörungen, Desorientiertheit, illusionäre Verkennungen, Verlust des Situationsbezugs, motivationslose Angst oder Erregung. Neurologisch: Stand- und Rumpfataxie, Somnolenz, Koma.
-
•
genaue Vorbereitung und planmäßige Durchführung der Tat
-
•
Fähigkeit zu logischen und schlüssigen Handlungssequenzen bei Tatabläufen mit komplexen motorischen Verrichtungen
-
•
lang hingezogenes Tatgeschehen
-
•
umsichtiges Reagieren auf unerwartete Situationen
-
•
geordnetes Rückzugsverhalten.
-
•
Orientierungsprobleme,
-
•
Personenverkennungen,
-
•
Aufmerksamkeitsstörungen
-
•
alkoholbedingter demenzieller Entwicklung
-
•
alkoholbedingter Persönlichkeitsdepravation
-
•
Alkoholhalluzinose etc.
Illegale Drogen
-
•
direkte Straftaten (Straftaten zum unmittelbaren Drogenerwerb mit niedriger Hemmschwelle und meist unstrukturiertem Tatablauf)
-
•
indirekte Beschaffungskriminalität (Straftaten zum Gelderwerb zwecks Drogenbeschaffung mit oft differenziertem Tatverhalten) sowie
-
•
konsumunabhängige Taten, etwa Aggressions- oder Eigentumsdelikte.
20.2.5
Persönlichkeitsstörungen
Kasuistik 6
Ein 20-jähriger alkoholabhängiger Mann mit einer bereits seit 5 Jahren währenden Delinquenzvorgeschichte mit zahlreichen Diebstählen, Einbrüchen und Körperverletzungen von progredientem Schweregrad mit mehreren Aufenthalten im Jugendstrafvollzug wird erneut festgenommen, nachdem er eine in einem Lokal kennengelernte Frau unter Anwendung sadistisch geprägter Verhaltensweisen über 3 Stunden sexuell missbraucht und vergewaltigt hat, weil diese seinen sexuellen Wünschen nicht nachgekommen war. Anschließend beseitigte der Täter die Spuren und drohte dem Opfer mit erneuter Gewalt, wenn Anzeige erstattet würde.
Unmittelbar nach der Tat wird eine Blutalkoholkonzentration von 2,6 ‰ festgestellt. Der Festgenommene zeigt zu diesem Zeitpunkt keine wesentlichen Zeichen eines Rausches, neurologischer oder kognitiver Defizite.
Bei der strafrechtlichen Begutachtung zeigt der Proband im psychopathologischen Befund eine deutlich vermehrte Reizbarkeit mit Neigung zu aggressiv getöntem impulsivem Verhalten, eine ausgeprägte Pseudologia phantastica, fehlendes Schuldbewusstsein für die begangene Tat („Opfer ist selbst schuld“) sowie ein nur sehr gering ausgeprägtes Verantwortungsgefühl hinsichtlich Verpflichtungen und Regeln in den üblichen sozialen Normen- und Wertesystemen. Die Stimmungslage ist gleichgültig bis moros, die Empathiefähigkeit erheblich vermindert.
-
•
Steuerungsfähigkeitdas komplexe und lang hingezogene Tatgeschehen
-
•
die planvolle Sicherung gegen Entdeckung
-
•
ähnliche Handlungen in anderen Situationen (vormalige Delinquenz).
-
•
wiederholte Straffälligkeit mit zunehmender Schwere der Taten
-
•
dissoziale Persönlichkeitsstörung mit eingeschliffenen delinquenzbegünstigenden Charaktermerkmalen wie fehlendem Schuldbewusstsein, defizitärer Bindung an Regeln und Normen, fehlender Beeindruckbarkeit und geringer Empathie
-
•
zusätzliche Alkoholabhängigkeit.
20.2.6
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
Kasuistik 7
Eine 57-jährige Buchhalterin klagt vor dem Sozialgericht wegen Nichtgewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente durch den gesetzlichen Rentenversicherer. Sie leidet unter schweren, seit Jahren dauerhaft vorhandenen und therapieresistenten Schmerzen in der gesamten Muskulatur, in der Wirbelsäule und in den Gelenken, die sie auf eine Rheumaerkrankung zurückführt, wobei allerdings die zahlreichen diesbezüglichen Untersuchungen keine entsprechenden Befunde ergeben haben. Vor 5 Jahren hat sie im Gefolge zahlreicher Krankschreibungen ihren Arbeitsplatz verloren und seitdem ein progredientes soziales Rückzugsverhalten entwickelt. Eine psychosomatische Rehabilitationsmaßnahme vor 3 Jahren brachte nur eine vorübergehende Besserung. Andere stationäre oder ambulante Therapien sind nicht erfolgt. Die Probandin führte in dieser Zeit selbstständig Haushalt und Garten und war in einem Verein als Schriftführerin tätig.
Im psychopathologischen Befund besteht eine mäßiggradige depressive Verstimmung mit deutlicher gedanklicher Einengung und Perseverationsneigung in Bezug auf die Beschwerdesymptomatik und deren psychosozialen Folgeerscheinungen. Ferner imponiert eine deutliche Diskrepanz zwischen den subjektiv empfundenen Beschwerden und der objektiven Performance bei der somatisch-neurologischen Untersuchung, die die Probandin ohne Zeichen einer Beeinträchtigung durch Schmerzen absolviert.
-
A.
Leistungsprofil bei den Aktivitäten des täglichen Lebens
-
B.
Diskrepanz zwischen der subjektiven Beschwerdesymptomatik und der objektiven Performance in der Gutachtensituation
-
C.
Diskrepanz zwischen der subjektiven Beschwerdesymptomatik und der objektiven Performance in der biografischen Anamnese
-
D.
berufliche Leistungsfähigkeit und Entwicklung vor der Arbeitsunfähigkeit.
-
1.
langjähriger, chronifizierter Verlauf der Störung mit beständiger Progredienz
-
2.
regelmäßig durchgeführte ambulante Therapie
-
3.
bereits durchgeführte mehrfache stationäre Therapieversuche mit unterschiedlichen Behandlungskonzepten
-
4.
vorausgegangenes Scheitern von Rehabilitationsmaßnahmen.
-
1.
abnorme Erlebnisreaktion/akute Belastungsreaktion nach Trauma/Unfall
-
2.
chronisch verlaufende abnorme Entwicklungen bei primär selbstunsicheren Menschen
-
3.
posttraumatische Belastungsstörungen bei vorher psychisch unauffälligen Menschen
-
4.
Aktualisierung einer vorbestehenden neurotischen Störung.
-
•
Vermeidungsverhalten (Vermeidung von Verantwortung, Strafe etc.)
-
•
sekundärer Krankheitsgewinn
-
•
Wunsch nach Vergeltung/Entschädigung (z. B. nach Arbeitsplatzverlust oder Kränkungen).
-
•
ungenaue und wechselhafte Beschwerdeschilderung
-
•
fehlende Übereinstimmung von geklagten Beschwerden und Anamnese/Befund
-
•
Hinweise auf selbst zugefügte Verletzungen oder merkwürdige Unfälle
-
•
für die bekannten Erkrankungen untypische Beschwerdekonstellationen
-
•
im Vordergrund stehende schwer objektivierbare Symptome
-
•
mangelhafte Kooperativität bei notwendigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen.
20.2.7
Sexuelle Devianz
-
•
Pädophilie (25–30 % aller Sexualstraftaten)
-
•
Exhibitionismus (20 %)
-
•
Ferner finden sich sadomasochistische Handlungen, Inzest und familiäre Sexualdelinquenz sowie sexuell motivierte Tötungen.
-
•
deviantes Verhalten als sporadischer Impuls bei besonderem Anlass
-
•
deviante Reaktion als habituelles Konfliktlösungsmuster
-
•
sexuelle Befriedigung kann nur durch deviantes Verhalten erlebt werden
-
•
stabile deviante Entwicklung mit Änderung der Persönlichkeitsstruktur.
-
•
Ausmaß der Determiniertheit des devianten Verhaltens und dessen bisherige Progression
-
•
Objektbezogenheit der Impulse
-
•
Intensität des abweichenden Verhaltens
-
•
Verarbeitung der Deviation (ich-synton oder ich-dyston)
-
•
Abhängigkeit von spezifischen Lebenssituationen.
Literatur
Feuerlein et al., 2008
Foerster, 1996
Helmchen and Lauter, 1995
Kröber et al
Nedopil and Müller, 2012
Saß, 1983
Schorsch and Pfäfflin, 1994
Venzlaff and Foerster, 2015
Winckler and Foerster, 1998
Witter, 1986