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10.1016/B978-3-437-22485-0.00018-X
978-3-437-22485-0
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Abb. 18.1

[L235]
Verlauf des Körpergewichts bei Ratten, die entweder nach Zugang zur Nahrung ad libitum oder nach NahrungsdeprivationNahrungsdeprivation Amphetamin als appetithemmende Substanz erhielten. In der Phase der Amphetaminbehandlung hatten alle Tiere Zugang zum Futter ad libitum (nach Levitsky et al. 1976).
Abb. 18.2

(nach Berger 1989) [L235]
Somatische Symptome der Anorexia Anorexia nervosasomatische Symptome/Folgennervosa und Bulimia Bulimia nervosasomatische Symptome/Folgennervosa
Gestörte Funktionen, sinnvolle therapeutische Ziele und Bereiche sowie spezielle Maßnahmen zur Therapie der Anorexia nervosa und bulimischer SyndromeAnorexia nervosaspezielle MaßnahmenBulimia nervosaspezielle MaßnahmenBinge-Eating-Störungspezielle MaßnahmenAnorexia nervosaTherapiezieleBulimia nervosaTherapie(ziele)Binge-Eating-StörungTherapie(ziele)Anorexia nervosagestörte FunktionenBulimia nervosagestörte FunktionenBinge-Eating-Störunggestörte Funktionen
Gestörte Funktionen bzw. Grund für Maßnahmen | Therapeutische Ziele und Bereiche | Spezielle Maßnahmen |
Informationsdefizite | Vermittlung von Informationen über:
|
|
Störung der interozeptiven und emotionalen Wahrnehmung | Wahrnehmungstraining |
|
Störung des emotionalen Ausdrucks | Training des emotionalen Ausdrucks |
|
Dysfunktionale, irrationale Gedanken, Überzeugungen und Werthaltungen | Kognitive Therapie |
|
Chronische Belastungen im sozialen Umfeld und ineffiziente Interaktionen | Einbeziehung des sozialen Umfelds |
|
Pathologisches Ernährungsverhalten | Ernährungsberatung |
|
Passivität und mangelnde Übernahme von Verantwortung sowie unzureichendes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten | Aktivierung eigener Initiative und Verantwortung |
|
Angst vor Rückfall | Erhaltungsprogramm |
|
Anorektische und bulimische Essstörungen
-
18.1
Terminologie557
-
18.2
Diagnostische Kriterien557
-
18.3
Epidemiologie und Verlauf558
-
18.4
Symptomatik und Typisierung559
-
18.5
Ätiologie und Pathogenese von Anorexia nervosa und bulimischen Essstörungen561
18.5.1
Biologische Faktoren561
18.5.2
Gezügeltes Essverhalten: Hungern, Fasten, Diäten und Starvation561
18.5.3
Soziokulturelle Einflüsse562
18.5.4
Ängste und Pubertät562
18.5.5
Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und BES im Zusammenhang mit Sucht562
18.5.6
Essstörungen als affektive Erkrankung563
18.5.7
Sollwert-Theorie zur Regulation des Körpergewichts563
18.5.8
Hypothese der erhöhten Außenreizabhängigkeit für die Entstehung von Essattacken563
18.5.9
Folgen gestörten Essverhaltens564
-
18.6
Differenzialdiagnostischer Prozess565
-
18.7
Therapie565
18.1
Terminologie
18.2
Diagnostische Kriterien
18.2.1
ICD-10/11
Box 18.1
Diagnostische Kriterien für die Anorexia nervosa nach ICD-10
Box 18.2
Diagnostische Kriterien für die Bulimia nervosa nach ICD-10
-
1.
Selbstinduziertes Erbrechen
-
2.
Missbrauch von Abführmitteln
-
3.
Zeitweilige Hungerperioden
-
4.
Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika; tritt die Bulimie bei Diabetikern auf, kann es zur Vernachlässigung der Insulintherapie kommen.
Ausblick auf ICD-11
18.2.2
DSM-5 
Tiefer gehende Informationen
Kap. 18.2.2 mit den DSM-5-Kriterien für Anorexia nervosa (Box 18.3), Bulimia nervosa (Box 18.4) und Binge-Eating-Störung (Box 18.5) finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/online-Kap-18-2-2. Binge-Eating-StörungDSM-5-DiagnosekriterienAnorexia nervosaDSM-5-DiagnosekriterienBulimia nervosaDSM-5-Diagnosekriterien
Box 18.3
Diagnostische Kriterien für die Anorexia nervosa nach DSM-5 (APA 2015)
1
Anm. d. Autors: besser „Essattacken“.
Box 18.4
Diagnostische Kriterien für die Bulimia nervosa nach DSM-5 (APA 2015)
-
1.
Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraums von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.
-
2.
Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B: das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder keine Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).
Box 18.5
Diagnostische Kriterien für die Binge-Eating-Störung nach DSM-5 (APA 2015)
-
1.
Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraums von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.
-
2.
Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B: das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder keine Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).
-
1.
Wesentlich schneller essen als normal.
-
2.
Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl.
-
3.
Essen großer Nahrungsmengen, wenn man sich körperlich nicht hungrig fühlt.
-
4.
Alleine essen aus Scham über die Menge, die man isst.
-
5.
Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem übermäßigen Essen.
-
•
Vorliegen von KörperschemastörungenKörperschemastörungEssstörungenKörperschemastörung
-
•
Störungen der proprio- und interozeptiven sowie der emotionalen Wahrnehmung
-
•
Ein alles durchdringendes Gefühl eigener UnzulänglichkeitEssstörungenUnzulänglichkeitsgefühl
Resümee
Die wesentlichen Essstörungen gemäß DSM-5 (APA 2013) und der künftigen ICD-11 der WHO sind die Anorexia nervosa (AN, Magersucht), die Bulimia nervosa (BN) und die Binge-Eating-Störung (BES). Als weitere Störungen der Nahrungszufuhr sind in den amerikanischen Diagnosekriterien DSM-5 und den internationalen Diagnosekriterien ICD-11 (Beta-Version) definiert: Pica, Rumination (Wiederkäuen), vermeidend-restriktive Störung der Nahrungszufuhr sowie nicht näher bezeichnete Störungen der Nahrungszufuhr oder des Essverhaltens.
18.3
Epidemiologie und Verlauf
18.3.1
Anorexia nervosa (AN)
18.3.2
Bulimia nervosa (BN)
18.3.3
Binge-Eating-Störung (BES)
Resümee
Die gesamte Evidenz spricht dafür, dass die Häufigkeit der Anorexia nervosa (AN) im 20. Jh. deutlich zugenommen hat. Frauen sind wesentlich häufiger betroffen als Männer (12:1-Verhältnis). Das 1980 definierte Krankheitsbild der Bulimia nervosa (BN) nach der DSM-Klassifikation und das der 2013 definierten Binge-Eating-Störung (BES) sind beide häufiger als Magersucht.
Der Verlauf von Magersucht ist deutlich ungünstiger als der von BN und BES. Wie viele Katamnesen zeigen, ist Magersucht eine der psychischen Erkrankungen mit der in der entsprechenden Altersstufe höchsten Mortalitätsrate. Ein günstigerer Verlauf zeigt sich bei AN-Patientinnen, die bereits in der frühen oder mittleren Adoleszenz behandelt werden (Fisher et al. 2010).
18.4
Symptomatik und Typisierung
18.4.1
Anorexia nervosa
18.4.2
Bulimia nervosa
18.4.3
Binge-Eating-Störung
Adipositas | BMI |
Grad 1 | 30–34,9 |
Grad 2 | 35–39,9 |
Grad 3 (Adipositas permagna) | ≥ 40 |
Resümee
Bei der Anorexia nervosa wird ein restriktiver (asketischer) und ein bulimischer Typ unterschieden. Patienten mit BN sind definitionsgemäß nicht untergewichtig und meist normalgewichtig; nach oben hin besteht den diagnostischen Kriterien zufolge keine Gewichtsgrenze. Patienten mit einer BES sind nicht immer, aber doch relativ oft übergewichtig oder adipös, zumal sie keine unangemessenen, einer Gewichtszunahme gegensteuernden Maßnahmen (z. B. Erbrechen, Laxanzien- oder Diuretikaabusus) ergreifen. Anders als bei der BN stehen bei vielen BES-Betroffenen Diäten nicht am Anfang, sondern in der weiteren Folge der Essstörung. Es besteht wie bei AN und BN eine hohe psychiatrische Komorbidität mit depressiven, Angst- und bipolaren Störungen und weniger häufig mit Störungen durch psychotrope Substanzen. Der Stolz auf eine Fastenleistung bzw. das Essen in einer Heißhungerattacke hat kurzfristig emotional stabilisierende Funktion und wirkt deshalb verstärkend. Erbrechen oder andere gegenregulierende Maßnahmen dienen i. d. R. nur der Verhinderung einer Gewichtszunahme. Essattacken haben meist Schamgefühle zur Folge.
Im DSM-5 verbleiben noch zwei Restkategorien: „andere spezifizierte Störungen der Nahrungsaufnahme oder EssstörungenEssstörungenRestkategorien“ (307.59) sowie „nicht spezifizierte Störungen der Nahrungszufuhr oder Essstörungen“ (307.50). Die Restkategorien beinhalteten nach den ICD-10- und DSM-IV-Kriterien ca. 60 % der Essstörungsdiagnosen behandelter Patienten. In den Kriterien nach DSM-5 und ICD-11 (Beta-Version) sind die Definitionen für AN, BN und BES etwas breiter gefasst, sodass sich der Prozentsatz der essgestörten Patienten in diesen Restkategorien zumindest etwas reduzieren dürfte.
18.5
Ätiologie und Pathogenese von Anorexia nervosa und bulimischen Essstörungen
-
•
Biologische (genetische, neurochemische und physiologische) Faktoren
-
•
Soziokulturelle Faktoren (vermittelt durch Familie, Schule und Massenmedien)
-
•
Entwicklungsbedingte Faktoren (Störungen der früheren und späteren Kindheit und Pubertät)
-
•
Gestörte Beziehungsmuster in der Familie
-
•
Chronische Schwierigkeiten und belastende Lebensereignisse (Verlust von Bezugspersonen, Konflikt mit dem Partner, Einsamkeit)
18.5.1
Biologische Faktoren
-
•
der im Hypothalamus ausgeschüttete Corticotropin-Releasing-Faktor (CRF),
-
•
das Monoamin Serotonin,
-
•
bestimmte Peptide, die sowohl zentral als auch peripher (z. B. im Verdauungstrakt) freigesetzt werden (z. B. Cholecystokinin [CCK], Glukagon, Bombesin, Gastrin Releasing Peptide [GRP]) und
-
•
die Substanz Leptin, die in jüngerer Zeit in Leptin, Nahrungsaufnahmeexperimentellen Untersuchungen isoliert und deren Genort auf der Basis molekulargenetischer Untersuchungen identifiziert wurde. Leptin hat vermutlich eine wichtige Funktion bei der Regulation von Hunger, Sättigung und Körpergewicht.
18.5.2
Gezügeltes Essverhalten: Hungern, Fasten, Diäten und Starvation
18.5.3
Soziokulturelle Einflüsse
18.5.4
Ängste und Pubertät
18.5.5
Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und BES im Zusammenhang mit Sucht
18.5.6
Essstörungen als affektive Erkrankung
-
•
Bei Patientinnen mit EssstörungenEssstörungenKomorbidität ist die Komorbidität mit affektiven Erkrankungen einschl. Angsterkrankungen sowie ZwangsstörungenZwangsstörungenEssstörungen erhöhtAngststörungenEssstörungen (ca. 80 %).
-
•
Systematische Familienstudien zeigen, dass affektive Störungen auch bei Familienangehörigen von Patientinnen mit Anorexia bzw. Bulimia nervosa überzufällig häufig vorkommen.
18.5.7
Sollwert-Theorie zur Regulation des Körpergewichts
18.5.8
Hypothese der erhöhten Außenreizabhängigkeit für die Entstehung von Essattacken
18.5.9
Folgen gestörten Essverhaltens
Resümee
Die Ätiologie der beschriebenen Essstörungen wird als multifaktoriell gesehen. Unsere Erkenntnisse zur Pathogenese sind fragmentarisch. Diese Essstörungen stellen die gemeinsame Endstrecke einer Vielzahl verschiedener Entstehungsbedingungen und ihrer Wechselwirkungen dar. Verschiedene biologische (einschl. genetische) Faktoren (Neurotransmitter, Neuropeptide), soziokulturelle Einflüsse (gesellschaftlicher Druck, schlank zu sein; gezügeltes Essverhalten) und persönliche Belastungsfaktoren werden als ätiologisch relevante Bereiche diskutiert. Für die Anorexia und Bulimia nervosa zeigt sich eine relativ hohe Komorbidität mit affektiven Erkrankungen. Zudem kommen bulimische Syndrome und Suchterkrankungen nicht selten gemeinsam vor. Das Konzept der Regulation des Gewichtssollwerts ist für die Konzeptualisierung von Essstörungen mit Untergewicht, Übergewicht oder Gewichtsschwankungen relevant.
18.6
Differenzialdiagnostischer Prozess
Resümee
Differenzialdiagnostisch zu beachten sind:
-
•
Bei Anorexia nervosa:
-
–
Somatische, mit Kachexie einhergehende Erkrankungen (z. B. Tumoren)
-
–
Appetitlosigkeit und daraus resultierender Gewichtsverlust aufgrund einer Depression
-
–
Nahrungsverweigerung im Zusammenhang mit Wahnerkrankungen
-
-
•
Bei Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung: somatische Erkrankungen, die Heißhunger bedingen können (Diabetes mellitus, hypothalamische Tumoren)
18.7
Therapie
Leitlinien
AWMF-S3-Leitlinie Essstörungen 2011 und 2018
18.7.1
Allgemeine Aspekte
Psychologische Behandlung
Leitlinien
AWMF-S3-Leitlinie Essstörungen 2011
Medikamentöse Behandlung
EbM
Einem Cochrane-Review (Claudino et al. 2006) zufolge waren Antidepressiva bei AN im Hinblick auf die diagnosetypische Symptomatik (z. B. Gewichtszunahme) gegenüber Placebo nicht überlegen.
18.7.2
Therapie bei Anorexia nervosa
-
•
Gewichtsnormalisierung
-
•
Vermittlung eines normalen Essverhaltens
-
•
Behandlung körperlicher Folgen der AN
-
•
Behandlung dysfunktionaler Gedanken, Überzeugungen und Werthaltungen
-
•
Behebung von Defiziten im Bereich der Regulation von Gefühlen und Verhalten
-
•
Verbesserung psychischer Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit der Essstörung stehen
-
•
Einbeziehung von Familie (Fisher et al. 2010) und/oder Partner, falls erforderlich
-
•
Rückfallprophylaxe
Therapieziel Gewichtsnormalisierung
Therapeutisches Empfehlungsprogramm
Kontingenter Gewichtsvertrag
-
•
Eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung und die Glaubwürdigkeit des Therapeuten sind wesentlich für den Aufbau einer ausreichenden Motivation, diesen Konflikt in sich zu lösen und Therapeutische BeziehungAnorexia nervosaAnorexia nervosaTherapeut-Patient-Beziehungzuzulassen, dass der Körper mehr und mehr reift.
-
•
Vermeiden eines Machtkampfs: Ein Machtkampf zwischen Therapeut und Patientin ist kontraproduktiv. Es geht nicht darum, wer gewinnt, sondern darum, die Magersüchtige aufzubauen und zu motivieren, sich mit ihren inneren Konflikten auseinanderzusetzen, innerlich auf die Ängste, die eine Gewichtszunahme auslöst, zuzugehen – ganz im Sinne der Expositionstherapie bei Angsterkrankungen – und sie auszuhalten und durchzustehen, um Bewältigung zu lernen.
-
•
Transparenz und Information: Das Ausmaß, in dem es gelingt, der Patientin Wissen zu vermitteln und sie von der Sinnhaftigkeit einer Gewichtszunahme sowie davon zu überzeugen, dass es auch für sie spezielle Wege geben wird, trägt entscheidend zum Gelingen bei.
-
•
Weiterhin mitentscheidend für den Erfolg eines Gewichtsvertrags ist, welche konkreten Abmachungen getroffen werden und vor allen Dingen, mit welchen Verstärkern sie auf welche Weise gekoppelt sind. Verstärker sollten im Einvernehmen mit Anorexia nervosaGewichtszunahmeVerstärkerder Magersüchtigen ausgewählt werden. Es ist sehr wichtig, Verstärker zum Einsatz zu bringen, die einen echten Anreiz bieten. Für einen großen Fußballfan kann die Möglichkeit, ein relevantes Spiel am Fernseher in der Klinik verfolgen oder gar im Stadion erleben zu dürfen, ein großer Motivator sein. Für Fußball-Desinteressierte hätte dies keine Zugkraft. Je wirkungsvoller der Verstärker ist, desto niedriger ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Gewichtsprogramm fehlschlägt. Je mehr der Verstärker (Zugang zur Geige für den Violinvirtuosen, Möglichkeiten zum Malen für den künstlerisch Begabten, Möglichkeiten zum Joggen für den Fitnessfreak) zugkräftig auf die Patientin abgestimmt ist, desto günstiger wird der weitere Gewichtsverlauf sein.
-
•
Klare RahmenbedingungenAnorexia nervosaGewichtszunahmeRahmenbedingungen hinsichtlich minimaler und maximaler Gewichtszunahme pro Woche (s. o.): Je nach den Umständen kann man ein Gesamtzielgewicht oder einzelne Etappenzielgewichte vereinbaren. Für eine ausreichende Transparenz ist auch regelmäßiges (tägliches) Wiegen sehr wichtig. Relevant ist ein konsequentes, aber nicht hartes Vorgehen des Therapeuten. Inkonsequenz wirkt sich im weiteren Verlauf meist negativ aus. Es ist nicht sinnvoll, vertraglich Konsequenzen zu vereinbaren, die dann doch nicht durchzuhalten sind, z. B. Therapiebeendigung oder Entlassung aus stationärer Therapie bei Nichteinhaltung bestimmter Regeln. Da dies angesichts des Gesundheitszustands der Patientin oft nicht möglich ist und den Therapeuten in ein schwieriges Dilemma bringen kann, ist dringend davon abzuraten, Gewichtsverträge derart überspitzt zu formulieren.
-
•
Jeder Gewichtsvertrag sollte unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes und der Eigenschaften der jeweiligen Patientin an die individuellen Bedingungen angepasst werden. Oft ist es hilfreich, wenn die Magersüchtige den Gewichtsverlauf in einer Grafik darstellt und für sich selbst, den Therapeuten und andere sichtbar auslegt oder aufhängt. Da der Vertrag ein Kontrakt zwischen Therapeut und Patientin ist, sollten beide ihn unterschreiben und am besten jeder eine Kopie erhalten.
Weitere Therapieziele für Magersucht (gelten auch für Bulimia nervosa)
EbM
Zwischen KVT und einem auf das Krankheitsbild zugeschnittenem supportiven Ansatz/optimierten „treatment as usual“ (TAU) sowie zwischen KVT und interpersoneller Therapie (IPT) und ergaben sich hinsichtlich der Wirksamkeit keine signifikanten Unterschiede (Hay et al. 2015; Cochrane Review). Die Ergebnisse einer Reihe von Einzelstudien, die nicht metaanalytisch auswertbar waren, deuten darauf hin, dass eine spezifische Psychotherapie bei Magersucht wie z. B. ein fokalanalytischer Ansatz möglicherweise wirkungsvoller ist als TAU. Aufgrund der spärlichen Datenlage – selbst in die Metaanalysen gingen jeweils nur zwei Studien ein – besteht dringender weiterer Forschungsbedarf. Einer (allerdings auf nur zwei mit methodischen Mängeln behafteten Studien beruhenden) Metaanalyse zufolge erwies sich Anorexia nervosaFamilientherapieFamilientherapie gegenüber TAU als überlegen (Evidenzstufe Ia: Fisher et al. 2010). Unklar bleibt, ob dieser Ansatz anderen Formen von Psychotherapie überlegen ist.
18.7.3
Therapie bei Bulimia nervosa
Leitlinien
AWMF-S3-Leitlinie Essstörungen 2011
Wahrnehmungstraining
Training des emotionalen Ausdrucks
Verhaltenstherapie
EbM
Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als Einzel- und auch Gruppenbehandlung erwies sich im Vergleich zu (Wartelisten-)Kontrollgruppen in der Behandlung von BN als wirksam (Evidenzstufe Ia: Hay et al. 2009)Kognitive VerhaltenstherapieEssstörungenBulimia nervosakognitive Verhaltenstherapie. Auch einige andere spezifische Therapieansätze wie z. B. die interpersonelle Therapie (IPT) erwiesen sich gegenüber der (Wartelisten-)Kontrollgruppe als effektiv. KVT war anderen Formen von Psychotherapie (z. B. IPT, supportive Psychotherapie, Fokaltherapie) hinsichtlich der Reduktion depressiver Symptome und der Abstinenz von Erbrechen bei Therapieende überlegen. Eine Augmentierung von KVT durch zusätzliche Expositionsanteile der Therapie („exposure & response prevention“) brachte keinen statistisch signifikanten Zusatzeffekt. KVT war auch signifikant wirksamer als verkürzte Formen von Verhaltenstherapie ohne kognitive Anteile. Die Ergebnisse einer – allerdings auf niedrigen Fallzahlen beruhenden – Metaanalyse (Evidenzstufe Ia: Perkins et al. 2006) deuten darauf hin, dass sich die Symptomatik – in einem ersten Schritt – auch durch strukturierte verhaltenstherapeutische Selbsthilfemanuale reduzieren lässt.
Einbeziehung des sozialen Umfelds
Informationsvermittlung
Ernährungsberatung
-
•
Steuerung des Essverhaltens durch verbesserte interozeptive Wahrnehmung von Hunger und Sättigung
-
•
Abbau eines restriktiven (gezügelten) Essverhaltens, weil dieses das Risiko für Heißhungerattacken erhöht
-
•
Verbesserung der sozialen Kompetenz
Aktivierung von Eigeninitiative und Verantwortung
Antidepressivatherapie
EbM
Unabhängig von der Substanzklasse sind antidepressive Medikamente bei BN wirkungsvoller als Placebo, allerdings auch mit einer höheren Dropout-Rate assoziiert (Evidenzstufe Ia: Bacaltchuk und Hay 2003). Unter SSRIs war die Dropout-Rate niedriger als bei TZAs. Einem weiteren systematischen Review zufolge war Psychotherapie (KVT) etwas wirkungsvoller als die medikamentöse Therapie mit einem Antidepressivum; Psychotherapie hatte eine vergleichsweise geringere Dropout-Rate und eine bessere Akzeptanz (Evidenzstufe Ia: Hay et al. 2001). Weitere Befunde deuten darauf hin, dass die Kombination von psychologischer Therapie und antidepressiver Medikation wirksamer als Monotherapie war, aber mit einer verringerten Akzeptanz einherging.
18.7.4
Therapie bei Binge-Eating-Störung (
)
Resümee
Die psychologische Therapie der drei Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung) umfasst die Bearbeitung von Wahrnehmungsdefiziten (Hunger- und Sättigungswahrnehmung, Wahrnehmen eigener Emotionen), die Vermittlung des angemessen Ausdrucks von Emotionen im sozialen Kontext, die Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen, den Aufbau sozialer Fertigkeiten, Informationen über wirklich gesunde Ernährung („nutritional counselling“) und die Bearbeitung evtl. vorliegender komorbider psychischer Erkrankungen. Bei Magersüchtigen kommt die Bearbeitung des Untergewichts hinzu, anfangs durch supportive Therapie und, wenn dies nicht zielführend ist, im Rahmen eines verhaltenstherapeutischen Gewichtsprogramms. Bei bulimischen Syndromen steht die Bearbeitung der funktionalen Zusammenhänge zwischen Auslösern (Konflikten, Belastungen) und Heißhungerattacken im Vordergrund. Bei Essstörungen sind Essverhalten und oft das Körpergewicht abnorm; im Wesen sind es jedoch Erkrankungen der Gefühlswahrnehmung und Gefühlsausdrucks – StörungenEssstörungenemotionale Balance der emotionalen Balance. Wenn die Patienten eine dauerhafte emotionale Balance gefunden haben, werden die Symptome der Essstörung überflüssig.
Eine symptombezogene Behandlung von Heißhungerattacken kann helfen, aus einem festgefahrenen gewohnheitsmäßigen, suchtartigen Circulus vitiosus herauszufinden. Bei bulimischen Syndromen mit Übergewicht spielt, wie bei der BN, die Bearbeitung von Heißhungerattacken, von emotionaler Perzeption und dem Ausdruck von Gefühlen eine wichtige Rolle. Darüber hinaus ist es sinnvoll, das Gewicht langfristig zu reduzieren. Dies ist im Wesentlichen durch eine Veränderung der Lebensführung und nicht durch kurzfristige Diäten zu erreichen.
Die meisten empirischen Untersuchungen liegen zur Wirksamkeit verschiedener verhaltenstherapeutischer Verfahren wie etwa der kognitiven Verhaltenstherapie und der interpersonellen Therapie bei BN vor. Trizyklische Antidepressiva oder Serotonin-Wiederaufnahmehemmer können bei BN zumindest kurzfristig hilfreich sein. Bei AN konnte eine statistisch signifikante und klinisch substanzielle Wirkung durch eine medikamentöse Therapie bislang nicht nachgewiesen werden. Zur Effektivität psychotherapeutischer Maßnahmen bei AN und BES gibt es zwar einzelne Belege aus wissenschaftlichen Studien, doch liegen bislang noch keine systematischen Übersichtsarbeiten der Evidenzstufe Ia vor.
Literatur
Die Literatur zu diesem Kapitel finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/literatur-kap18.


Literatur
18.1 Terminologie
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Fichter et al., 2008
Fichter et al., 2017
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Kask et al., 2016
O’Brian et al., 2017
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Suokas et al., 2013
18.3 Symptomatik und Typisierung
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18.4 Ätiologie und Pathogenese von Anorexia nervosa und bulimischen Essstörungen
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APA – American Psychiatric Association, 2013
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Fichter et al., 2012
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Bacaltchuk and Hay, 2003
Claudino et al., 2006
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Hay et al., 2001
Hay et al., 2009
Hay et al., 2015
Perkins et al., 2006
Patientenratgeber
Fichter, 2009