32.1
Terminologie
Menschen mit psychischen Stigmatisierungpsychisch ErkranktePsychische ErkrankungenStigmatisierungErkrankungen stehen vor einer zweifachen Schwierigkeit: Erstens müssen sie die Symptome ihrer Erkrankung bewältigen, und zweitens leiden sie unter der Tatsache, dass in der Gesellschaft psychische Erkrankungen noch immer mit einem Stigma behaftet sind. So haben Menschen, die ihre psychische Krankheit gut bewältigen und arbeiten können, bei der Suche nach einer Arbeitsstelle dennoch oft erhebliche Schwierigkeiten. Falls Arbeitgeber von ihrer Erkrankung erfahren, lehnen sie sie häufig unabhängig von ihrer Qualifikation als Bewerber abStigmatisierungöffentliche (öffentliche Stigmatisierung). Eine weitere Belastung besteht darin, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen die verbreiteten Vorurteile gegenüber ihrer Erkrankung oft akzeptieren, sie gegen sich selbst wenden und dadurch an SelbstbewusstseinSelbststigmatisierung verlieren (SelbststigmatisierungPsychische ErkrankungenSelbststigmatisierung). Aber auch Gesetzgebung, Versicherungsbedingungen, Ressourcenverteilung usw. können Menschen mit psychischen Erkrankungen benachteiligenDiskriminierungstrukturelle (strukturelle Psychische Erkrankungenstrukturelle DiskriminierungDiskriminierung).
Im Folgenden werden der konzeptuelle Hintergrund von öffentlicher und Selbststigmatisierung sowie struktureller Diskriminierung sowie die Auswirkungen von Stigma auf Betroffene und ihr Umfeld dargestellt. Schließlich wird ein Überblick zu Strategien gegeben, wie Betroffene Stigma besser bewältigen können und sich die Stigmatisierung in der Gesellschaft reduzieren lässt.
32.2
Das Stigma, psychisch krank zu sein
32.2.1
Öffentliche Stigmatisierung
In den Medien kursieren drei typische Fehleinschätzungen über StigmatisierungöffentlicheMenschen mit psychischen Erkrankungen: Sie sind gefährliche Irre, zu denen man auf Distanz gehen sollte; sie sind rebellische Freigeister, für die man Entscheidungen autoritär treffen müsse; sie haben rührend-kindliche Wahrnehmungen der Welt, sodass sie wie Kinder wohltätig umsorgt werden sollten. Im Vergleich zu Menschen mit körperlichen Erkrankungen hat die Allgemeinbevölkerung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen negativere Einstellungen. Sie werden häufig als für ihre Erkrankung verantwortlich angesehen, wobei dies unterschiedlich stark ausgeprägt ist: bei Schizophrenien geringer als bei Substanzabhängigkeit oder Essstörungen.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich gesellschaftlich ein zunehmendes Problembewusstsein ausgebildet, Menschen, die bzgl. ethnischer Herkunft, Religion oder sexueller Ausrichtung von der Bevölkerungsmehrheit abweichen, nicht zu stigmatisieren. Im Bereich psychischer Erkrankungen ist dieses Bewusstsein noch ungenügend ausgebildet. Hinzu kommt, dass schon die Unterscheidung und Etikettierung einer „psychisch normalen“ oder „gesunden“ Mehrheit von einer „psychisch kranken“ Minderheit eine Trennlinie suggeriert, die nicht existiert, da die Übergänge fließend sind. Außerdem führt diese Aufteilung leicht zu der Überzeugung, „sie“, d. h. die „psychisch Kranken“, seien fundamental verschieden von „uns“.
Die Sozialpsychologie unterscheidet verschiedene kognitive, emotionale und Verhaltensaspekte von Stigma: Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung (
Tab. 32.1).
Stereotype Stereotypesind in der Allgemeinbevölkerung bekannt und stellen einen wirksamen Weg dar, Informationen und kollektive Meinungen über verschiedene soziale Gruppen zu kategorisieren (z. B. „Schotten sind geizig“). Stereotype zu kennen bedeutet nicht notwendigerweise, ihnen beizupflichten.
Doch Menschen mit Vorurteilen stimmen diesen negativen Stereotypen zu („Das stimmt! Psychisch Kranke sind gewalttätig“) und zeigen negative emotionale Reaktionen („Sie machen mir alle Angst“). Werden daraus Verhaltenskonsequenzen gezogen, führt dies zuDiskriminierung Diskriminierung. Ein mit Ärger verbundenes Vorurteil kann feindseliges Verhalten hervorrufen. Im Fall von psychischen Erkrankungen können mit Ärger verbundene VorurteileVorurteile bedingen, dass den Betroffenen Hilfe vorenthalten wird und ungerechtfertigt Polizei oder Justiz eingeschaltet werden. Stereotype und Vorurteile führen i. d. R. nur dann zu Diskriminierung, wenn sie mit sozialer, wirtschaftlicher, politischer oder publizistischer Macht durchgesetzt werden können.
Resümee
Öffentliche Stigmatisierung besteht aus den drei Elementen Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung im Zusammenhang eines Machtgefälles zwischen Mitgliedern der Allgemeinheit und der stigmatisierten Minderheit.
32.2.2
Selbststigmatisierung
Betroffene kennen i. d. R. die gängigen
Selbststigmatisierungpsychisch ErkranktePsychische ErkrankungenSelbststigmatisierungnegativen Ansichten über Menschen mit psychischen Erkrankungen. Zu Selbststigmatisierung kommt es, wenn die Betroffenen den Stereotypen zustimmen und sie nach Beginn der eigenen Erkrankung gegen sich wenden. Auch Selbststigma basiert auf Stereotypen, Vorurteilen und Diskriminierung (
Tab. 32.1). Aus dem Selbstvorurteil „Das stimmt: Ich bin schwach und unfähig, für mich selbst zu sorgen, weil ich psychisch krank bin“ folgen häufig einerseits negative emotionale Reaktionen, insbesondere ein erniedrigtes Selbstwertgefühl sowie Scham über die eigene Erkrankung, andererseits Verhaltensreaktionen. So wagen selbststigmatisierende Patienten oft auch nach ausgeheilter Erkrankung nicht, sich um Arbeit, eigenständige Wohnmöglichkeit, gesellschaftliche Kontakte oder Partnerschaften zu bemühen. Das Nichterreichen dieser Ziele liegt daher oft weniger an der psychischen Erkrankung selbst als an Selbststigmatisierung.
Resümee
Selbststigmatisierung entsteht, wenn Mitglieder einer stigmatisierten Gruppe die Stereotype über sich selbst kennen, ihnen zustimmen und sie gegen sich wenden, sodass Selbstvorurteile und Selbstdiskriminierung entstehen. Vermindertes Selbstwertgefühl ist eine häufige Folge.
32.2.3
Strukturelle Diskriminierung
Mit struktureller Diskriminierung Psychische ErkrankungenDiskriminierungsind DiskriminierungstrukturelleRegelungen öffentlicher und privater Einrichtungen gemeint, welche die Rechte von Minderheiten absichtlich oder unabsichtlich einschränken. Dies kann geschehen, auch ohne dass sich einzelne Personen gegenüber Angehörigen einer Minderheit diskriminierend verhalten. Ein Beispiel für strukturelle Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist die Ungleichstellung gegenüber somatisch Erkrankten, etwa in der Sozialgesetzgebung oder der Ressourcenverteilung innerhalb des Gesundheitssystems.
32.3
Folgen von Stigmatisierung
StigmatisierungFolgenWährend der letzten Jahrzehnte haben in der Allgemeinbevölkerung das Wissen um biologische Aspekte psychischer Erkrankungen sowie die Bereitschaft, Behandlung aufzusuchen, zugenommen. Leider geht dies jedoch nicht mit verbesserten Einstellungen zu Menschen mit psychischen Erkrankungen einher; vielmehr hat der Wunsch nach sozialer Distanz, vor allem gegenüber Menschen mit Schizophrenie, zum Teil weiter zugenommen. Auch im psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich Beschäftigte sind nicht frei von stigmatisierenden Überzeugungen, oder sie unterschätzen die Problematik.
Während die Bewusstmachung und Beseitigung öffentlicher Stigmatisierung und struktureller Diskriminierung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, ist die Selbststigmatisierung ein Problemfeld, mit dem Psychiater und Psychotherapeuten unmittelbar in ihrer Arbeit konfrontiert sind und das häufig in die Behandlung einbezogen werden muss. Deswegen soll dieser Aspekt im Folgenden genauer dargestellt werden.
32.3.1
Selbststigmatisierung und Selbstbestimmung
Betroffene können sehr unterschiedlich auf das Stigma ihrer SelbststigmatisierungWhy-try-EffektPsychische ErkrankungenSelbststigmatisierungErkrankung reagieren. Selbstbestimmung (Empowerment) undEmpowerment Selbstbestimmung(srecht) des PatientenSelbststigmatisierung sind dabei entgegengesetzte Pole eines Kontinuums möglicher Reaktionen. Menschen, die unter Selbststigmatisierung leiden, sind erheblich durch pessimistische Einschätzungen ihrer Erkrankung beeinflusst und geben daher häufig wichtige Lebensziele auf (sog. Why-try-Effekt). Why-try-EffektAndere bleiben indifferent gegenüber Stigmatisierung und fühlen sich davon nicht oder nur unwesentlich betroffen. Eine dritte Gruppe lehnt Vorurteile gegen Ihresgleichen als unfair ab, reagiert mit berechtigter Empörung auf Stigma und kämpft z. B. durch Lobbyarbeit gegen Diskriminierung.
Sozialpsychologische Modelle können erklären, warum die Reaktionen auf Stigma so unterschiedlich ausfallen. Neben im Weiteren ausgeführten krankheitsspezifischen Variablen sind zwei Faktoren von Bedeutung: die Wahrnehmung von Stigma und die Wahrnehmung der eigenen Gruppe. Personen, die ein hohes Ausmaß von StigmatisierungPsychische ErkrankungenStigmatisierung in Stigmatisierungöffentlicheder Gesellschaft wahrnehmen und ihre eigene Stigmatisierung für fair halten (wahrgenommene Legitimität), empfinden Stigma eher als bedrohlich und leiden unter Selbststigmatisierung. Betroffene, die ihre eigene Gruppe (Menschen mit psychischen Erkrankungen) als negativ ansehen, sind ebenfalls anfälliger für Selbststigmatisierung. Eine starke Identifikation mit der eigenen Gruppe könnte dagegen protektiv gegen Selbststigmatisierung wirken, wenn Betroffene die eigene Gruppe überwiegend positiv sehen.
Nach neueren Studien ist die Wahrnehmung von Stigma als eine die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigende Bedrohung (sog. Stigma-Stress
Stigma-Stress) bereits unter jungen Menschen mit dem Risiko einer psychotischen Erkrankung ausgeprägt und im Verlauf signifikant mit später verringertem Wohlbefinden assoziiert, unabhängig von der klinischen Symptomatik. Erhöhter Stigma-Stress ist ferner ein Prädiktor für den Übergang aus diesem Psychose-Risikozustand in das Vollbild einer schizophrenen
SchizophrenieStigma-Stress Erkrankung. Das hat Implikationen für Frühintervention und Prävention, weil es Gruppenprogramme gibt, die Stigma-Stress senken („in Würde zu sich stehen“,
Kap. 32.4.1).
Eine weitere wichtige klinische Implikation ist der inzwischen durch einige Verlaufsstudien gestützte Befund, dass Stigmavariable ein Risikofaktor für Suizidalität sind (
Oexle und Rüsch 2018). Dies wird dadurch erklärt, dass Folgen von Stigma (z. B. soziale Isolation, Arbeitslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Vermeidung von Behandlung) zu Suizidalität
SuizidalitätStigmatisierung beitragen können. Ob Antistigma-Interventionen suizidpräventiv wirken können, muss noch untersucht werden.
Während sich das sozialpsychologische Modell der Selbststigmatisierung in der Forschung mit anderen Minderheiten als hilfreich erwiesen hat, müssen bei psychischen Erkrankungen drei Aspekte besondere Berücksichtigung finden:
-
1.
Depressivität: Das durch Selbststigmatisierung SelbststigmatisierungDepressionDepressionSelbststigmatisierungbedingte Selbstwertproblem und die verringerte Selbstwirksamkeit müssen unterschieden werden von ähnlichen Phänomenen als Ausdruck eines depressiven Syndroms, das nicht nur bei affektiven Erkrankungen häufig ist.
-
2.
Krankheitseinsicht: Die StigmatisierungKrankheitseinsichtKrankheitseinsichtStigmatisierungReaktion auf stigmatisierende Bedingungen hängt von der Krankheitseinsicht ab, die insbesondere während manischer oder psychotischer Episoden ganz oder teilweise fehlen kann.
-
3.
Soziale Wahrnehmung: Der Stigmatisierungsoziale WahrnehmungSoziale Wahrnehmung, StigmatisierungUmgang mit einer stigmatisierenden Umgebung ist von der eigenen Wahrnehmung subtiler stigmatisierender Signale anderer abhängig. Diese soziale Wahrnehmung kann bei psychischen Erkrankungen (z. B. Schizophrenien, Manien oder Demenzen) eingeschränkt sein.
Resümee
Wenn Betroffene sich als Teil der diskriminierten Minderheit sehen und die gegen sich gerichteten Vorurteile für legitim halten, kommt es zu Selbststigmatisierung und Minderung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit. Kennen Menschen mit psychischen Erkrankungen zwar die Vorurteile, halten sie aber für unfair, reagieren sie meist mit berechtigter Empörung und wehren sich.
32.3.2
Individuelle Bewältigungsversuche
Menschen mit psychischen ErkrankungenPsychische ErkrankungenBewältigungsversuche, individuelle machen häufig die StigmatisierungBewältigungsversuche, individuelleBewältigungsversuche, psychische ErkrankungenErfahrung, stigmatisiert zu werden. Zu den am weitesten verbreiteten Stigmatisierungserfahrungen zählen:
-
•
Verletzende Bemerkungen in sozialen Kontakten über psychische Erkrankungen sowie über psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen
-
•
Soziale Distanzierungen im privaten und beruflichen Umgang und Zurückweisungen bei dem Versuch, neue soziale Rollen wie Freundschaften oder Arbeitsverhältnisse einzugehen
-
•
Unzutreffende und abwertende Darstellungen psychischer Erkrankungen in den Medien
Angesichts dieser verbreiteten Stigmatisierungserfahrungen liegt es nahe, dass die meisten Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Erwartung leben, stigmatisiert zu werden.
Vermeidung, Rückzug, GeheimhaltungBetroffene können Kontakt mit allen Vermeidung(sverhalten)bei StigmatisierungPsychische ErkrankungenRückzug(sverhalten)MenschenPsychische ErkrankungenGeheimhaltung vermeiden, die sie verletzen könnten. Sie ziehen sich zurück und versuchen, nur noch Kontakt mit Personen zu haben, die entweder ihr stigmatisiertes Merkmal teilen oder über ihre psychische Erkrankung Bescheid wissen und sie nicht diskriminieren. Die Geheimhaltung der eigenen psychischen Erkrankung und einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung soll dazu dienen, Stigmatisierung zu vermeiden. Leider führen diese Bewältigungsmechanismen jedoch häufig zu sozialer Isolation und höherer Arbeitslosigkeit.
Information der UmweltEinige Betroffene entscheiden sich, andere Menschen über ihre eigene ErkrankungPsychische ErkrankungenEdukationKrankheitsbewältigungEdukation zu informieren, um deren Einstellung zu verbessern und damit auch ihre eigene Stigmatisierung zu verringern. Ob sich ein Betroffener entscheidet, nur einigen ausgewählten Menschen von seiner Erkrankung zu berichten („selective disclosure“) oder seine Erkrankung ganz allgemein bekannt zu machen, hängt davon ab, wie er Risiken und Vorteile beider Optionen abwägt. Mögliche Vorteile der Offenlegung sind gesteigerter Selbstwert, verringerte Belastung durch die Geheimhaltung der Erkrankung, ein vertrauensvolleres Verhältnis zu den Menschen, die nun Bescheid wissen, sowie Hilfsangebote durch andere. Das Vorgehen birgt jedoch auch das Risiko, auf Ablehnung und Unverständnis zu stoßen.
Resümee
Menschen mit psychischen Erkrankungen erfahren und erwarten häufig Stigmatisierung. Um diese Belastung zu bewältigen, werden häufig defensive (sozialer Rückzug und Geheimhaltung) oder aktive (Edukation und Information des sozialen Umfelds) Strategien gewählt. Defensive Strategien haben oft negative Konsequenzen, insbesondere soziale Isolation.
32.3.3
Stigma und Inanspruchnahme professioneller Hilfe
Die Mehrzahl psychischer Erkrankungen kann durch StigmatisierungInanspruchnahmeverhaltenPsychische ErkrankungenInanspruchnahme professioneller Hilfepsychiatrisch-psychotherapeutische und psychosoziale Behandlungsmöglichkeiten geheilt oder erheblich gebessert werden. Leider entscheiden sich dennoch viele Betroffene, entweder keine Behandlung zu beginnen oder sie vorzeitig abzubrechen. Die klinischen und gesellschaftlichen Folgen unbehandelter und häufig chronifizierter Erkrankungen sind erheblich.
Modelle subjektiver Krankheitsüberzeugungen („health belief models“) erklären,Psychische ErkrankungenHealth Belief ModelsKrankheitsüberzeugungen, subjektive Health Belief Modelswarum Menschen sich entscheiden, nicht an Behandlungen teilzunehmen. Diese Modelle gehen davon aus, dass Menschen weitgehend rational handeln, um die wahrgenommene Bedrohung durch Krankheitssymptome zu verringern und die eigene Gesundheit durch die Behandlung zu verbessern. Gegen ein solches gesundheitsbezogenes Verhalten sprechen befürchtete negative Auswirkungen von Behandlungen, u. a. Nebenwirkungen von Medikamenten. Von großer Bedeutung ist jedoch auch die Befürchtung, dass die Behandlung im sozialen Umfeld eine Etikettierung und Stigmatisierung auslösen kann. Menschen mit psychischen Erkrankungen, die aus diesem Grund keine professionelle Hilfe aufsuchen, nennt man potenzielle Inanspruchnehmer. Sie betrachten sich als Teil der Öffentlichkeit, wollen nicht als Teil der psychisch kranken Minderheit gesehen werden und versuchen so, öffentliche Stigmatisierung zu vermeiden. Anders als andere stigmatisierte Gruppen, z. B. viele ethnische Minderheiten, tragen Menschen mit psychischen Erkrankungen kein sichtbares Merkmal. Deshalb ist der stärkste Auslöser öffentlicher Stigmatisierung die Etikettierung, u. a. durch die Teilnahme an psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen. Auch Selbststigmatisierung kann unabhängig von Furcht vor Ablehnung durch andere als Behandlungshindernis wirken, etwa wenn Betroffene eine Behandlung ihrer Erkrankung als beschämend oder peinlich empfinden.
Empirische Befunde belegen den Zusammenhang von Stigma und eingeschränkter Inanspruchnahme von Behandlung. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen Behandlungsmöglichkeiten nutzen, ist geringer, wenn sie negative Reaktionen ihrer Familienangehörigen erwarten.
Resümee
Furcht vor Stigmatisierung kann dazu führen, dass Betroffene psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung ablehnen, weil sie nicht durch diese Behandlung als „psychisch krank“ etikettiert werden wollen. Durch Verzicht auf Behandlung hoffen sie, der Stigmatisierung und ihren negativen Folgen zu entgehen. Verringerung von Stigma ist daher ein Weg, um die Inanspruchnahme professioneller Hilfe zu erhöhen.
32.3.4
Auswirkungen auf Angehörige
Psychische ErkrankungenAuswirkungenDie gesellschaftlich verbreitete Stigmatisierungvon AngehörigenDiskriminierung wirkt sich häufig auch auf Angehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen aus. Da viele Betroffene in ihren Familien leben, weitet sich das Stigma aus Sicht der Öffentlichkeit auf die Familien aus („courtesy stigma“). Es lassen sich drei Bereiche unterscheiden:
-
•
Öffentliche Stigmatisierung: Wegen ihres Stigmatisierungöffentlicheerkrankten Angehörigen werden Familien häufig sozial gemieden. Eltern sehen sich oft dem Vorurteil ausgesetzt, sie seien schuld an der Erkrankung ihres Kindes, sei es durch schlechte Erziehung oder – dank genetischer Krankheitsmodelle – aufgrund der Weitergabe ihrer Erbanlagen. Von Eheleuten oder Geschwistern wird häufig erwartet, dass sie durch ihren Einfluss einen besseren Verlauf der Erkrankung erreichen müssten. Kinder werden häufig als von erkrankten Eltern „kontaminiert“ angesehen. Viele Angehörige reagieren auf diese Stigmatisierung mit Scham.
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Selbststigmatisierung der Familie: Psychische ErkrankungenSelbststigmatisierungAuch SelbststigmatisierungAngehörigeAngehörige reagieren unterschiedlich. Etwa ein Fünftel scheint wegen der Stigmatisierung des erkrankten Angehörigen an verringertem Selbstwertgefühl zu leiden. Doch viele andere reagieren, wie Betroffene auch, mit berechtigter Empörung und engagieren sich z. B. in Selbsthilfegruppen oder Lobbyarbeit.
-
•
Belastung der Familie angesichts der Stigmatisierung des erkrankten Familienmitglieds: Studien belegen, dass eine Mehrheit der Angehörigen sehr besorgt ist über die Stigmatisierung ihres Familienmitglieds. Sie sind daher indirekt ebenfalls von Stigmatisierung betroffen.
32.3.5
Auswirkungen auf Behandlungsinstitutionen
StigmatisierungBehandlungseinrichtungenPsychische ErkrankungenAuswirkungenBehandlungseinrichtungen werden in der Öffentlichkeit häufig abfällig als
Psychische ErkrankungenAuswirkungenIrrenanstalten, Klapsmühlen u. Ä. bezeichnet. Solche Bezeichnungen und Stereotype betreffen vor allem die dort Behandelten und ihre Angehörigen. Dies ist ein Grund, weshalb Behandlung häufig vermieden wird (
Kap. 32.3.3).
Das in Deutschland neben den psychiatrisch-psychotherapeutischen Einrichtungen bestehende zweite Versorgungssystem für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die Psychosomatische Medizin, begründet seine Notwendigkeit teilweise damit, dass es weniger mit einem Stigma behaftet sei. Da stark stigmatisierte Menschen mit besonders schweren psychischen Erkrankungen dort seltener behandelt würden, seien psychosomatische Kliniken für Menschen mit weniger schweren psychischen Erkrankungen leichter zugänglich. Dies könnte allerdings die Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen mit schwereren psychischen Erkrankungen verstärken.
32.3.6
Berichterstattung in den Medien
In den Medien finden sich auch weiterhin häufig stigmatisierende Berichterstattungen über Menschen mit
Psychische Erkrankungenmediale Berichterstattungpsychischen Erkrankungen. Die meisten Beiträge konzentrieren sich auf
Gewalt und
Gefährlichkeit. Das Gewaltrisiko ist allerdings nur bei wenigen Erkrankungsformen (z. B. Psychosen oder Demenzen), und dann nur innerfamiliär, im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöht, wenn nicht ein komorbider Substanzmissbrauch vorliegt. Die Berichterstattung in den Medien
übertreibt dieses Gewaltrisiko häufig und vernachlässigt andere Faktoren wie jugendliches Alter und männliches Geschlecht, die viel stärker mit Gewalt assoziiert sind. Hinzu kommt, dass positive Berichte über die realen Möglichkeiten von
Heilung und Rehabilitation („recovery“) von Menschen mit psychischen Erkrankungen in den Medien
selten sind (Ausnahme und eindrucksvoller Bericht zu Marsha Linehan s.
www.nytimes.com/2011/06/23/health/23lives.html).
32.4
Therapeutische und gesellschaftliche Konsequenzen
32.4.1
Therapeutische Strategien gegen Selbststigmatisierung
Bei jedem Patienten sollten Therapeuten Erwartung und Erfahrung von StigmatisierungStigmatisierungtherapeutische Strategien sowie SelbststigmatisierungPsychische ErkrankungenSelbststigmatisierung thematisierenSelbststigmatisierungtherapeutische Strategien und deren Ausmaß detailliert erfassen, um möglichen negativen Folgen entgegenwirken zu können. In diesen Klärungsprozess sind i. d. R. Familie und soziales Umfeld einzubeziehen.
Neben Krankheitsaufklärung und PsychoedukationPsychoedukationStigmatisierung sind Strategien der kognitiv-behavioralen Psychotherapie besonders geeignet zu helfen, Stigma und seine Folgen besser zu bewältigen. Personen mit Depressionen lernen in kognitiver Therapie, ihre depressiven gedanklichen Verzerrungen zu identifizieren und zu modifizieren. Analog kann kognitive Therapie helfen, mit selbststigmatisierenden Gedanken besser zurechtzukommen. Gedanken wie „Ich bin psychisch krank und deshalb ein hoffnungsloser Fall“ können hinterfragt und gegen diese Einschätzung sprechende Fakten erarbeitet werden. Narrative Verfahren können Betroffenen helfen, ihre Geschichte neu und weniger an Defiziten und Stigmata orientiert zu erzählen. In der Therapie kann man die bereits erwähnten Risiken und Vorteile einer Offenlegung der eigenen psychischen Erkrankung abwägen und eine Entscheidung finden, ob man die Erkrankung anderen mitteilt und, wenn ja, in welcher Form, zu welchem Zeitpunkt und gegenüber welchen Personen. Inzwischen steht aus der Arbeitsgruppe von P. W. Corrigan mit Honest, Open, Proud (früher: Coming Out Proud; deutsch: In Würde zu sich stehen) eine kompakte, manualisierte, von Peers/Betroffenen geleitete und in mittlerweile drei RCTs positiv evaluierte Gruppenintervention zu diesem Thema zur Verfügung. Auch Rollenspiele, besonders in Gruppentherapien, Verhaltensexperimente und Expositionsübungen können Betroffenen helfen, Stigma besser zu bewältigen.
Wie bereits genannt, stellt
EmpowermentEmpowerment Selbstbestimmung(srecht) des Patientendas Gegenstück zu Selbststigmatisierung dar. In diesem Sinne selbstbestimmte Menschen mit psychischen Erkrankungen zeigen weniger erniedrigtes Selbstwertgefühl. Strategien, die Betroffenen mehr Kontrolle über ihre Lebensführung und Behandlung geben, steigern die Selbstbestimmung. Dazu gehört ein Fertigkeitentraining zur Erreichung ihrer gegenwärtigen Ziele. Ein anderer vielversprechender, jedoch noch nicht systematisch evaluierter Ansatz ist die Mitwirkung ehemals Erkrankter an Behandlungsprogrammen (EX-IN oder Experienced Involvement;
www.ex-in.de;
www.ex-in-bern.ch).
32.4.2
Initiativen gegen öffentliche Stigmatisierung
Psychische ErkrankungenAntistigma-KampagnenAntistigma-KampagnenStigmatisierungBekämpfungsstrategienWeltweit engagieren sich inzwischen Interessengruppen von Betroffenen gegen Stigmatisierung, um so das Leben von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern. Ein erfolgreiches Beispiel aus den USA ist die
National Alliance on Mental Illness, eine Gruppe von Familienangehörigen und Betroffenen, die öffentliche Aufklärungsarbeit leistet oder durch Lobbyarbeit für besseren gesetzlichen Schutz in den Bereichen Wohnen und Arbeiten kämpft (
www.nami.org). Beispiel einer deutschen Antistigma-Initiative ist „Irrsinnig Menschlich e. V.“ (
www. irrsinnig-menschlich.de) aus Leipzig. Von ihr gehen sowohl lokal als auch bundesweit verschiedene Informationskampagnen aus, u. a. das Schulprojekt
„Verrückt? Na und!“, das Schüler über psychische Erkrankungen informiert, sowie der Internationale Filmarbeitskreis
Against the Images in Our Heads. Im Jahr 1996 hatte die
World Psychiatric Association (WPA) ein internationales Programm begonnen, um Stigma und Diskriminierung im Zusammenhang mit Schizophrenie zu bekämpfen (
www.openthedoors.com). Die
WPA-Initiative versucht, Bewusstsein und Wissen über Schizophrenie und Behandlungsmöglichkeiten, öffentliche Einstellungen zu Menschen mit dieser Erkrankung und ihren Familien zu verbessern und Aktionen zu fördern, die Diskriminierung und Vorurteile verringern. In Deutschland wurde von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie
Open the Doors e. V. in Zusammenarbeit mit dem Bundesgesundheitsministerium das
Aktionsbündnis Seelische Gesundheit (
www. seelischegesundheit.net) ins Leben gerufen. Leider verlaufen all diese Initiativen zwar in bester Absicht, werden aber
nur zu einem geringen Teil systematisch evaluiert, sodass wir zu wenig darüber wissen, welche Initiative mit welchen Mitteln welche Ziele erreicht (u. a. wie nachhaltig mögliche Wirkungen sind, welche Zielgruppen erreicht werden, ob sich nur Einstellungen oder auch Verhaltensweisen ändern). Eine löbliche Ausnahme ist hier die englische Kampagne
Time to Change.
Grundsätzlich gibt es drei Hauptstrategien zur Bekämpfung von Stigma: Protest, Edukation und Kontakt:
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Protest wird oft gegen stigmatisierende öffentliche Aussagen, Darstellungen in Medien und Werbung angewandt. Ein deutsches Beispiel ist BASTA – das Bündnis für psychisch erkrankte Menschen (www.bastagegenstigma.de/), das u. a. die Möglichkeiten der raschen E-Mail-Kommunikation nutzt, um ihre BASTA – Bündnis für psychisch erkrankte MenschenMitglieder auf stigmatisierende Darstellungen aufmerksam und diese öffentlich zu machen. Es gibt jedoch kaum Belege für die Wirksamkeit von Protesten im Hinblick auf den Abbau persönlicher Vorurteile.
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Edukation Psychische ErkrankungenEdukationKrankheitsbewältigungEdukationversucht, Stigma durch sachliche Information zu verringern. Dazu werden verschiedene Formen wie Bücher, Videos, strukturierte Unterrichtsprogramme oder Online-Medien eingesetzt. Eine neuere Metaanalyse zeigt geringe, doch signifikant positive Ergebnisse von Edukation auf Einstellungen und Verhalten. Wesentlich scheint der Inhalt von Edukationsprogrammen zu sein. Derzeit sind biogenetische und neurobiologische Modelle, z. B. schizophrener Psychische Erkrankungenneurobiologische ModelleErkrankungen, ein Hauptbestandteil der Edukation. Man hofft, durch die Darstellung der Erkrankung als biochemisches und teilweise genetisch bedingtes Problem zu erreichen, dass sich krankheitsassoziierte Scham und Schuld verringern. Dies scheint zuzutreffen. Andererseits birgt die Fokussierung auf Neurobiologie die Gefahr, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen als grundsätzlich verschieden von „Normalen“ wahrgenommen werden und daher die Neigung zunimmt, sich von den Betroffenen sozial stärker zu distanzieren. Deshalb erscheint es wichtig, die biopsychosoziale Komplexität psychischer Erkrankungen zu vermitteln und sie nicht einseitig als „genetische“ oder „neurologische“ Erkrankungen darzustellen.
-
•
Die Allgemeinbevölkerung neigt weniger zu Stigmatisierung, wenn sie Mitgliedern der Minderheit begegnet ist. Nach oben erwähnter Metaanalyse ist Kontakt eine sehr wirksame Strategie, um Stereotype, Vorurteile und Psychische ErkrankungenStereotypeDiskriminierung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verringern. In verschiedenen Interventionen bei Schülern wurden Edukation und Kontakt miteinander kombiniert. Es gibt eine Reihe günstiger Rahmenbedingungen, um solche Aktivitäten erfolgreich zu gestalten: Ein ebenbürtiger Status zwischen den Teilnehmern und eine kooperative Interaktion erleichtern Kontakte ebenso wie institutionelle Unterstützung. So wird ein Schulprogramm erfolgreicher sein, wenn es durch die Schulleitung unterstützt wird und einen formlosen Umgang zwischen Betroffenen und Schülern ermöglicht.
Die Kombination von Kontakt und Edukation ist die vielversprechendste Antistigma-Strategie. Gezielte Initiativen können sich auf ein spezifisches Verhalten einer bestimmten Gruppe beschränken, z. B. der lokalen Arbeitgeber, die Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht einstellen. Dies ist einerseits günstig, weil der Abbau von Vorurteilen und vor allem Diskriminierungen einer bestimmten Gruppe ein erreichbares Ziel darstellt und sich so die große Komplexität des Stigmaphänomens reduziert. Trotz ermutigender Ergebnisse solcher Initiativen gilt doch eine wesentliche Einschränkung: Öffentliche Stigmatisierung, Selbststigmatisierung und strukturelle Diskriminierung können zu unzähligen, mehr oder weniger subtilen diskriminierenden Verhaltensweisen und Verhaltensmechanismen führen. Deswegen müssen sich stigmatisierende Einstellungen der gesamten Bevölkerung fundamental ändern, um diskriminierendes Verhalten nachhaltig zu verringern. Um hier Problembewusstsein, Sensibilität und Verhaltensänderungen zu erreichen, sind gemeinsam mit Betroffenen, Selbsthilfegruppen und Angehörigenverbänden starke Verbündete in Politik, Medien und Kirchen, bei Polizei und Justiz, Kostenträgern, Vertretern von Arbeitgebern und Hausbesitzern, innerhalb der Ärzte- und Psychologenverbände sowie anderen gesellschaftlichen Gruppen zu gewinnen.
Resümee
Das Problem erwarteter und erfahrener Stigmatisierung sowie Selbststigmatisierung ist genau zu erfragen und bei Bedarf in die Therapie einzubeziehen. Dafür eignen sich besonders Strategien der kognitiven Verhaltenstherapie. Öffentliche Stigmatisierung und strukturelle Diskriminierung können am besten durch die Kombination von Edukation und Kontakt bewusst gemacht und verringert werden. Hierzu sind in unserer Gesellschaft noch große Anstrengungen erforderlich.
Literatur