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Abb. 21.1

(nach Fiedler 1995)
Ausfaltungsstruktur der psychischen Syndrome und Persönlichkeitsstörungen in der ICD-10 PersönlichkeitsstörungenSubtypen
Abb. 21.2

(nach Faraone et al. 1999)
Threshold-Liability-Modell PersönlichkeitsstörungenThreshold-Liability-Modell
Abb. 21.3

Das Threshold-Liability-Modell für Persönlichkeitsstörungen mit bimodaler Verteilung der Skalenwerte Threshold-Liability-Modell, PersönlichkeitsstörungenPersönlichkeitsstörungenThreshold-Liability-Modell
Abb. 21.4

Dynamische Hierarchisierung der BehandlungszielePersönlichkeitsstörungenPsychotherapieBehandlungsziele, Hierarchisierung
Abb. 21.5

Therapierelevante Dimensionen des Erlebens und Verhaltens bei PersönlichkeitsstörungenPersönlichkeitsstörungenErlebens- und Verhaltensdimensionen
Abb. 21.6

Neurobehaviorales Entstehungsmodell der Borderline-PersönlichkeitsstörungBorderline-Persönlichkeitsstörungneurobehaviorales Entstehungsmodell
Abb. 21.7

Algorithmus der BehandlungsfokiDialektisch-behaviorale Therapie (DBT)BehandlungsfokiBorderline-PersönlichkeitsstörungBehandlungsfoki
Klassifikation der Persönlichkeitsstörungen (PS) in ICD-10, ICD-9, DSM-III-R und DSM-5PersönlichkeitsstörungenKlassifikation(ssysteme)PersönlichkeitsstörungenCluster A, B, C
Cluster | ICD-10 | ICD-9 | DSM-III-R | DSM-5 |
A | Paranoide PS | Paranoide PS | Paranoide PS | Paranoide PS |
Schizoide PS | Schizoide PS | Schizoide PS | Schizoide PS | |
– | Schizotypische PS | Schizotypische PS | ||
B | Dissoziale PS | Soziopathische PS | Antisoziale PS | Antisoziale PS |
Emotional instabile PS:
|
Explosible PS | BPS | BPS | |
Hysterische PS | Histrionische PS | Histrionische PS | ||
– | – | Narzisstische PS | Narzisstische PS | |
C | Ängstliche PS | – | Selbstunsichere PS | Vermeidend-selbstunsichere PS |
Abhängige PS | Asthenische PS | Abhängige PS | Dependente PS | |
Anankastische PS | Anankastische PS | Zwanghafte PS | Zwanghafte PS | |
– | Affektive PS | Passiv-aggressive PS | – | |
ASP ∗ | Depressive PS | |||
Passiv-aggressive PS |
∗
Andere spezifische Persönlichkeitsstörungen (PS)
Untersuchungsinstrumente zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen (nach Bronisch 1995; Dittmann et al. 2001Persönlichkeitsstörungendiagnostische InstrumenteSelbstbeurteilungsverfahrenPersönlichkeitsstörungenPersönlichkeitsstörungenSelbstbeurteilungsverfahrenPersönlichkeitsstörungenInterviewsPersönlichkeitsstörungenChecklisten)
Kennzeichen | Verfahren (Abkürzung) | Diagnosensysteme | Datenquelle |
Gesamtbereich | |||
Selbstbeurteilungsverfahren | Personality Diagnostic Questionnaire (PDQ-R) | DSM-III-R/IV | P |
Screening Test for Comorbid Personality Disorders (STCPD) | DSM-III-R | P | |
Computerized DSM-III-R Personality Disorder Questionnaire (CDPDQ) | DSM-III-R | P | |
Checklisten | Internationale Diagnosenchecklisten Persönlichkeitsstörungen (IDCL-P) | ICD-10/DSM-IV | P, I, R, KG |
Aachener Merkmalsliste zur Erfassung von Persönlichkeitsstörungen | ICD-10/DSM-IV | P, I, R, KG | |
Interviews | Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV-Persönlichkeitsstörungen (SKID-II) | DSM-IV | P, R |
Standardized Assessment of Personality (SAP) | ICD-10/DSM-III-R | I | |
International Personality Disorder Examination (IPDE) | ICD-10/DSM-IV∗ | P, R, I | |
Teilbereiche | |||
Selbstbeurteilung | Borderline Syndrome Index (BSI) | DSM-III-R | P |
Narcissism Trait Scale (NTS) | DSM-III | P | |
Borderline-Persönlichkeits-Inventar (BPI) | kein | P | |
Interview | Schedules for Interviewing Borderlines (SIB) | DSM-III | P |
Diagnostic Interview for Borderline (DIB-R) | kein | P, R | |
Diagnostic Interview for Narcissism (DIN) | kein | P, R |
P: Patient; I: Informant; R: Rater; KG: Krankengeschichte;
∗
nur englisch
Persönlichkeitsstörungen
-
21.1
Terminologie615
-
21.2
Epidemiologie616
-
21.3
Diagnostik618
-
21.4
Ätiologie und Pathogenese626
-
21.5
Therapie633
-
21.6
Spezifische Persönlichkeitsstörungen640
21.6.1
Abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung (ICD-10)640
21.6.2
Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (ICD-10)644
21.6.3
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus (ICD-10) (
)648
21.6.4
Dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10); antisoziale Persönlichkeitsstörung (DSM-IV)657
21.6.5
Schizoide Persönlichkeitsstörung (ICD-10)664
21.6.6
Anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung (ICD-10)667
21.6.7
Histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD-10)671
21.6.8
Paranoide Persönlichkeitsstörung (ICD-10)675
21.6.9
Narzisstische Persönlichkeitsstörung (DSM-5) (
)680
21.1
Terminologie
21.2
Epidemiologie
Box 21.1
Komorbidität von Persönlichkeitsstörungen mit Achse-I-Störung
-
•
AngststörungenPersönlichkeitsstörungenKomorbiditätmit Achse-I-Störungen: Komorbiditätsraten von 50–60 %, dependente und zwanghafte PS als häufigste komorbide Störungen
-
•
Depressive Störungen: Komorbiditätsraten um 40 %, BPS und histrionische PS am häufigsten in stationären, zwanghafte, ängstlich-vermeidende und abhängige PS in ambulanten Patientenstichproben
-
•
Essstörungen: Komorbiditätsraten um 50 % (Median 59 %)
-
•
Vulnerabilitätsmodell: Persönlichkeitsstörungen disponieren zur Entwicklung einer Achse-I-Störung.
-
•
Kontinuitätsmodell: Persönlichkeitsstörungen sind subklinische Manifestationen einer sich langsam entwickelnden Achse-I-Störung.
-
•
Komplikationsmodell: Persönlichkeitsstörungen entwickeln sich als Ergebnis einer andauernden oder latenten Achse-I-Störung.
-
•
Coeffektmodell: Gemeinsam auftretende Persönlichkeits- und Achse-I-Störungen sind separate Störungen, die durch einen dritten, beiden gemeinsamen Faktor oder kausalen Prozess erklärt werden können.
-
•
Attenuationsmodell: Beide Störungen sind unterschiedliche Ausgestaltungen derselben genetischen oder konstitutionellen Labilität.
21.2.1
Krankheitsbeginn
21.2.2
Geschlechterverteilung
21.2.3
Mortalität
21.2.4
Verlauf und Prognose
Resümee
Untersuchungen zur Prävalenz von Persönlichkeitsstörungen sind im Vergleich zu anderen psychiatrischen Störungsgruppen seltener, was u. a. mit der komplexeren und schwierigeren Erfassung zu begründen ist. Schätzungen weisen auf einen Anteil von 10–12 % in der Allgemeinbevölkerung hin, in klinischen Populationen liegt der Anteil deutlich höher (bis 50 %). Patienten mit Persönlichkeitsstörungen weisen eine hohe Komorbidität mit anderen Persönlichkeitsstörungen sowie mit anderen psychischen Störungsbildern auf. Schwere, Dauer und Verlauf von Achse-I-Erkrankungen werden durch Persönlichkeitsstörungen negativ beeinflusst. Neuere Studienergebnisse zum Langzeitverlauf weisen darauf hin, dass zumindest das Vollbild der Persönlichkeitsstörung relativ instabil ist. Inwiefern dimensionale Diagnosesysteme valide sind, wird die Zukunft zeigen.
21.3
Diagnostik
21.3.1
Kategoriale und dimensionale Modelle
-
•
Epidemiologische wie klinische Studien weisen auf eine hohe Komorbiditätsrate von Persönlichkeitsstörungen untereinander hin. Erfüllt ein Patient die Kriterien einer PS, so ist die Wahrscheinlichkeit ausgesprochen hoch, dass noch mehr (bis zu 5) Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden (mangelhafte diskriminante Validität).
-
•
Für die Annahme einer klaren Trennung zwischen normaler und abnormaler Persönlichkeit gibt es keine hinreichende empirische Evidenz. Die Cut-off-Festsetzungen erscheinen relativ willkürlich. Reliabilität und Validität der diagnostischen Kategorien und ihre Gruppierung sind umstritten, die konvergente bzw. prozedurale Validität, also die diagnostische Übereinstimmung unterschiedlicher Instrumente ist ebenfalls nicht ausreichend (Clark et al. 1997).
-
•
Das ursprünglich mit einer operationalisierten Diagnostik angestrebte Ziel, für Studien homogene Störungsgruppen zu erhalten, ist nur schwer zu realisieren. So gibt es z. B. allein für die schizoide PS nach ICD-10 über 400 unterschiedliche Möglichkeiten der Symptomkonfiguration, wenn gefordert ist, dass 4 von 9 Kriterien erfüllt sein müssen (mangelhafte Konstruktvalidität).
Resümee
Das diagnostische Konzept von DSM-5 und ICD-10 bzgl. Persönlichkeitsstörungen kann als Modell der Prototypen beschrieben werden. Dieser Versuch, einen Kompromiss zwischen dimensionalen und kategorialen diagnostischen Modellen zu finden, ist nach wie vor wissenschaftlich sehr umstritten. Im DSM-5 gibt es neben der kategorialen auch die Möglichkeit einer dimensionalen Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen.
21.3.2
Moderne Klassifikationssysteme
Diagnostische Einteilung nach ICD-10
„Diese Störungen umfassen tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen zeigen. Dabei findet man gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in Beziehungen zu anderen. Solche Verhaltensmuster sind meistens stabil und beziehen sich auf vielfältige Bereiche von Verhalten und psychischen Funktionen. Häufig gehen sie mit persönlichem Leiden und gestörter sozialer Funktions- und Leistungsfähigkeit einher.“
Box 21.2
Allgemeine Kriterien einer Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 (Forschungskriterien)
•
PersönlichkeitsstörungenForschungskriterien (ICD-10)Charakteristische und dauerhafte innere Erfahrungs- und Verhaltensmuster der Betroffenen weichen insgesamt deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben (Normen) ab; Abweichungen in mehr als einem der folgenden Bereiche: Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und Bedürfnisbefriedigung, zwischenmenschliche Beziehungen und Art des Umgangs mit ihnen.
•
Die Abweichung ist so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen unflexibel, unangepasst oder auch auf andere Weise unzweckmäßig ist.
•
Persönlicher Leidensdruck, nachteiliger Einfluss auf die soziale Umwelt oder beides.
•
Nachweis, dass die Abweichung stabil, von langer Dauer ist und im späten Kindesalter oder in der Adoleszenz begonnen hat.
•
Die Abweichung kann nicht durch das Vorliegen oder die Folge einer anderen psychischen Störung des Erwachsenenalters erklärt werden.
•
Eine organische Erkrankung, Verletzung oder deutliche Funktionseinschränkung des Gehirns muss als mögliche Ursache für die Abweichung ausgeschlossen werden.
Diagnostische Einteilung nach DSM-5 im Vergleich zur ICD-10
„Persönlichkeitszüge sind überdauernde Formen des Wahrnehmens, der Beziehungsgestaltung und des Denkens über die Umwelt und über sich selbst. Sie kommen in einem breiten Spektrum sozialer und persönlicher Situationen und Zusammenhänge zum Ausdruck. Nur dann, wenn Persönlichkeitszüge unflexibel und unangepasst sind und in bedeutsamer Weise zu Funktionsbeeinträchtigungen oder subjektivem Leid führen, bilden sie eine Persönlichkeitsstörung. Das wesentliche Merkmal einer Persönlichkeitsstörung ist ein andauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht …“
Box 21.3
Allgemeine Persönlichkeitsstörung nach DSM-5 (APA 2015)
1.
Kognition (d. h. die Art, sich selbst, andere Menschen und Ereignisse wahrzunehmen und zu interpretieren)
2.
Affektivität (d. h. die Variationsbreite, Intensität, Labilität und Angemessenheit emotionaler Reaktionen)
3.
Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen
4.
Impulskontrolle
•
Hauptgruppe A umfasst unter den Stichworten „sonderbar, exzentrisch“ die paranoiden, schizoiden und schizotypischen PS. Die beiden Letzteren haben seit 1980 die Kategorie „schizoide Persönlichkeit“ der ICD-9 abgelöst, die in der klassischen deutschen Psychiatrie noch als prämorbider Vorläufer und Vulnerabilitätsfaktor für die Entwicklung einer Erkrankung des schizophrenen Spektrums galt. Diese Charakteristika ordnet man nun ausschließlich der schizotypischen Störung und in derSchizotype Persönlichkeitsstörung ICD-10 nicht mehr den Persönlichkeitsstörungen, sondern der Gruppe der Schizophrenien und wahnhaften Störungen zu (Kapitel F2).
•
Hauptgruppe B fasst unter den Stichworten „dramatisch, emotional und launisch“ die histrionische, narzisstische, antisoziale PS und BPS zusammen. Die Charakteristika weisen konzeptionell auf Gemeinsamkeiten im Bereich der AffektregulationAffektlabilität/-regulationsstörungen hin. Während sich die histrionische PS in DSM-5 und ICD-10 überschneidet und die antisoziale PS des DSM lediglich begrifflich von der dissozialen Störung der ICD-10 unterschieden ist, weisen die beiden anderen Kategorien Unterschiede zwischen den beiden Systemen auf:
–
Die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ des DSM-5 ist in der ICD-10 als „Borderline-Typ“ eine von zwei Unterformen der „emotional instabilen PS“.
–
Der „impulsive Typ“, die zweite Form, wird im DSM-5 den „disruptiven, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen zugeordnet.
–
Die Kategorien „narzisstische“ oder „passiv-aggressive PS“ finden sich in der ICD-10 lediglich in der Restkategorie „andere Persönlichkeitsstörungen“. In den Forschungskriterien wurden jedoch im Anhang I vorläufige Kriterien aufgenommen, um die Forschung anzuregen.
•
In Hauptgruppe C finden sich Persönlichkeitsstörungen, die Verhaltensmerkmale aus dem Spektrum der Angststörungen aufweisen: selbstunsichere, dependente und zwanghafte PS.
Konzeptualisierung von Persönlichkeitsstörungen in ICD-10/-11 und DSM-5
-
•
ICD-10 (Forschungskriterien): zwischen 3 von 5 bis 4 von 9 Kriterien
-
•
DSM-5: zwischen 4 von 7 bis 5 von 9 Kriterien.
-
•
Anzahl der Kriterien (z. B. schizoide PS: 9 Kriterien in der ICD-10; 7 Kriterien im DSM-5)
-
•
Schwellenwerte (z. B. schizoide PS: 4 von 9 Kriterien der ICD-10; 4 von 7 Kriterien des DSM-5)
-
•
Unterschiedliche Kriterien
-
•
Einigen PS liegen z. T. unterschiedliche Konstrukte zugrunde. Besonders deutlich wird dies bei der dissozialen (ICD-10) und antisozialen PS (DSM-5), aber auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) unterscheidet sich in beiden Systemen deutlich.
-
•
Einige PS sind unterschiedlich weit definiert. So finden sich die sechs Kriterien der histrionischen PS der ICD-10 auch im DSM-5, hier werden jedoch zusätzlich zwei weitere Kriterien aufgeführt.
-
•
Einige Kriterien sind unterschiedlich weit aufgefächert (ein Kriterium vs. zwei Kriterien).
-
•
Es finden sich PS, die in beiden Systemen enthalten und im Wesentlichen identisch sind, jedoch unterschiedlich gruppiert werden: schizotype PS im DSM-5 vs. schizotype Störung in der ICD-10, dort im Abschnitt F2.
Ausblick auf ICD-11
Persönlichkeitsstörungen und „related traits“
-
•
6D10 Persönlichkeitsstörungen
-
•
6D10.0 Leicht ausgeprägte Persönlichkeitsstörung
-
•
6D10.1 Moderat ausgeprägte Persönlichkeitsstörung
-
•
6D10.2 Schwer ausgeprägte Persönlichkeitsstörung
-
•
6D10.Z Persönlichkeitsstörung, Schweregrad nicht spezifiziert
-
•
6D11 Prominente Persönlichkeitsmerkmale und -strukturen
-
•
6E68 Sekundäre Persönlichkeitsveränderungen
21.3.3
Diagnostische Instrumente
•
Liste der allgemeinen Kriterien für eine PS
•
Spezifische Kriterien für jeden Subtyp (getrennt nach ICD-10 und DSM-IV)
•
Die Interrater-Reliabilität wird erhöht, was in der Forschung von großer Bedeutung ist.
•
Im klinischen Einzelfall kommt es zu einer zuverlässigeren Diagnosenstellung.
•
Es werden alle relevanten Kriterien einer Störung systematisch erfasst und bewertet.
•
Durch Interviews werden die beiden zentralen Varianz- oder Fehlerquellen im diagnostischen Prozess reduziert: Informationsvarianz- und Beobachtungsvarianz (s. Wittchen et al. 2001). Reardon et al. (2018) weisen jedoch auf den hohen Zeitaufwand hin, was den Einsatz in der klinischen Praxis oft als unrealistisch erscheinen lässt.
•
Durch die Screeningfragebögen im SKID-II und im IPDE sowie durch den modularen Aufbau der Interviews können, entsprechend spezifischer Hypothesen, nur Teile durchgeführt werden, was die Durchführungszeit reduziert.
•
Es besteht kein direkter Bezug zu den allgemeinen Eingangskriterien.
•
Die Umsetzung der diagnostischen Kriterien der Störung in die Fragen eines Interviews variiert von Instrument zu Instrument.
•
Der Zeitaufwand kann beträchtlich sein (bis zu mehreren Stunden).
•
Zur Erfassung komorbider psychischer Störungen ist immer ein weiteres Instrument notwendig (z. B. neben SKID-II auch z. B. SKID-I; vgl. auch Stieglitz und Ermer 2008).
•
Vor Einsatz eines Instruments ist ein mehrtägiges Training unabdingbar notwendig.
•
Zudem ist eine kontinuierliche Supervision empfehlenswert.
•
Konzeptuell:
–
Es sind Eingangskriterien zur Diagnostik von PS zu beachten. Erst deren Erfüllung erlaubt eine weitere Subdifferenzierung.
–
Die Diagnostik von PS muss eine größere Zeitperspektive berücksichtigen (neben der Lebenszeitperspektive nicht nur den Querschnitt z. B. der letzten 4 Wochen, sondern mindestens mehrerer Jahre).
•
Methodisch:
–
Die Frage einer dimensionalen oder kategorialen Diagnostik von PS ist bis heute ungeklärt. Zunehmend findet sich – wie in der Neukonzeptionalisierung des DSM – die Forderung, beide zu kombinieren.
–
Viele Kriterien von PS sind einer Selbstbeurteilung schwer zugänglich.
•
Erfassung:
–
Die Beurteilung von PS ist zeitgleich mit einer akuten Achse-I-Störung (z. B. depressive Störung) nur schwer möglich.
–
Die Umsetzung der Kriterien von PS in entsprechende Fragen in Selbstbeurteilungsverfahren oder Interviews ist oft schwierig und variiert zudem von Instrument zu Instrument teilweise erheblich.
–
Bei der Diagnostik sind möglichst viele Informationsquellen einzubeziehen (z. B. Beobachtungen Angehöriger, Aufzeichnungen von Krankengeschichten).
–
Die standardisierte Erfassung von PS neben Achse-I-Störungen bedarf immer des Einsatzes separater Instrumente, da sie in umfangreicheren diagnostischen Instrumenten wie z. B. dem Composite International Diagnostic Interview (CIDI; Kap. 3.5.4) nicht enthalten sind.
–
Die Diagnosestellung einer PS allein mithilfe eines Selbstbeurteilungsverfahrens ist sehr problematisch.
•
Die Selbstbeurteilungsverfahren sind PersönlichkeitsstörungenSelbstbeurteilungsverfahrenähnlich konzipiert wie diejenigen zur Erfassung der Persönlichkeit im Sinne von Traits (Becker 2001; Kap. 4.5.3, dort auch Verfahren).
•
In den Checklisten PersönlichkeitsstörungenChecklistenfinden sich Zusammenstellungen der Kriterien zur Diagnostik von PS, entweder über alle Störungen hinweg nach inhaltlichen Bereichen zusammengefasst oder getrennt für die jeweiligen Störungen.
•
Ähnliches gilt auch für die Interviewverfahren. ZweiPersönlichkeitsstörungenInterviews Interviewverfahren (SKID-II, IPDE) enthalten zusätzlich Selbstbeurteilungsbögen zum Screening und ermöglichen neben einer kategorialen auch eine dimensionale Auswertung. Zur dimensionalen Erfassung von PS findet sich im DSM-5 ein Interviewleitfaden.
Resümee
Der diagnostischen Zuordnung eines Patienten zu spezifischen Persönlichkeitsstörungen in aktuellen Klassifikationssystemen wie ICD-10 und DSM-5 sind allgemeine Kriterien vorgeordnet, die zunächst erfüllt sein müssen, um dann eine Abgrenzung von sekundären Persönlichkeitsveränderungen zu ermöglichen. Als wichtigste diagnostische Instrumente im Bereich der Forschung gelten derzeit die IPDE (für ICD-10) und das SKID-II (für DSM-5 in Vorbereitung). Forschungsprojekte sollten neben der Diagnose auch den Schweregrad der jeweiligen Störung erfassen. Dies gilt zunehmend auch für die Erfolgskontrolle im Rahmen der klinischen Versorgung.
21.4
Ätiologie und Pathogenese
21.4.1
Die interpersonelle Sichtweise
-
1.
Die Persönlichkeit ist durch ein relativ stabiles Muster von sich wiederholenden zwischenmenschlichen Situationen bestimmt, die das menschliche Leben charakterisieren. Die interpersonelle Theorie fokussiert daher grundsätzlich zwischenmenschliche BeziehungenPersönlichkeitzwischenmenschliche Beziehungen und nicht individuelles Verhalten. Damit stellt sich die interpersonelle Theorie explizit gegen den klassisch-psychoanalytischen Ansatz, der Verhalten primär durch intrapsychische Prozesse gesteuert sieht. Die Untersuchung von Persönlichkeit oder PS ist also auf die Beobachtung interaktioneller Prozesse – zumindest auf dem Niveau der Dyade – angewiesen, wobei diese Dyade als System und nicht das Individuum zu untersuchen ist, das zu gegebener Zeit mit einem anderen Individuum interagiert. Persönlichkeit aus Sullivans Sicht ist nicht mehr (oder weniger) als die beobachtbaren wiederkehrenden Muster, mit denen ein Individuum seine Beziehungen zu wichtigen Anderen regelt. Diese Anderen können real vorhanden (entweder physisch präsent oder zurzeit abwesend) sein oder auch nur imaginär existieren.
-
2.
Im Rahmen der interpersonellen Theorie nimmt das Konstrukt des „Selbst“ eine zentrale Position einSelbst, PersönlichkeitsstörungenPersönlichkeitsstörungenSelbstschemata/-System. Dieses „Selbst“ ist während seines gesamten Entwicklungsprozesses und im weiteren Verlauf des Lebens von seinem Wesen her „sozial“, „interpersonell“ und „durch Beziehungen definiert“. Die Entwicklung dieses „Selbst-Systems“ vollzieht sich demgemäß in permanentem Dialog mit wichtigen Bezugspersonen, deren Erfahrungen als Selbstschemata internalisiert werden. Diese SelbstschemataSelbstschemata steuern zum einen die Wahrnehmung und Interpretation neuer interpersoneller Beziehungen, zum anderen die Kommunikations- und Handlungsebene des Individuums. Die Interaktion ist also bidirektional. Grundsätzlich besteht dabei die Tendenz, schemakonform wahrzunehmen bzw. zu kommunizieren. Schema-nonkonforme Wahrnehmungen induzieren i. d. R. negative Emotionen. Eine der wichtigsten Funktionen dieses „Selbst-Systems“ ist die Steuerung der Selbstdarstellung gegenüber anderen Personen. Mittels einer Vielzahl meist nonverbaler Kommunikationsmuster versucht das Individuum, sich selbst in dem Licht zu präsentieren, in dem es seiner Erfahrung nach vom Gegenüber gesehen werden möchte. Diese Interaktionsmuster sollen den anderen in eine Position bringen, die gemäß den Selbstschemata des Individuums am wenigsten bedrohlich oder am angenehmsten ist.
Leary (1957) beschrieb als erster Mikroprozesse der Reaktionsinduktion durch Selbstrepräsentation. Er prägte denSelbstrepräsentation Begriff des „komplementären Verhaltens“ am VerhaltenkomplementäresBeispiel submissiven, devoten Verhaltens, das beim Gegenüber Dominanz hervorruft und umgekehrt. Diese Verhaltensmuster können bewusst oder unbewusst eingesetzt werden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass diese Selbstschemata oder die dadurch gesteuerten Interaktionsmuster dem jeweiligen Individuum nur zu einem Bruchteil bewusst sind. Auch der jeweilige Interaktionspartner nimmt i. d. R. nicht bewusst wahr, wie seine Einstellung oder sein Verhalten vom Gegenüber gesteuert wird. Diesen Prozess beschreibt Beier (1966: 13): „Das Ziel ist die Etablierung von Bedingungen, die das Gegenüber dazu bringen, sich den Vorstellungen des Akteurs gemäß zu verhalten, ohne sich darüber gewahr zu werden, dass es manipuliert wurde. Der Akteur verstärkt dieses wunschgemäße Verhalten des Gegenübers, sodass sich nach und nach dessen ursprünglich breites Verhaltensrepertoire einengt. Hierdurch schafft sich der Akteur ein Schema-konformes Umfeld, das seine Sicht von sich selbst und der Welt bestätigt.“ Die eingesetzten Signale sind als starke Kräfte einzuschätzen. Selbst die gutwilligste Person wird nicht umhinkommen, einen scheuen, selbstunsicheren und sich verschlossen darstellenden Menschen nach einiger Zeit als langweilig, uninteressant oder eigenbrötlerisch einzuschätzen, sich von ihm abzuwenden und damit dessen Selbst-Schema zu bestätigen.
-
3.
Ein weiterer Schritt in der Entwicklung der interpersonellen Theorie war die zunächst grobe Gliederung reziproker Interaktionsmuster in die zwei Dimensionen Kontrolle und Zuneigung. Leary (1957) PersönlichkeitsstörungenInteraktionsmusterentwickelte seinen „interpersonellen Zirkel“ um die beiden Achsen „Dominanz – Submission“ und „Liebe – Hass“, indem er 16 Cluster interpersoneller Verhaltensmuster definierte. Dieser erste Versuch der empirischen Erfassung zwischenmenschlicher Interaktionsmuster gilt mittlerweile als Meilenstein, der die Psychotherapieforschung bis heute maßgeblich beeinflusst hat. Neben Kiesler und Leary sind vor allem Forscher wie M. Horowitz und L. Benjamin zu nennen. Letztere entwickelte mit der „Structural Analysis of Social Behavior (SASB)“ eine Structural Analysis of Social Behavior (SASB)semiquantitative Methodik zur Einschätzung zwischenmenschlichen Verhaltens (Benjamin 1993). Neben den beiden Achsen „Zuneigung und Interdependenz“ berücksichtigt dieses Inventar verschiedene Foki wie „Inneres Selbst“ oder „Gegenüber“ oder „Imaginierte Objekte“. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, auch intrapsychische Prozesse, soweit sie sich sprachlich abbilden lassen, im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen zu erfassen.
-
4.
Zwischenmenschliches Verhalten ist stets von PersönlichkeitsstörungenDeterminanten zwischenmenschlichen Verhaltensmindestens zwei Komponenten determiniert: zum einen durch die Vorannahmen und Interpretationsmöglichkeiten, die ein Individuum mitbringt, zum anderen durch die realen Gegebenheiten, d. h., dass verhaltensbedingende Umweltfaktoren ihre Wirkung immer durch die je eigene, spezifische Wahrnehmung des Individuums entfalten. In der Regel besteht ein gewisser Grad an Übereinstimmung zwischen der subjektiven Wahrnehmung von Ereignissen und der „objektiven“ Bewertung durch Dritte. Der Ausprägungsgrad einer PS lässt PersönlichkeitsstörungenAusprägungsgradsich am Ausmaß von selektiver Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsverzerrung ermessen, die eingesetzt werden, um Umweltereignisse schemakonform, d. h. der eigenen Erfahrung entsprechend, zu interpretieren. Im Extremfall finden sich kaum mehr Übereinstimmungen zwischen „subjektiver“ und „objektiver“ Wahrnehmung. Die Handlungsweisen einer Person erscheinen für die Umwelt gänzlich unverständlich und rufen häufig aversive Reaktionen hervor.
-
5.
In ihrem Bemühen, zwischenmenschliche Verhaltensmuster zu verstehen, betonen die Theoretiker der interpersonellen Schule die Bedeutung einer „zirkulären Kausalität“ anstelle Persönlichkeitsstörungenzirkuläre vs. lineare Kausalitättraditioneller „linearer Kausalität“, d. h., statt menschliches Verhalten als die direkte Konsequenz situativer Ereignisse zu interpretieren, wird Verhalten als Folge bidirektionaler Beeinflussung zwischen mindestens zwei Personen (oder psychischen Repräsentationen) gesehen.
21.4.2
Die kognitiv-behaviorale Sichtweise
21.4.3
Die dimensionale und neurobiologische Sichtweise
1.
Extraversion (kontaktfreudig – zurückhaltend)
2.
Verträglichkeit (friedfertig – streitsüchtig)
3.
Gewissenhaftigkeit (gründlich – unsorgfältig)
4.
Neurotizismus (überempfindlich – entspannt)
5.
Offenheit (kreativ – fantasielos)
•
Die „Suche nach Neuem“ wird beschrieben als angeborene Tendenz, ein hohes Maß an Aufregung und Lust bei der Darbietung unbekannter Reize zu verspüren.
•
Die „Vermeidung von Schaden“ beschreibt die Fähigkeit, rasch auf aversive Reize zu reagieren und Verhaltensmuster zu blockieren, um Strafen zu vermeiden.
•
Die „Abhängigkeit von Belohnung“ beschreibt die angeborene Tendenz, intensiv auf positive Verstärker im Sinne von sozialer Akzeptanz zu reagieren und das eigene Verhalten entsprechend auszurichten.
•
Schließlich determiniert das Ausmaß an „Beharrlichkeit“ die Fähigkeit, eine zielorientierte Handlung auch gegen Widerstand aufrechtzuerhalten.
21.4.4
Genetische Aspekte
-
1.
Jeweils etwa 40–50 % der phänotypischen Varianz sind durch genetische und sekundäre Sozialvariablen bedingt, während die primären Sozialvariablen eine geringere Rolle spielen.
-
2.
Die faktorenanalytisch stabilsten Resultate auf der phänomenologischen Ebene lassen sich mit Modellen erzielen, die sich am Fünf-Faktoren-Modell von Costa und McCrae (1992) orientieren. Diese Faktoren gliedern sich in „Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für neue Erfahrung, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit“.
21.4.5
Die biosoziale Sichtweise
-
1.
Im 1. Lj. („sensory attachment stage“) steht die Sicherung des Überlebens durch die Interaktion mit der Mutter im Vordergrund. Das sich entfaltende interpersonale Netzwerk kann stimulierend oder unterstimulierend wirken, Sicherheit oder Gefahr vermitteln. In dieser Phase sehen Millon und Davis die Festschreibung der Polarität zwischen „lustsuchendem“ und „angstmeidendem Verhalten“.
-
2.
Die in der Kleinkindzeit sich herausbildende Fähigkeit, zunehmend unabhängig von elterlicher Unterstützung zu agieren („sensomotor autonomy stage“), bedingt eine Verschiebung des Entwicklungsschwerpunkts von der Sicherung der Existenz hin zur Anpassung an die sozialen Erfordernisse. In dieser Phase werden demgemäß primär die adaptiven Polaritäten geprägt, d. h. die Tendenz, sich die jeweilige ökologische Nische aktiv zu gestalten oder sich passiv an die Gegebenheiten anzupassen.
-
3.
Die Adoleszenz schließlich („pubertal gender identity stage“) beinhaltet nicht nur die Entwicklung der Geschlechtsidentität, sondern auch der Präferenz der Bedürfnisbefriedigung bei anderen oder bei sich selbst.
-
4.
Das vierte, die anderen z. T. überlappende „Reifungsstadium“ erstreckt sich über einen Zeitraum vom 4. bis zum 18. Lj. und betrifft die Ausreifung komplexerer kortikaler Hirnfunktionen („intercortical integration“). Hierdurch wird die Polarität zwischen emotionalen und rationalen Kapazitäten geprägt. Im Verlauf dieser Entwicklung ergeben sich zahlreiche bidirektionale Beeinflussungsmöglichkeiten: So steuert ein Kind durch sein basales Temperament die Reaktionen der Bezugspersonen im Sinne einer reziproken Verstärkung; umgekehrt erweisen sich auch die biologischen Substrate als plastisch, d. h. durch Umwelteinflüsse formbar.
-
1.
Persönlichkeitsstörungen sind keine Erkrankungen per se. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass das klassische „medizinische Modell“, das externe oder interne auslösende Faktoren nur unter dem Aspekt der kausalen Verantwortlichkeit für manifeste Störungen sieht, sich für das Verständnis der PS als hinderlich erwiesen hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die beobachtbaren Verhaltensweisen dynamische und veränderbare Interaktionen zwischen individuellen Bewältigungsstrategien und dem sozialen Umfeld darstellen, d. h. jetzt als Störung imponierendes Verhalten in früheren Lebensabschnitten oder in einem anderen sozialen Kontext als adäquat zu beurteilen ist. Die therapeutische Arbeit kann sich also nicht auf die Aufdeckung entwicklungsgeschichtlich bedeutsamer Faktoren für die Etablierung jetzt pathologischer Verhaltensmuster beschränken, sondern sollte stets deren Funktion im früheren und gegenwärtigen psychosozialen Umfeld berücksichtigen.
-
2.
Die Grenze zwischen Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung ist fließend. Trotz vielseitiger Bemühungen können keine allgemeingültigen klaren Grenzen zwischen pathologischem und „normalem“ Verhalten gezogen werden. „Normales“ Verhalten könnte dahingehend definiert werden, dass es sich an die Gepflogenheiten der jeweiligen sozialen Bezugsgruppe anpasst. Umgekehrt kann pathologisches Verhalten als störend oder von diesen Normen abweichend definiert werden. Dass diese Definition unzureichend ist, ermisst sich aus der Tatsache, dass die Normen sozialer Subgruppen oft erheblich vom größeren sozialen Kontext abweichen und bei Erweiterung des Blickwinkels gerade die hohe Normkonvergenz pathologische Formen annimmt. Ein Individuum, das in der Lage ist, auf sich verändernde Anforderungen der Umgebung flexibel zu reagieren, und dabei eine Balance zwischen Autonomie und sozialer Integration aufrechterhält, kann jedoch kontrastiert werden zu jemandem, der gezwungen ist, rigide und repetitiv die gleichen Verhaltensmuster zu wiederholen. Die Unfähigkeit, kontinuierliche soziale Lernprozesse zu verinnerlichen, führt bei Letzterem zu Diskrepanzen zwischen den Anforderungen an die eigene Autonomie und den Anforderungen des sozialen Umfelds. Die Grenzen zwischen diesen beiden Extremen sind jedoch fließend.
-
3.
Persönlichkeitsstörungen basieren auf internalisierten funktionellen und strukturellen Systemen. Die intrapsychische Struktur des Systems „Persönlichkeitintrapsychische StrukturPersönlichkeit“ repräsentiert ein relativ fest verwurzeltes Muster von Erinnerungen, Affekten, Wünschen, Einstellungen und Konflikten – also Schemata, die dem jeweiligen Individuum die Orientierung im sozialen Umfeld erleichtern. Obgleich Assimilations- und Adaptationsprozesse eine Angleichung und Revision dieser Strukturen an ein sich änderndes soziales System erleichtern, so beeinflussen diese intrapsychischen Strukturen doch lebenslang die individuelle Sichtweise und Interpretation der Außenwelt. Je traumatisierender, rigider oder eingeschränkter die Lernerfahrungen waren, desto starrer und unflexibler wird an diesen Schemata festgehalten.
-
4.
Persönlichkeitsstörungen sind dynamische Systeme. Gerade kategorisierende diagnostische Systeme bergen die Gefahr, Persönlichkeitsstörungen als situativ unabhängige, in der Vergangenheit begründete Verhaltensauffälligkeiten zu betrachten. Die funktionelle Sichtweise fordert jedoch die Berücksichtigung der Interaktion zwischen intrapsychischen und zwischenmenschlichen Strukturen. Ein dynamisches System ist gehalten, seine Sinnhaftigkeit fortwährend zu überprüfen und zu bestätigen. Da systemnonkonforme Informationen negative Emotionen auslösen, herrscht ein hoher Anpassungsdruck hinsichtlich der Wahrnehmung bzw. Interpretation intrapsychischer oder zwischenmenschlicher Ereignisse. Strukturen, die sich zur Vermeidung eines hohen Leidensdrucks entwickelt haben, besitzen eine ausgeprägte Tendenz, sich permanent zu „verifizieren“, um die Gefahr erneuten Leidensdrucks abzuwenden. Kognitive Verzerrungen oder Manipulation der Umgebung können in diesem Sinne verstanden werden.
21.4.6
Ausblick
-
•
Theoriegesteuerte Entwicklung eines Behandlungskonzepts
-
•
Manualisiertes therapeutisches Vorgehen
-
•
Therapeutencompliance, d. h. Übereinstimmung der durchgeführten Therapien mit dem Manual
-
•
Messinstrumente für die unterschiedlich relevanten Erfolgskriterien des therapeutischen Prozesses
Resümee
Gegenwärtig existiert kein allgemein akzeptiertes Modell zur Ätiologie und Pathogenese mit hinreichender empirischer Absicherung. Neuere Zwillingsuntersuchungen zeigen den starken Einfluss genetischer Faktoren und sekundärer Sozialfaktoren auf Persönlichkeitszüge und Persönlichkeitsstörungen. Auf wissenschaftlicher Ebene wird derzeit ein dimensionales Modell präferiert, das eine instabile Kontinuität zwischen „gesundem“, „akzentuiertem“ und „pathologischem“ Ausprägungsgrad beschreibt. Historische und gegenwärtig klinisch relevante Modelle wurden aus interpersoneller, kognitiv-behavioraler, neurobiologischer, genetischer und biosozialer Perspektive vorgelegt.
21.5
Therapie
21.5.1
Psychotherapie
Box 21.4
Strukturmerkmale der Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen
-
•
PersönlichkeitsstörungenPsychotherapieStrukturmerkmaleDiagnostik und Therapievereinbarung
-
•
Aufbau einer therapeutischen Beziehung
-
•
Verbesserung der psychosozialen Kompetenzen
-
•
Strukturierung des sozialen Umfelds
-
•
Bearbeitung dysfunktionaler Ziele oder Verhaltensmuster
-
•
Generalisierung des Erlernten im sozialen Umfeld
-
•
Supervision des Therapeuten
Organisation der Behandlungsplanung
•
Störungstypische Verhaltens- und Erlebensmuster
•
Individuelle Ausprägung dieser Muster
•
Andere komorbide Störungen
•
Komorbide somatische Störungen
•
Soziale Variablen
•
An oberster Stelle und damit, falls manifest, immer als primärer Fokus zu bearbeiten, stehtSuizidalitätPersönlichkeitsstörungenPersönlichkeitsstörungenSuizidalitätPersönlichkeitsstörungenFremdgefährdung die akute Suizidalität (ggf. auch Fremdgefährdung).
•
An zweiter Position dieser dynamischen Hierarchisierung stehen Verhaltensmuster oder Variablen, welche die Aufrechterhaltung der Therapie oder ihren Fortschritt unmittelbar gefährden. Dabei sind sowohl problematische Verhaltensmuster des Patienten als auch des Therapeuten oder Probleme innerhalb des therapeutischen Settings zu berücksichtigen.
•
An dritter Stelle stehen Phänomene, die aus Störungen der Verhaltenskontrolle resultieren. VerhaltenskontrollstörungenPersönlichkeitsstörungenVerhaltenskontrollstörungenDabei sind insbesondere Verhaltensweisen zu berücksichtigen, die den Patienten daran hindern, überhaupt therapeutische Lernprozesse zu erfahren, oder Problemverhalten, das schwere Krisen aufrechterhält oder fördert. Als Beispiele seien genannt: aggressive Durchbrüche und kriminelles Verhalten, Drogen- und Substanzmissbrauch, schwere dissoziative Symptomatik, schwere Anorexie (BMI < 14), Major Depression, akute psychotische Symptomatik oder etwa exzessive Selbstverletzungen bei der BPS. Etwas nachrangig werden Verhaltensmuster Persönlichkeitsstörungendysfunktionale Verhaltensmusterhierarchisiert, die als dysfunktional erkannt werden, jedoch nur geringen Einfluss auf neuropsychologische Verarbeitungsprozesse und damit therapeutisches Lernen haben. Damit sind i. d. R. Verhaltensmuster gemeint, die sich kurzfristig als wirksam in der Symptomreduktion erweisen, auf längere Sicht jedoch zum eigenständigen Problem werden oder eine situationsadäquate Problemlösung erschweren. Als Beispiele sind hier etwa weniger schwere Selbstverletzungen oder bulimisches Verhalten bei BPS, rascher Partnerwechsel bei histrionischer PS, sozialer Rückzug bei ängstlicher (vermeidender) PS oder Störungen der Planungskompetenz bei antisozialer PS zu nennen.
•
An vierter Stelle stehen Störungen des emotionalen Erlebens. In diesem Stadium ist der PatientPersönlichkeitsstörungenemotionales Erleben, gestörtes zwar in der Lage, seine Handlungen zu kontrollieren, leidet jedoch an intensiven negativen Emotionen oder an Verhaltensmustern, die eingesetzt werden, um negative Emotionen zu vermeiden oder rasch wirksame positive Emotionen zu erlangen. Die Regulation der Affekte selbst ist also gestört; als prototypisch für dieses Stadium gelten die PTBS oder ausgeprägtes Meidungsverhalten.
•
An fünfter Stelle stehen Probleme der Selbstverwirklichung und der Alltagsbewältigung (Ausbildung, Arbeitsplatz, Partnerschaft etc.).
•
Schließlich bleiben noch Probleme wie „Sinngebung“ und Lebensplanung oder religiöse Orientierung, die keinen Krankheitswert mehr aufweisen.
Problemanalyse
•
Externe Bedingungen
•
Akzentuierte Wahrnehmung und Interpretationen des Patienten
•
Akzentuierte Denk-, Erlebens- und Beziehungsmuster des Patienten
•
Akzentuierte Handlungstendenzen und Verhaltensrepertoire
•
Manifeste Verhaltens- und Interaktionsmuster
•
Spezifische Reaktionen des sozialen Umfelds
Kommunikation der Diagnose und Psychoedukation
Therapievereinbarung
Therapeutische Beziehung
-
•
Erstens ist der Aufbau der therapeutischen Beziehung durch akzentuierte Erwartungen des Patienten an seine Mitmenschen geprägt. Da davon auszugehen ist, dass sich diese Erwartungen auch in der Interaktion mit dem Therapeuten abbilden, erfordert der Beziehungsaufbau vom Therapeuten Modifikationen seines eigenen Beziehungsverhaltens, das über „Empathie“ deutlich hinausgeht.
-
•
Zweitens können und sollen gerade die normativen Abweichungen in der Beziehungsgestaltung vom Therapeuten registriert und zur Diagnostik herangezogen werden.
-
•
Und drittens sollte die therapeutische Beziehung nach einer stabilen Aufbauphase als Lern- und Experimentierfeld genutzt werden, um so dem Patienten eine Erweiterung seines Erlebens- und Verhaltensrepertoires zu ermöglichen.
Veränderungsstrategien
Super- und Intervision
Resümee
Die Psychotherapie einer PersönlichkeitsstörungPersönlichkeitsstörungenPsychotherapieStrukturmerkmale ist i. d. R. eine mehrdimensionale und mehrstufige Therapie, deren Behandlungsziele in Abhängigkeit von den im Vordergrund stehenden Problemen hierarchisch zu setzen sind. Die Strukturmerkmale der Therapie lassen sich wie folgt kennzeichnen:
-
•
Diagnostik und Therapievereinbarung
-
•
Problem- und Bedingungsanalyse
-
•
Kommunikation der Diagnose und Psychoedukation
-
•
Therapievereinbarungen
-
–
Aufbau einer therapeutischen Beziehung
-
–
Verbesserung der psychosozialen Kompetenzen
-
-
•
Strukturierung des sozialen Umfelds
-
–
Bearbeitung dysfunktionaler Ziele und Verhaltensmuster
-
–
Generalisierung des Erlernten im sozialen Umfeld
-
-
•
Eine wichtige Rolle spielt die kontinuierliche Supervision des Therapeuten.
21.5.2
Psychopharmakotherapie
-
•
Psychopharmakologische Behandlung einer spezifischen PS (z. B. Behandlung der BPS mit atypischen Neuroleptika)
-
•
Behandlung eines Syndroms oder Verhaltensmusters, das einen integralen Bestandteil einer spezifischen PS darstellt (z. B. Behandlung dissoziativer Phänomene bei BPS mit Naltrexon)
-
•
Medikamentöse Behandlung assoziierter Erkrankungen oder Störungen, die nicht per definitionem Bestandteil der PS sind (z. B. bei Borderline-Patienten die Therapie depressiver Episoden mit einem Antidepressivum)
Resümee
Die psychopharmakologische Behandlung von Persönlichkeitsstörungen ist im Vergleich zu anderen psychischen Störungen bisher wenig differenziert untersucht worden. Die meisten Berichte in der Literatur basieren auf Einzelfallbeobachtungen oder methodisch wenig aussagekräftigen Studien, sodass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine allgemeingültigen Empfehlungen gegeben werden können. Differenzielle Studien liegen nur zur BPS vor und werden in Kap. 21.6.3 vorgestellt.
21.6
Spezifische Persönlichkeitsstörungen
21.6.1
Abhängige (asthenische) Persönlichkeitsstörung (ICD-10)
Fallbeispiel
Persönlichkeitsstörungendependentesiehe Abhängige (asthenische) PSDependente Persönlichkeitsstörungsiehe Abhängige (asthenische) PSSeit 5 Wochen befindet sich die 53-jährige Patientin mit einer Abhängige (asthenische) PersönlichkeitsstörungFallbeispielPersönlichkeitsstörungenabhängige (asthenische)depressiven Episode in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Fremdanamnestisch wird sie als ausgesprochen verantwortungsbewusste, liebevolle Mutter und Ehefrau beschrieben, die bisher keinerlei Anzeichen einer psychischen Störung aufgewiesen hatte. Vor ½ Jahr war ihr 64-jähriger Ehemann plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben. Die Patientin schildert ihn als tatkräftigen, erfolgreichen Geschäftsmann, der ihr jede schwierige Entscheidung abgenommen habe. Er sei eigentlich immer für sie da gewesen, habe sie in die Gesellschaft eingeführt, auf Reisen mitgenommen und ihr die Welt gezeigt. Sie habe sich in dieser Rolle ausgesprochen wohl gefühlt. Schon als Kind sei sie eigentlich sehr unsicher und weitgehend unfähig gewesen, Entscheidungen allein zu treffen. Zu ihrem großen Glück habe sie diesen Mann kennen gelernt und bereits mit 18 Jahren geheiratet. Seither habe sie sich sicher und geborgen gefühlt. Auch im Geschäft habe sie eigentlich lediglich die Rolle einer Art „fürsorglichen Mutter für alle“ innegehabt. Wichtige Angelegenheiten habe stets ihr Mann, und zwar meisterhaft, ja fast spielerisch erledigt. Seit seinem plötzlichen Tod fühle sie sich völlig überfordert. Sie sei nicht in der Lage, die notwendigen geschäftlichen Entscheidungen zu treffen und sich um ihre finanziellen Angelegenheiten zu kümmern. Selbst die Sorge für die beiden Hunde wüchse ihr inzwischen über den Kopf. Sie fühle sich vollkommen ausgeliefert und preisgegeben. Alle hätten sich zwar um sie bemüht und ihr weitgehend alle Arbeit abgenommen, dennoch sehe sie keinerlei Perspektive mehr.
Diagnostik
Box 21.5
Diagnostische Kriterien der abhängigen Persönlichkeitsstörung (F60.7; ICD-10-Forschungskriterien)
-
•
Ermunterung oder Erlaubnis an andere, die meisten wichtigen Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen
-
•
Unterordnung eigener Bedürfnisse unter die anderer Personen, zu denen eine Abhängigkeit besteht, und unverhältnismäßige Nachgiebigkeit gegenüber deren Wünschen
-
•
Mangelnde Bereitschaft zur Äußerung selbst angemessener Ansprüche gegenüber Personen, von denen man abhängt
-
•
Unbehagliches Gefühl, wenn die Betroffenen allein sind, aus übertriebener Angst, nicht für sich allein sorgen zu können
-
•
Häufiges Beschäftigtsein mit der Furcht, verlassen zu werden und auf sich selber angewiesen zu sein
-
•
Eingeschränkte Fähigkeit, Alltagsentscheidungen zu treffen, ohne zahlreiche Ratschläge und Bestätigungen von anderen
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
-
•
„Mach‘ Beziehungen verlässlich, indem du dich unentbehrlich machst!“
-
•
„Mach‘ Beziehungen verlässlich, indem du dich unterordnest!“
-
•
„Mach‘ Beziehungen verlässlich, indem du alle Auseinandersetzungen vermeidest!“
Prävalenz
Differenzialdiagnose und Komorbidität
Therapie
-
•
„Was ist mir persönlich im Augenblick wichtig?“
-
•
„Wie kann ich dieses Ziel aktiv erreichen?“
-
•
„Was kann ich allein und was tatsächlich nur mit einem Partner erreichen?“
-
•
„Welchen Preis bin ich bereit, dafür zu zahlen? – Wie kann ich ihn reduzieren?“
-
•
„Was ist mir unangenehm? – Wie wehre ich mich dagegen?“
Resümee
Die abhängige (oder asthenische) PS ist von der Grundannahme geprägt, man sei den Anforderungen des alltäglichen Lebens ohne Unterstützung durch starke und mächtige Andere nicht gewachsen. Daraus resultieren eine ausgeprägte Angst, verlassen zu werden, und die hohe Bereitschaft zur Unterordnung der eigenen Bedürfnisse. Die zielgerichtete Handlungskompetenz ist dementsprechend gering entwickelt. Krisenhafte Zuspitzungen mit depressiver oder angstbesetzter Symptomatik entwickeln sich i. d. R. bei drohenden oder vollzogenen Trennungen.
Psychotherapeutische Maßnahmen zielen zunächst auf die Identifizierung der handlungsbestimmenden Grundannahmen („Allein bin ich nicht überlebensfähig“) sowie auf dysfunktionale Kognitionen und Verhaltensmuster (Signale von Hilflosigkeit und Unterwerfung). Der therapeutische Prozess entwickelt sich im Zusammenwirken von neu zu erlernenden zwischenmenschlichen Kompetenzen (evtl. in der Gruppe) und ihrer Anwendung im realen psychosozialen Umfeld.
Als therapeutische Fehler gelten die Etablierung des Therapeuten als einem starken und mächtigen Helfer, die ausschließliche Fokussierung auf die entwicklungspsychologischen Entstehungsbedingungen der Störung sowie die Vernachlässigung des Neuerwerbs sozialer Kompetenzen und deren Etablierung im realen sozialen Umfeld.
21.6.2
Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (ICD-10)
Fallbeispiel
Sie sei sich nicht sicher, ob eine Persönlichkeitsstörungenängstlichesiehe Ängstliche (vermeidende) PersönlichkeitsstörungPersönlichkeitsstörungenvermeidendesiehe Ängstliche (vermeidende) PSVermeidende Persönlichkeitsstörungsiehe Ängstliche (vermeidende) PSPersönlichkeitsstörungenselbstunsicheresiehe Ängstliche (vermeidende) PSSelbstunsichere Persönlichkeitsstörungsiehe Ängstliche (vermeidende) PSPsychotherapie für sie das Richtige sei, betont die knapp 40-Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörungjährige Germanistin. Eine Freundin habe ihr den Rat gegeben. Seit Monaten fühle sie sich erschöpft und niedergeschlagen. Ihr Lebensgefährte habe nun nach 8-jähriger Beziehung darauf gedrängt, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen und zu heiraten. Sie könne sich zu diesem Schritt nicht entschließen, sie sei sich einfach nicht sicher, ob er der Richtige sei. Seither spreche er davon, sie zu verlassen. Schon der Gedanke daran erfülle sie mit Angst. Sie könne sich nicht vorstellen, ohne Partner zu leben. Ständig nörgle der Freund an ihr herum, weil sie ungern ausgehe, sondern die freie Zeit lieber im Bett verbringe und lese. Sie habe einfach kein Interesse an den gesellschaftlichen Aktivitäten des Partners, zudem fühle sie sich sehr unsicher und gehemmt in fremder Gesellschaft. Am liebsten hätte sie ihren Freund ganz für sich allein, doch schon die Planung von gemeinsamen Urlauben scheitere an Streitereien.
Diagnostik
-
•
eine biologisch bedingte Vulnerabilität (Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörungbiologisch/psychologisch bedingte VulnerabilitätAmygdala-Dysfunktionen, Neurotransmitter, „behavioral inhibition“, „preparedness“),
-
•
eine psychologisch bedingte Vulnerabilität: Grundüberzeugungen (dysfunktionale Kognitionen, Schemata), Kompetenzdefizite, ein kritischer und distanzierter Erziehungsstil sowie spezifische, als belastend erlebte Lebensereignisse in der Kindheit und Adoleszenz wie öffentliche Kritik oder Ablehnung.
Box 21.6
Diagnostische Kriterien der ängstlichen (vermeidenden) Persönlichkeitsstörung (F60.6; ICD-10-Forschungskriterien)
-
•
Andauernde und umfassende Gefühle von Anspannung und Besorgtheit
-
•
Überzeugung, im Vergleich mit anderen zu sein selbst sozial unbeholfen, unattraktiv oder minderwertig
-
•
Übertriebene Sorge, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden
-
•
Persönliche Kontakte nur, wenn die Sicherheit besteht, gemocht zu werden
-
•
Eingeschränkter Lebensstil wegen des Bedürfnisses nach körperlicher Sicherheit
-
•
Vermeidung beruflicher oder sozialer Aktivitäten, die intensiven zwischenmenschlichen Kontakt bedingen, aus Furcht vor Kritik, Missbilligung oder Ablehnung
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
Prävalenz
Differenzialdiagnose und Komorbidität
Therapie
Resümee
Die ängstliche (vermeidende) PS ist durch Grundannahmen charakterisiert, die zu widersprüchlichen Verhaltensmustern führen: Die ausgeprägte Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Akzeptanz wird von einer starken Angst vor emotionaler Nähe und Verbindlichkeit kontrastiert. Der Rückzug in Fantasiewelten, mangelhafte aktive Problemlösekompetenz und soziale Ängste können als Folge dieser Grundannahmen gesehen werden. Angststörungen und depressive Erkrankungen sind vor allem in Krisensituationen häufig. Im Zentrum der Therapie steht neben einer Verbesserung der sozialen Kompetenz und der Angstbewältigung der Aufbau selbstreferenzieller Wertschätzung, die ein gewisses Maß an Unabhängigkeit von anderen und damit eine vertrauensvollere Zuwendung ermöglicht.
21.6.3
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus (ICD-10) (
)
Fallbeispiel
Borderline-PersönlichkeitsstörungFallbeispielEmotional instabile PersönlichkeitsstörungBorderline-Typsiehe Borderline-PersönlichkeitsstörungPersönlichkeitsstörungenemotional instabileBorderline-Typsiehe Borderline-PersönlichkeitsstörungEine 28-jährige Patientin wird, im Rettungswagen aus der chirurgischen Klinik kommend, in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Ambulanz vorgestellt. Laut Überweisungsbericht hatte sie sich zunächst oberflächliche Schnittwunden an beiden Armen zugefügt und schließlich 1,5 Liter Blut venös entnommen. Trotz ihrer ausgeprägten Anämie habe sie in der chirurgischen Notaufnahme randaliert, den Kopf gegen die Wand geschlagen und sich aufs Heftigste gegen die Transfusion gewehrt.
Die Patientin wirkt bei Aufnahme zwar angespannt, jedoch kontrolliert und kooperativ. Sie berichtet, dass sie seit Tagen unter unerträglichen Spannungen leide, die sie schließlich gezwungen hätten, sich Blut abzunehmen. Jetzt gehe es ihr deutlich besser. Sie benötige keine stationäre Behandlung, vielmehr wünsche sie, sofort nach Hause entlassen zu werden, da in den nächsten Tagen ihr ambulanter Therapeut aus dem Urlaub zurückkomme. Man möge ihn doch umgehend schriftlich benachrichtigen.
Diagnostik
Box 21.7
Diagnostische Kriterien der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ (F60.31; ICD-10-Forschungskriterien)
-
•
Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
-
•
Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
-
•
Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
-
•
Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
-
•
Unbeständige und unberechenbare Stimmung
-
•
Störungen und Unsicherheit bzgl. Selbstbild, Zielen und „inneren Präferenzen“ (einschl. sexueller)
-
•
Neigung, sich auf intensive, aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen
-
•
Übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden
-
•
Wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstbeschädigung
-
•
Anhaltende Gefühle von Leere
Box 21.8
Klinische Diagnostik der Borderline-Persönlichkeitsstörung
-
•
Klinische Hinweise: einschießendeBorderline-Persönlichkeitsstörungdiagnostischer Entscheidungsalgorithmus intensive aversive Anspannung, starke Affektschwankungen, Selbstverletzungen, chronische Suizidalität auch außerhalb depressiver Episoden
-
•
Operationalisierte Diagnostik:
-
–
IPDE (Borderline-Modul)
-
–
SKID II (Strukturiertes Klinisches Interview für Achse-II-SKID (Strukturiertes Klinisches Interview)Achse-I-/-II-StörungenStörungen, nach DSM-IV)
-
-
•
Schweregradeinschätzung: Borderline-Persönlichkeitsstörung Schweregradeinschätzung
-
–
BSL (Borderline-Symptom-Borderline-Symptom-Liste (BSL)Liste – Selbstrating)
-
–
ZAN-ZAN-Skala (Zanarinie-Scale), Borderline-StörungSkala (Zanarini-Borderline-PersönlichkeitsstörungZAN-Skala (Zanarini-Scale)Scale – Fremdrating, deutsche Version derzeit nicht validiert)
-
-
•
Komorbidität: Borderline-PersönlichkeitsstörungKomorbiditätSKID-I (Strukturiertes Klinisches Interview für Achse-I-Störungen, nach DSM-IV)
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
Prävalenz
Verlauf
Differenzialdiagnose und Komorbidität
Ätiologie und Pathogenese
Therapie
-
•
Diagnostik: Grundvoraussetzung für die Durchführung einer störungsorientierten Psychotherapie ist eine operationalisierte Eingangsdiagnostik, die dem Patienten offen gelegt wird. Therapieformen, deren Diagnostik sich im interaktionellen klinischen Prozess entwickelt, gelten heute als obsolet.
-
•
Zeitlicher Rahmen: Die Dauer der jeweiligen Therapieformen ist unterschiedlich und meist auch durch Forschungsdesigns bedingt. Dennoch hat es sich durchgesetzt, bereits zu Beginn der Therapie zeitlich klare Beschränkungen zu vereinbaren und auch einzuhalten.
-
•
Therapievereinbarungen: Allen Therapieformen gemeinsam sind klare Regeln und Vereinbarungen Borderline-PersönlichkeitsstörungTherapieverträgezum Umgang mit Suizidalität, Kriseninterventionen und Störungen der therapeutischen Rahmenbedingungen. Diese werden zu Beginn der Therapie in sog. Therapieverträgen vereinbart.
-
•
Hierarchisierung der therapeutischen Foki: Sei es explizit vereinbart oder implizit im therapeutischen Kodex Borderline-PersönlichkeitsstörungHierarchisierung von Behandlungsfokiverankert, verfügen alle störungsorientierten Verfahren zur Behandlung der BPS über eine Hierarchisierung der Behandlungsfoki. Suizidales Verhalten oder drängende Suizidideen werden stets vorrangig behandelt, Verhaltensmuster oder -ideen, welche die Aufrechterhaltung der Therapie gefährden oder den Therapeuten oder Mitpatienten stark belasten, gelten ebenfalls als vorrangig. Das erstmals von Marsha Linehan formulierte Prinzip der „dynamischen Hierarchisierung“ hat sich heute generell durchgesetzt: Die Wahl der Behandlungsfoki orientiert sich an den jeweiligen momentanen Gegebenheiten, die der Patient mitbringt. Diese werden im Rahmen vorgegebener Heurismen organisiert und strukturiert. Damit unterscheiden sich die Strategien zur Behandlung komplexer Störungsbilder (wie der BPS) von Therapiekonzepten zur Behandlung monosymptomatischer Störungsbilder (wie z. B. Zwangs- oder Angststörungen), deren Ablauf zeitlich klar definiert ist.
-
•
Multimodaler Ansatz: Die meisten Verfahren kombinieren verschiedene therapeutische Module wie Einzel-, Gruppen- und Pharmakotherapie und insbesondere Telefonberatung zur KriseninterventionBorderline-PersönlichkeitsstörungKrisenintervention.
Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT)
Box 21.9
Therapiebausteine der DBT
•
Aufklärung über das StörungsbildDialektisch-behaviorale Therapie (DBT)Vorbereitungsphase
•
Klärung der gemeinsamen Behandlungsziele
Klärung der Behandlungsfoki und Methodik der DBT
•
Behandlungsvertrag, Non-Suizidvertrag
•
Verhaltensanalyse des letzten Suizidversuchs
•
Verhaltensanalyse des letzten Therapieabbruchs
•
Verbesserung der Überlebensstrategien (Umgang mit suizidalen Krisen)
•
Verbesserung der Therapiecompliance (Umgang mit Verhaltensmustern, die die Fortsetzung oder den Fortschritt der Therapie verhindern)
•
Verbesserung der Lebensqualität (Umgang mit Verhaltensmustern, durch welche die emotionale Balance schwer gestört wird)
•
Verbesserung von Verhaltensfertigkeiten (Skills)
•
Verbesserung der emotionalen Regulation und Annäherung an normatives emotionales Erleben und Verhalten
•
Integration des Gelernten und Neuorientierung
Box 21.10
Kriterien für Stadium I (Stage I) der Borderline-Störung nach Linehan
•
Suizidversuche oder Borderline-Persönlichkeitsstörungakutes Stadium (Stage I nach Linehan), KriterienAndrohungen
•
Bedrohung oder Angriffe auf andere
•
Selbstverletzungen
•
Akute Schwierigkeiten mit der Justiz (z. B. Verhaftungen)
•
Inanspruchnahme von psychiatrischen Ambulanzen oder Intensivstationen wegen psychischer Probleme
•
Ungeplante stationäre Aufnahme
•
Substanzabhängigkeit oder schwerwiegender Missbrauch
•
Hochrisikoverhalten
•
Störungsbedingte Arbeits- oder Wohnungslosigkeit
•
Unfähigkeit, Psychotherapie aufrecht zu erhalten
•
Aktuell anhaltende Traumatisierung

•
Suizidales Krisenverhalten
•
Parasuizidales Verhalten
•
Massive Suizidimpulse, Suizidvorstellungen und Suiziddrohungen
•
Suizidgedanken, Erwartungen und Fantasien
•
Verhaltensweisen, die den Fortbestand der Therapie stark gefährden
•
Verhaltensweisen, die den Fortschritt stören oder zum Burnout führen
•
Verhaltensweisen, die in direktem Zusammenhang mit suizidalem Verhalten stehen
•
Verhaltensweisen, die Ähnlichkeiten mit problematischen Verhaltensweisen außerhalb des therapeutischen Settings aufweisen
•
Verhaltensweisen, die unmittelbar zu Krisensituationen führen
•
Leicht zu verändernde Verhaltensweisen
•
Verhaltensweisen, die in direktem Zusammenhang mit übergeordneten Zielen und allgemeinen Lebensprinzipien der Patientin stehen
•
Verhaltensweisen, die die Durchführung von Phase II behindern
•
Fertigkeiten, die gerade in der Gruppe vermittelt werden
•
Fertigkeiten, die in direktem Zusammenhang mit primären Behandlungsfoki stehen
•
Fertigkeiten, die noch nicht gelernt wurden
Box 21.11
Module des Fertigkeitentrainings
1.
StresstoleranzDialektisch-behaviorale Therapie (DBT)Fertigkeiten-/Skillstraining
2.
Emotionsmodulation
3.
Zwischenmenschliche Fertigkeiten
4.
Achtsamkeit
5.
Selbstwertsteigerung
6.
Körperwahrnehmung
1.
Fertigkeiten zur Stresstoleranz: DieseDialektisch-behaviorale Therapie (DBT)Stresstoleranztraining Fertigkeiten fördern die Fähigkeit, Hochstressphasen und Zustände von intensiver Anspannung und Ohnmacht zu bewältigen, ohne auf dysfunktionale Verhaltensmuster wie Selbstverletzungen zurückzugreifen. Wir gehen davon aus, dass die kognitiven Funktionen unter diesen Bedingungen stark eingeengt bzw. eingeschränkt sind und daher rational gesteuerte Problembewältigung kaum möglich ist. Starke sensorische Reize, Aktivierung motorischer Muster oder „information overload“ sind hilfreich, um aversive Anspannung oder dissoziative Phänomene zu reduzieren. Diese Fertigkeiten sollten nur so lange praktiziert werden, bis eine ausreichende Spannungsreduktion eingetreten ist. Dann sollte sich die Patientin den Ursachen ihres Spannungsanstiegs zuwenden, um daraus zukünftig präventive Techniken abzuleiten. Die Patientinnen werden dazu angehalten, zwei bis drei der wirksamsten Stresstoleranzfertigkeiten in einem NotfallkofferDialektisch-behaviorale Therapie (DBT)Notfallkoffer permanent bei sich zu führen.
2.
Fertigkeiten zur Emotionsmodulation: Schwierigkeiten, mit schmerzhaften Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT)EmotionsmodulationstrainingGefühlen umzugehen, gelten aus der Sicht der DBT als zentral für die Genese der BPS. Die Patientinnen sollen lernen, welche Grundgefühle es gibt, woran man sie identifizieren kann und wie sich Gefühle regulieren lassen. Die Identifikation wird über eine Schulung der Achtsamkeit für emotionsspezifische Prozesse trainiert. Durch diese gelenkte Wahrnehmung wird Distanz zur Emotion erzeugt. Darüber werden bislang als unbeherrschbar empfundene Emotionen für die Patientinnen regulierbarer. Auch lernen die Patientinnen ihre Emotionen abzuschwächen, indem sie kognitive Manöver einsetzen, Körperhaltungen modulieren oder ihren physiologischen Erregungszustand etwa durch Atemübungen herunterregeln.
3.
Fertigkeiten zur Verbesserung der inneren Achtsamkeit: Mindfulness-basierte Therapien stammen ursprünglich aus dem Zen, haben aber als Therapiekomponenten mittlerweile einenDialektisch-behaviorale Therapie (DBT)Achtsamkeit, innerefesten Platz im Repertoire der Verhaltenstherapie erobert. Das Grundprinzip besteht darin, unter Ausschaltung von Bewertungsprozessen die gesamte Aufmerksamkeit auf einen einzigen Fokus zu konzentrieren. Im täglichen Üben entwickelt sich dadurch Kompetenz, von aktivierten emotionalen oder kognitiven Prozessen zu abstrahieren und diese als kreative Leistungen des Gehirns mit wenig Aussagekraft über reale Bedingungen zu erkennen. Die Relativierung von aktivierten affektiven Schemata ist eine Grundvoraussetzung jeder verhaltenstherapeutischen Intervention. Die meisten Patientinnen berichten, dass sich nach etwa 3–4 Wochen Üben eine neue Balance zwischen „Gefühl und Verstand“ zu entwickeln beginnt, die „intuitives Wissen“ über sich selbst und die Welt verstärkt.
4.
Zwischenmenschliche Fertigkeiten: Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT)zwischenmenschliche FertigkeitenDieses Modul hat große Ähnlichkeit mit anderen Trainingsmanualen zum Erlernen von sozialer Kompetenz. Borderline-Patientinnen mangelt es jedoch meist nicht an sozialer Kompetenz im engeren Sinne, sondern an Umgangsformen mit störenden Gedanken und Gefühlen während sozialer Interaktionen. Es werden wirkungsvolle Strategien zur Zielerreichung in zwischenmenschlichen Situationen sowie zum Umgang mit Beziehungen vermittelt. Großer Wert wird auch auf Aspekte der Selbstachtung im Umgang mit anderen Menschen gelegt.
5.
Verbesserung des Selbstwerts: Da Borderline-PatientinnenDialektisch-behaviorale Therapie (DBT)Selbstwertverbesserung fast immer unter ausgeprägten Selbstzweifeln und einem sehr niedrigen Selbstwertgefühl leiden, hat es sich als hilfreich erwiesen, spezifische Fertigkeiten zum Aufbau von Selbstwert in die DBT zu integrieren, die auf eine sorgfältige Balance zwischen der Validierung etablierter, auch negativer Grundannahmen und der Aneignung neuer Sichtweisen zielt.
6.
Körperwahrnehmung: Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT)KörperwahrnehmungBorderline-PersönlichkeitsstörungKörpertherapieempirischen Hinweisen, dass Borderline-Patientinnen sehr häufig unter ausgeprägten Störungen der Körperwahrnehmung, -repräsentanz und -bewertung leiden. Es hat sich daher als sehr hilfreich erwiesen, zu deren Verbesserung gezielt Körpertherapie einzusetzen (Bohus und Brokuslaus 2006).
EbM
Die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) war einem heterogenen „treatment as usual“ (z. B. Standardbehandlung ohne formale Psychotherapie, supportive/psychoedukative Gruppen, Einzelpsychotherapie) bei vergleichbaren Abbruchraten hinsichtlich der Zielvariablen Aggressivität, parasuizidale Handlungen und psychische Gesundheit signifikant überlegen (Evidenzstufe Ia: Stoffers et al. 2012). Durch eine KVT-basierte psychologische Therapie und eine DBT lässt sich im weiteren Verlauf die Häufigkeit intendierter Selbstverletzungen reduzieren (Evidenzstufe Ia: Hawton et al. 2016). Einem Review zufolge sind aktuell keine empirisch abgesicherten Empfehlungen für eine medikamentöse Strategie zur Reduktion selbstverletzenden Verhaltens möglich (Hawton et al. 2015).
Aufgrund der methodischen Schwächen und der geringen Fallzahlen in den zugrunde liegenden Studien besteht weiterer Forschungsbedarf.
Schematherapie/schemafokussierte Therapie (SFT)
-
1.
Bindung und emotionale Regulation
-
2.
Veränderung der Schemamodi
-
3.
Autonomieentwicklung
Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)
Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP)
Good Psychiatric Management for Borderline Personality Disorder (GPM)
Psychopharmakotherapie
EbM
Einem Review zufolge scheinen Antipsychotika der 2. Generation, Stimmungsstabilisierer sowie Omega-3-Fettsäuren positive Effekte auf einzelne Zielvariable wie Impulsivität oder interaktionelle Schwierigkeiten zu haben, wobei sich diese Effekte jedoch nicht in einer Reduktion des Gesamt-Scores niederschlugen. Für einen Effekt von Antidepressiva auf die Borderline-typische Symptomatik ergaben sich keine Hinweise (Stoffers et al. 2010). Diese Befunde beruhen jedoch meist auf Einzelstudien, sodass weiterer Forschungsbedarf besteht. Als nicht medikamentös beeinflussbar erwiesen sich das chronische Leeregefühl und die Identitätsstörung.
Resümee
Die emotional instabile PS vom Borderline-Typ ist durch eine ausgeprägte Störung der Emotionsregulation, des Selbstbildes und der zwischenmenschlichen Interaktion charakterisiert. Die meisten dysfunktionalen Verhaltensmuster wie etwa Selbstverletzungen können als kurzfristig wirksame Versuche verstanden werden, Störungen der Emotionsregulation zu kupieren. Derzeit existieren fünf manualisierte störungsorientierte Therapieprogramme. Wissenschaftlich am besten abgesichert ist die Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), für die mittlerweile 14 RCTs sowie eine Metaanalyse vorliegen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss man davon ausgehen, dass sowohl im ambulanten als auch im stationären Setting störungsorientierte psychotherapeutische Verfahren unspezifischen Behandlungsformen deutlich überlegen sind. Therapeuten, die Patienten mit BPS behandeln, sollten sich daher einer spezifischen Zusatzausbildung unterziehen. Bezüglich der Versorgungssituation in Deutschland ist eine flächendeckende Etablierung integrierter Behandlungskonzepte auf der Basis störungsorientierter Konzepte zu fordern. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass etwa die Hälfte der Betroffenen auch in gut evaluierten Behandlungsprogrammen auf die erste psychotherapeutische Behandlung nicht anspricht. Hier ist Forschungsbedarf in Bezug auf Prädiktorvariablen oder die Neuentwicklung von Verfahren für Therapie-Nonresponder gegeben. Abschließend sei auf die zentrale Bedeutung von frühen Interventionen während der Adoleszenz hingewiesen, um so die Entwicklung und Chronifizierung der BPS zu verhindern.
21.6.4
Dissoziale Persönlichkeitsstörung (ICD-10); antisoziale Persönlichkeitsstörung (DSM-IV)
Fallbeispiel
PersönlichkeitsstörungendissozialeEin 37-jähriger Geschäftsmann stellt sich in alkoholisiertem Zustand in Dissoziale PersönlichkeitsstörungFallbeispielder Notaufnahme einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit der dringenden Bitte um stationäre Aufnahme vor. Er fühle sich seit Wochen niedergeschlagen und hoffnungslos. Der Patient berichtet über ein seit mehreren Jahren entwickeltes, weit verzweigtes Netzwerk geschäftlicher Aktivitäten, das jedoch unmittelbar vor dem Zusammenbruch stehe. Bei genauerer Nachfrage ergibt sich, dass er sich bei unbedachten Transaktionen hoch verschuldet und seither zahlreiche „Briefkastenfirmen“ gegründet hat, um durch Scheinaktivitäten potenzielle Geldgeber und Kunden zu gewinnen. Die geliehenen Gelder hätten jeweils ausgereicht, um anstehende Schulden zu tilgen. Er habe sich bislang nie größere Gedanken über die verheerenden Konsequenzen für die Gläubiger gemacht, sie seien schließlich „selbst schuld“, wenn sie auf ihn hereinfielen. Ihm selbst seien Schuldgefühle fremd, er habe gelernt, sich durchzusetzen. Am nächsten Tag stehe ein Gerichtstermin an, zu dem er unmöglich erscheinen könne, da es ihm psychisch zu schlecht gehe.
Diagnostik
Box 21.12
Diagnostische Kriterien der dissozialen Persönlichkeitsstörung (F60.2; ICD-10-Forschungskriterien)
-
•
Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
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Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
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•
Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
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•
Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, darunter auch gewalttätiges Verhalten
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•
Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung zu lernen
-
•
Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierung anzubieten für das Verhalten, durch das die Betreffenden in einen Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
Prävalenz
Differenzialdiagnose und Komorbidität
Therapie
„Erfolgreiche Programme sind multimodal, intensiv, hochstrukturiert, behavioral oder kognitiv-behavioral, werden mit Integrität und Enthusiasmus, eher in Freiheit als in Institutionen betrieben und zielen eher auf hohe denn auf niedrige Risiken. Angemessene Programme sind multimodal und intensiv bezüglich der Gesamtlänge und Anzahl der Stunden. Strategien, die auf Bestrafung abzielen, klientenzentrierte Fallarbeit oder traditionelle Psychotherapie erweisen sich als erheblich weniger wirksam, einige tendieren sogar dazu, bei bestimmten Tätergruppen die Kriminalprognose zu verschlechtern. Erfolgreiche Programme verwenden Methoden, die dem handlungsorientierten Lernstil von Straftätern gerecht werden, und zielen weniger auf Persönlichkeitsmerkmale als auf Klientenmerkmale, die nach dem heutigen empirischen Kenntnisstand kriminogene Faktoren sind.“
-
•
Mögliche Einschränkungen in der Schweigepflicht gegenüber kooperierenden Institutionen oder der Justiz
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•
Vorgehen beim Versäumen von Sitzungen
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Einbeziehung zusätzlicher Informationsquellen
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•
Aufsuchen des Probanden in seinem natürlichen Umfeld
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•
Vorgehen bei Krisen, insbesondere Fremdgefahr
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•
Bedingungen, unter denen einzelne Sitzungen nicht stattfinden (z. B. Proband ist intoxikiert)
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•
Bedingungen, unter denen die Behandlung beendet wird
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•
Falls manifest, ist lebensbedrohliches Verhalten immer als primärer Fokus zu adressieren. Hierunter ist bei der antisozialen PS vor allem fremdaggressives Verhalten zu fassen, das sowohl das Leben als auch die Dissoziale PersönlichkeitsstörungFremdaggressionkörperliche und persönliche Unversehrtheit anderer gefährdet wie jegliche Form von körperlicher und seelischer Gewalt, die Androhung von Gewalt in Wort und Körperhaltung, die häufige gedankliche Beschäftigung damit, andere zu töten, zu verletzen oder zu demütigen, der Besitz von Waffen und nicht zuletzt die rücksichtslose Missachtung der eigenen Sicherheit bzw. der Sicherheit anderer wie z. B. ungeschützte Sexualkontakte oder rücksichtsloses Verhalten im Straßenverkehr.
-
•
An zweiter Stelle stehen Verhaltensmuster, die den geregelten Fortgang der Behandlung dadurch gefährden, dass der Patient beharrlich gegen bestehende soziale Normen verstößt und somit von einer sozialen Krise in die nächste gerät (z. B. Stehlen, Lügen, Betrügen, Verheimlichen, Konsum illegaler Drogen, Missbrauch legaler Drogen, Erscheinen zur Behandlung in berauschtem Zustand, Nichteinhalten finanzieller Verpflichtungen oder Kontakt mit einem kriminellen Umfeld).
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•
Erst an dritter Stelle steht aufseiten des Patienten, aber auch des Therapeuten therapiestörendes Verhalten wie Nicht-Zuhören, fehlende Mitarbeit, geringe Compliance, respektloser Umgang oder Manipulation.
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•
als weitgehend methoden- und inhaltsoffenes Paradigma für die Konzeptionalisierung, Planung und Durchführung einer individuellen Behandlung, in das sämtliche therapeutische Maßnahmen einschl. der Gestaltung des Entlassungsumfelds in einer auch für den Patienten nachvollziehbaren Weise integriert sind;
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als strukturierte Methode zur selbstkontrollierten Vermeidung von Rückfällen;
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als externes Risikomanagement durch die Bereitstellung eines sozialen Empfangsraums und von Nachsorgebedingungen, die sich aus dem individuellen Rückfallvermeidungsplan des einzelnen Probanden ableiten.
EbM
Einem Review zufolge sind aktuell keine empirisch begründbaren Aussagen zur Wirksamkeit von Psychotherapie möglich, da in den vorliegenden Studien primär untersucht wurde, inwieweit sich durch Psychotherapie eine vorhandene Suchtproblematik positiv beeinflussen lässt. Basierend auf einer Einzelstudie ließen sich für ein Kontingenzmanagement positive Effekte auf den sozialen Funktionsstatus nachweisen (Gibbon et al. 2010).
EbM
Einem Review zufolge lassen sich aktuell keine empirisch abgesicherten Empfehlungen für eine medikamentöse Strategie zur Reduktion dissozialer Verhaltensweisen geben (Khalifa et al. 2010).
Therapiestudien
Resümee
Die dissoziale Persönlichkeit scheint von der Grundannahme getragen zu sein, dass soziale Normen und Regeln für sie keine Gültigkeit haben. Delinquenz tritt häufig als Folge antisozialen Verhaltens auf, muss aber nicht zwingend damit konnotiert sein. Unter günstigen sozialen Bedingungen können dissoziale Verhaltensmuster auch zu wirtschaftlichem oder politischem Erfolg führen. Die Therapie zielt auf die Verbesserung von Spannungs- und Frustrationstoleranz, von plangestütztem Verhalten und auf die Etablierung moralischer Grundkategorien. Metaanalysen zur Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Verfahren unter angemessenen Bedingungen zeigen mittlere Effektstärken von 0,33. Wirksamkeitsnachweise von Therapieverfahren für kriminelle Straftäter mit der Kernsymptomatik „Psychopathie“ liegen derzeit nicht vor. Das Gleiche gilt für tiefenpsychologisch basierte Verfahren.
21.6.5
Schizoide Persönlichkeitsstörung (ICD-10)
Fallbeispiel
PersönlichkeitsstörungenschizoideWeshalb seine Frau auf die Idee gekommen sei, Schizoide PersönlichkeitsstörungFallbeispieleine Paartherapie machen zu wollen, so berichtet der 34-jährige Wissenschaftler, sei ihm eigentlich völlig unklar. Er habe nicht das Gefühl, dass mit der Partnerschaft irgendwas nicht stimme. Wenn sie wolle, würde er jedoch gern mitmachen. Er selbst beschreibt sich als nicht unzufrieden. Die Ehefrau jedoch berichtet, dass ihr Mann bereits kurz nach der Trauung nur noch sehr wenig Interesse an ihr gezeigt habe. Die sexuellen Kontakte, die ja schon immer von ihr ausgegangen seien, hätten sich auf null reduziert. Er sitze eigentlich Tag und Nacht über seinem Computer und arbeite an hochkomplexen mathematischen Problemen. Freunde habe er keine, lediglich sein Bruder rufe ab und zu an. All ihre Vorschläge, mal ins Kino oder ins Theater zu gehen, würden bei ihm eher Unverständnis als klare Ablehnung hervorrufen. Vor allem aber mache ihr zu schaffen, dass ihr Freundeskreis sich von ihr zurückgezogen habe, da ihr Mann auch in dieser Runde eigentlich nicht spreche, sondern sich rasch zurückziehe, um in Zeitschriften zu blättern. „Es ist, als seien alle irgendwie Luft für ihn.“ Auf Nachfrage gibt sie an, dass er sich eigentlich nicht verändert habe, vielmehr sei er wohl schon immer so gewesen, alle Initiative sei ja von ihr ausgegangen. Sie habe zunächst geglaubt, er sei schüchtern, was sich in der Ehe schon legen werde.
Diagnostik
Box 21.13
Diagnostische Kriterien der schizoiden Persönlichkeitsstörung (F60.1; ICD-10-Forschungskriterien)
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•
Wenn überhaupt, dann bereiten nur wenige Tätigkeiten Freude.
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•
Zeigt emotionale Kühle, Distanziertheit oder einen abgeflachten Affekt.
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•
Reduzierte Fähigkeit, warme, zärtliche Gefühle für andere oder Ärger auszudrücken.
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•
Erscheint gleichgültig gegenüber Lob oder Kritik von anderen.
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•
Wenig Interesse an sexuellen Erfahrungen mit einem anderen Menschen (unter Berücksichtigung des Alters).
-
•
Fast immer Bevorzugung von Aktivitäten, die allein durchzuführen sind.
-
•
Übermäßige Inanspruchnahme durch Fantasien und Introvertiertheit.
-
•
Hat keine oder wünscht keine engen Freunde oder vertrauensvollen Beziehungen (oder höchstens eine).
-
•
Deutlich mangelhaftes Gespür für geltende soziale Normen und Konventionen. Wenn sie nicht befolgt werden, geschieht das unabsichtlich.
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
Prävalenz
Differenzialdiagnose und Komorbidität
Ätiologie und Pathogenese
Therapie
Stand der Forschung
Resümee
Die schizoide Persönlichkeit erlebt sich als autonomes, kognitiv gesteuertes Individuum ohne ausgeprägte Ängste vor oder Wünschen gegenüber anderen. Affektinduktion, Affektdifferenzierung und Affektauslenkung sind reduziert. Zur Behandlung führen i. d. R. sekundäre Störungen wie Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen. Die Therapie zielt auf die Verbesserung der affektiven Wahrnehmung und der sozialen Integration.
21.6.6
Anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung (ICD-10)
Fallbeispiel
Zwanghafte Persönlichkeitsstörungsiehe Anankastische (zwanghafte) PSAnankastische (zwanghafte) PersönlichkeitsstörungFallbeispielAusgeprägte Schlafstörungen und weitere Symptome einer depressiven Episode führen einen 38-jährigen Patienten zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung. Er berichtet, dass die Symptomatik bereits vor 1 Jahr begonnen habe. Im Vordergrund hätten damals quälender Grübelzwang und Entscheidungsunfähigkeit gestanden. Dies habe sich nun so weit verschlimmert, dass er seinen Pflichten am Arbeitsplatz nicht mehr nachkommen könne. Anamnestisch gibt er an, dass er bis vor 1 Jahr mit seiner Lebensführung sehr zufrieden war. Sein Leben habe vornehmlich aus Arbeit bestanden. Als Botaniker habe er sich vor allem mit Klassifikationssystemen auseinandergesetzt, was seinem ausgeprägten Ordnungssinn sehr entgegengekommen sei. Er habe als rechte Hand eines von ihm sehr verehrten Professors gearbeitet. Die Abteilung habe lediglich drei Mitarbeiter gehabt, alles sei überschaubar und klar strukturiert gewesen.
Seine überraschende Berufung auf einen Lehrstuhl habe neben Stolz erstmals ein tiefes Gefühl der Angst ausgelöst. Bereits bei den Berufungsverhandlungen sei ihm regelmäßig übel geworden. Bald nach dem Umzug hätten die Beschwerden begonnen. Obgleich er bis spät in die Nacht am Schreibtisch gesessen sei, habe er nur Bruchteile der anstehenden Arbeit bewältigt. Ständig sei er beschäftigt gewesen, sich Zeitpläne zu strukturieren, jedoch ohne Erfolg. Vor allem die Vorbereitung der Vorlesung sei quälend gewesen. Tagelang habe er Quellen und Originalarbeiten studiert, um potenzielle Fehler zu vermeiden. Vor jeder Frage der Studenten habe er innerlich gezittert. Er habe das Gefühl, jede einzelne Diplomarbeit bis ins Detail durcharbeiten zu müssen. Man könnte ihm sonst ja Nachlässigkeit vorwerfen. Am meisten habe ihn jedoch die Gremienarbeit an der Universität belastet. Ständig müsse er Entscheidungen treffen. Anfangs habe er oft seine Frau um Rat gefragt, die ihn zunächst auch unterstützt habe, jetzt aber drohe, ihn zu verlassen. Wahrscheinlich überfordere er sie. Zuletzt habe er sie sogar gefragt, welche Krawatte er zu welcher Sitzung tragen solle.
Diagnostik
Box 21.14
Diagnostische Kriterien der anankastischen Persönlichkeitsstörung (F60.5; ICD-10-Forschungskriterien)
-
•
Gefühle von starkem Zweifel und übermäßiger Vorsicht
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•
Ständige Beschäftigung mit Details, Regeln, Listen, Ordnungen, Organisation oder Plänen
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•
Perfektionismus, der die Fertigstellung von Aufgaben behindert
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•
Übermäßige Gewissenhaftigkeit und Skrupelhaftigkeit
-
•
Unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit unter Vernachlässigung – bis zum Verzicht – von Vergnügen und zwischenmenschlichen Beziehungen
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•
Übertriebene Pedanterie und Befolgung sozialer Konventionen
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Rigidität und Eigensinn
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•
Unbegründetes Bestehen darauf, dass andere sich exakt den eigenen Gewohnheiten unterordnen, oder unbegründete Abneigung dagegen, andere etwas machen zu lassen
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
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Ich muss mich kontrollieren.
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Ich darf keine Fehler machen.
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Ich weiß, was korrekt ist.
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•
Jedes Detail ist wichtig.
-
•
Ich muss mich und andere beständig fordern.
Prävalenz
Differenzialdiagnose und Komorbidität
Therapie
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•
„Es gibt immer richtige und falsche Verhaltensmuster, Emotionen und Entscheidungen.“
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•
„Ein Fehler bedeutet eine Verfehlung.“
-
•
„Ich muss mich selbst und meine Umgebung ständig unter Kontrolle haben.“
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•
„Der Verlust von Kontrolle bedeutet Gefahr.“
-
•
„Ohne Regeln und Riten bricht alles zusammen.“
Stand der Forschung
Resümee
Die anankastische (oder zwanghafte) PS ist durch ein durchgehendes Muster von Perfektionismus, Streben nach Sorgfalt und Kontrollbedürfnis auf Kosten von Effektivität und Flexibilität charakterisiert. Veränderungen im psychosozialen System, die rasche Neuorientierung und strategisches Handeln bedingen, führen häufig zur Überforderung und damit zur krisenhaften Zuspitzung dysfunktionaler Verhaltensmuster. Angststörungen, somatoforme Störungen und Erkrankungen aus dem affektiven Spektrum können auftreten. Im Zentrum der Psychotherapie anankastischer Persönlichkeiten stehen nach der Behandlung dieser Störungen die Relativierung externer Normen und die Entwicklung und Wahrnehmung individueller Bedürfnisse und Ziele.
21.6.7
Histrionische Persönlichkeitsstörung (ICD-10)
Fallbeispiel
Histrionische PersönlichkeitsstörungFallbeispielPersönlichkeitsstörungenhistrionischeNach Intoxikation mit Benzodiazepin-Präparaten wird die knapp 40-jährige Sozialpädagogin von ihrem langjährigen Therapeuten in die Notaufnahme begleitet. Dort gleitet sie leb- und hilflos zu Boden, nicht ohne sich an den etwas überforderten Begleiter zu klammern und an dessen Hilfsbereitschaft zu appellieren. Am nächsten Morgen berichtet sie weitschweifig über einen schwerwiegenden Fall von Mobbing, der ihr in der Beratungsstelle für Frauenfragen widerfahren sei. Obwohl sie dort seit nun über 2 Jahren arbeite, würden vor allem die Kolleginnen versuchen, sie fertig zu machen. Man sage ihr sogar eine sexuelle Beziehung zum Chef nach. Dies sei völlig an den Haaren herbeigezogen. Seit sie während der letzten Therapie missbraucht worden sei, müsse sie jedweden sexuellen Impuls mit Benzodiazepinen bekämpfen. Auf Nachfrage gibt sie an, zahlreiche psychotherapeutische Ausbildungen begonnen, jedoch keine zum Abschluss gebracht zu haben. Derzeit beschäftige sie sich mit Zen und dessen Implikationen für das Patriarchat. Die Vorgänge an ihrem Arbeitsplatz lassen sich erst durch einen Anruf beim Arbeitgeber erhellen, der berichtet, dass die befristete ABM-Maßnahme auslaufe und sich keine weiteren Finanzierungsmöglichkeiten ergäben.
Diagnostik
Box 21.15
Diagnostische Kriterien der histrionischen Persönlichkeitsstörung (F60.4; ICD-10-Forschungskriterien)
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•
Dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen
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Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch andere oder durch Ereignisse (Umstände)
-
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Oberflächliche, labile Affekte
-
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Ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, in denen die Betreffenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen
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•
Unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten
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•
Übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
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•
Der theatralische Typ zeichnet sich durch ausgeprägte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an Erfordernisse der jeweiligen Umgebung aus. Er scheint in jede Rolle schlüpfen zu können und arbeitet hart daran, sich diese Rolle selbst zu glauben. Ein hohes Maß an Verführungskunst und Attraktivität für das andere Geschlecht, gepaart mit einem Sinn für Dramatik und Romantik, prädisponiert diesen Typ als Femme fatale oder Bonvivant. Vornehmlich für Menschen gleichen Geschlechts ist das histrionische Gebaren doch rasch offensichtlich, wenn man nicht gerade selbst von der histrionischen Persönlichkeit bewundert oder umworben wird.
-
•
Der hypomane Typ besticht durch ein hohes Maß an Energie, Lebenslust und Naivität. Getrieben von der Sucht nach aufregenden Ereignissen ist dieser Typ in hohem Maße irritabel, impulsiv und sprunghaft, dabei oft äußerst charmant, eloquent und witzig. Selten gelingt es, eine Weile stillzusitzen oder sich auszuruhen, „ständig auf dem Sprung“, neuen Gedanken und Ideen nachjagend. Die Fähigkeit zur Expressivität, die rasche Auffassungsgabe und Suggestibilität ermöglichen kurzfristige Erfolge auf dem Sektor der Schauspielkunst. So erfrischend der hypomane Typ auch wirkt, so unzuverlässig, oft unverantwortlich sind die zwischenmenschlichen Beziehungen. Nicht selten hinterlassen sie eine „Schneise der Enttäuschungen und nicht eingehaltenen Versprechungen“.
-
•
Der infantile Typ leidet unter affektiver Labilität, dysthymen Phasen und ausgeprägten Gefühlen der Abhängigkeit und Hilflosigkeit. Die Angst, verlassen zu werden, kann ähnlich stark ausgeprägt sein wie bei der abhängigen PS (Kap. 21.6.1), führt jedoch bei histrionischen Persönlichkeiten zu starken Schwankungen zwischen submissiven, kindlich-naiven und sehr abweisenden, fast trotzigen oder aggressiven Verhaltensmustern. Von allen histrionischen Subtypen suchen dieser Typ sicherlich am häufigsten psychiatrische Hilfe. Die Schwierigkeiten, sexuelle Impulse und Emotionen zu kontrollieren, das nachhaltige Gefühl, nicht verstanden zu werden, das rasche Schwanken zwischen bitteren Klagen und erotisch submissivem Verhalten führen nicht selten zu tiefgreifenden interpersonellen Konflikten, auch dramatisch verlaufenden Psychotherapien. Gerade weil diese Patienten klare Grenzen häufig als Zurückweisung fehlinterpretieren, besteht die Gefahr, dass Therapeuten ihre Rolle überschreiten und private Kontakte aufnehmen, was fatale Konsequenzen für beide Parteien nach sich ziehen kann.
-
•
Der schmeichelnde Typ wird beherrscht durch das Bestreben, Anerkennung und Bewunderung von anderen zu erwirken. Die Tendenz, allen und jedem zu Gefallen und zu Diensten zu sein, basiert auf dem nicht ausgesprochenen, selten bewussten Anspruch, im Gegenzug von allen geliebt zu werden. So zeigen sich diese Personen äußerst hilfsbereit, besorgt und zuvorkommend, was das Wohlergehen anderer anbelangt. Nicht selten sind sie bereit, sich schier aufzuopfern, um die ersehnte Anerkennung zu gewinnen. Millon betont, dass ein ausgeprägtes Defizit an Selbstwertgefühl, ein dumpfes Ahnen, im Grunde unliebsam, unwillkommen und überflüssig zu sein, die Triebkraft für ihre beständige Suche nach Bestätigung darstellt. Spürend, dass die mühsam erworbene Anerkennung jedoch lediglich um den Preis der Erniedrigung erlangt wird, bestätigt sich das Gefühl der Wertlosigkeit gerade in Momenten der ersehnten Aufmerksamkeit durch andere.
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•
Der verschlagene Typ trägt nur oberflächlich Verhaltensmerkmale von Freundlichkeit und Geselligkeit zur Schau. Gegenüber näher Vertrauten wirkt er eher launisch, impulsiv und unzuverlässig. Ständig auf der Suche nach stimulierenden Ereignissen, pflegt er häufig wechselnde Beziehungen und kurzfristige Engagements. Er gilt als egozentrisch, dabei häufig interpersonelle Konflikte suchend, um diese rationalisierend bis beleidigend zu lösen. Ihren oberflächlichen Charme und ihr ausgeprägtes Gespür für soziale Strukturen einsetzend, verstehen diese Personen es häufig meisterhaft, Mitmenschen zu manipulieren, für ihre jeweiligen Zwecke zu missbrauchen und zu kontrollieren. Konkurrenz wird häufig gesucht, dann jedoch mitleidlos, bisweilen überzogen bekämpft. Wechselt das Interesse, werden in kürzester Zeit aus ehemals Bekämpften neue Bündnispartner. Mit zunehmendem Alter drängt zunehmend kalter Zynismus in den Vordergrund. Die größte Angst, dass niemand freiwillig, aus eigenem Antrieb, um ihrer selbst willen ihnen Zuneigung entgegenbringt, ist Wirklichkeit geworden.
Prävalenz
Differenzialdiagnostik und Komorbidität
Therapie
-
•
Zunächst sollten mit dem Patienten sinnvollere, d. h. ökonomischere Strategien erarbeitet werden, um seinem Bedürfnis nach Zuwendung und Wichtigkeit gerecht zu werden. Hier ist es durchaus möglich, die Strategie des „Dramas“ zu explizieren. Die meisten Histrioniker wissen um diese Tendenz, und wenn die Beziehung zum Therapeuten gut ist, kann man diesen Mechanismus als „automatisiertes dysfunktionales Handeln: Wir bauen ein Drama …“ definieren, damit auch relativieren und zum Gegenstand von Verhaltens- und Bedingungsanalysen machen.
-
•
Im zweiten Schritt sollte man darauf hinarbeiten, dieses Diktat der Wichtigkeit für andere zu relativieren. Die Wahrnehmung histrionischer Patienten ist fast vollständig auf den Außenbereich gerichtet, die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse stark unterentwickelt (auch wenn dies bei dem häufig scheinbar egozentristischen Auftreten von Histrionikern kontraintuitiv wirkt). Immer wieder sollte der Therapeut also die Aufmerksamkeit auf die jeweils „innere“ Bedürfnislage des Patienten lenken: „Was ist Ihnen wirklich wichtig?“, „Was brauchen Sie wirklich?“, „Was fällt Ihnen leicht und tut Ihnen gut?“, „Was können Sie nicht so gut, und was macht Sie unzufrieden?“
Resümee
Die histrionische PS ist durch ein ausgeprägtes Verlangen nach Aufmerksamkeit, Außenreizen und „authentischen“ Gefühlen charakterisiert. Das Auftreten ist oft theatralisch, der Denkstil unscharf und sprunghaft, dabei stark suggestibel. Konfrontation mit realen Defiziten und Umbruchsituationen im sozialen Umfeld können zur krisenhaften Zuspitzung führen. Das Ziel therapeutischer Interventionen oder Behandlungen sollte darin liegen, die exklusive Außenorientierung zugunsten eines verbesserten und stabileren Selbstwertgefühls zu relativieren. Dysfunktionale Handlungsmuster wie Dramatisierung und die zwanghafte Suche nach Aufmerksamkeit sollten verdeutlicht und durch verbesserte Problemlösekompetenz, Akzeptanz des „Gewöhnlichen“ ersetzt werden. Kognitive Therapeuten fokussieren den impressionistischen Denkstil; Verhaltenstherapeuten sehen den Abbau manipulativer Strategien zugunsten adäquater Kommunikationsmuster im Vordergrund. Als derzeit einziges in einer RCT nachgewiesenes Behandlungskonzept für Cluster-C-Störungen verfügt die Schematherapie diesbezüglich über ein Alleinstellungsmerkmal.
21.6.8
Paranoide Persönlichkeitsstörung (ICD-10)
Fallbeispiel
Paranoide PersönlichkeitsstörungFallbeispielPersönlichkeitsstörungenparanoideHerr B. wird vom Notarzt, der von der Ehefrau alarmiert wurde, in die medizinische Klinik gebracht. Ihr Mann, so berichtet sie, habe vor Kurzem in suizidaler Absicht ein Pflanzenschutzmittel eingenommen, nachdem er sie seit Wochen gedrängt habe, gemeinsam mit ihm aus dem Leben zu scheiden. Sie finde jedoch nicht den Mut dazu. Ausschlaggebend für die krisenhafte Zuspitzung sei die Kündigung des Arbeitsplatzes. Ihr Mann habe eine wichtige leitende Position in einem Wirtschaftsunternehmen bekleidet, habe Tag und Nacht gearbeitet und sei sehr erfolgreich gewesen. Damit habe er sehr viel Neid bei seinen Kollegen geweckt, die seit Jahren schon versuchten, ihm das Leben schwer zu machen. Ständig habe sich ihr Mann bedroht gefühlt und sei nun sicher, Opfer einer von langer Hand geplanten Intrige geworden zu sein. Natürlich habe er sich gewehrt, auch mit seitenlangen Beschwerdebriefen an die Verwaltung, um auf die Machenschaften der Kollegen hinzuweisen. Man habe ihn jedoch nicht ernst genommen. Belastend sei zudem noch der Prozess, den er seit Jahren gegen seinen Nachbarn führe. Dieser habe mittlerweile die gesamte Nachbarschaft aufgehetzt, sodass niemand sie mehr grüße. Auch die Kinder würden in der Schule von den Mitschülern „geschnitten“. Sie sei die einzige, die wirklich zu ihm halte, doch zum letzten gemeinsamen Schritt fehle ihr schon der Kinder wegen der Mut.
Diagnostik
Box 21.16
Diagnostische Kriterien der paranoiden Persönlichkeitsstörung (F60.0; ICD-10-Forschungskriterien)
-
•
Übertriebene Empfindlichkeit auf Rückschläge und Zurücksetzungen
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•
Neigung, dauerhaft Groll zu hegen, d. h., Beleidigungen, Verletzungen oder Missachtungen werden nicht vergeben
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•
Misstrauen und anhaltende Tendenz, Erlebtes zu verdrehen, indem neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindlich oder verächtlich missdeutet werden
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•
Streitbarkeit und beharrliches, situationsunangemessenes Bestehen auf eigenen Rechten
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•
Häufiges ungerechtfertigtes Misstrauen gegenüber der sexuellen Treue des Ehe- oder Sexualpartners
-
•
Ständige Selbstbezogenheit, besonders in Verbindung mit starker Überheblichkeit
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•
Häufige Beschäftigung mit unbegründeten Gedanken an Verschwörungen als Erklärungen für Ereignisse in der näheren oder weiteren Umgebung
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
„Ist es nicht schrecklich, allein unter lauter Feinden zu sitzen?“ – „Überhaupt nicht schrecklich. Ich habe mein Leben lang Feinde gehabt. Und sie haben mir weitergeholfen, statt mir zu schaden. Und wenn ich einmal sterbe, kann ich sagen: Ich bin keinem etwas schuldig, und ich habe nichts geschenkt bekommen. Alles hab ich mir selbst erkämpft.“
Strindberg, „Der Totentanz“
Prävalenz
Differenzialdiagnose und Komorbidität
Ätiologie und Pathogenese
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1.
Paranoid-narzisstischer Subtyp, der durch ausgeprägteParanoide PersönlichkeitsstörungSubtypen Größenfantasien gekennzeichnet ist, die bei Konfrontation mit eigenen Unzulänglichkeiten aktiviert werden: „Ich werde bekämpft, weil ich einfach besser bin als die anderen.“
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2.
Paranoid-antisozialer Typ, der von der Ansicht geprägt ist, die Welt sei grausam und sadistisch und zwinge ihn daher zu rebellischem und feindseligem Verhalten: „Ich kann nur überleben, wenn ich zuerst zuschlage.“
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3.
Paranoid-zwanghafter Typ, der geprägt ist durch ein hohes Maß an Kontrolle, Perfektionismus und Selbstkritik, die häufig nach außen projiziert wird: „Die anderen lauern nur darauf, dass ich einen Fehler mache, um mich der Lächerlichkeit preiszugeben.“
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4.
Paranoid-passiv-aggressiver Typ, der durch soziale Isolation und hohe Reizbarkeit auffällt: „Sobald ich das Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit zulasse oder gar zu erkennen gebe, werde ich schwach und verletzbar.“
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5.
Dekompensierte paranoide Persönlichkeit mit einer hohen Vulnerabilität für psychotische EpisodenPersönlichkeitdekompensierte paranoide.
Therapie
Resümee
Die paranoide PS ist durch die Tendenz charakterisiert, neutralen oder freundlichen Handlungen zu misstrauen und diese als feindselig oder kränkend zu interpretieren. Die Grundannahme der permanenten potenziellen Bedrohung von außen führt dazu, die Ursachen interpersoneller Konflikte grundsätzlich beim Gegenüber auszumachen. Psychotherapeutische Hilfe wird dementsprechend selten und wenn, dann wegen Sekundärerkrankungen wie somatoformen Störungen oder depressiven Entwicklungen gesucht. Der therapeutische Prozess zielt primär auf die Wahrnehmung und Transformation der kognitiven Grundannahmen sowie die Bearbeitung der dabei freigesetzten Insuffizienzgefühle.
Als derzeit einziges in einer RCT nachgewiesenes Behandlungskonzept für Cluster-C-Störungen verfügt die Schematherapie diesbezüglich über ein Alleinstellungsmerkmal (s. auch Kap. 21.6.7).
21.6.9
Narzisstische Persönlichkeitsstörung (DSM-5) (
)
Tiefer gehende Informationen
Kap. 21.6.9 mit Box 21.17 zur – in der ICD-10 nicht operationalisierten – narzisstischen Persönlichkeitsstörung finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/online-Kap-21-6-9. Narzisstische PersönlichkeitsstörungPersönlichkeitsstörungennarzisstische
Fallbeispiel
Narzisstische PersönlichkeitsstörungFallbeispielPersönlichkeitsstörungennarzisstischeEine Therapeutin berichtet in einer Supervisionssitzung von einem 28-jährigen Patienten, der unbedingt Hilfe von ihr verlange, weil seine Frau seit mehreren Monaten „völlig dichtgemacht“ habe. Der Mann „komme nicht mehr an seine Gattin heran“. Sie schließe sich in ihrem Zimmer ein, gehe jedem gemeinsamen Essen aus dem Weg und verweigere sich seinen sexuellen Annäherungsversuchen seither ebenfalls, ohne dass sie ihm die Gründe für diesen Rückzug mitgeteilt habe.
Und dann habe der Patient ziemlich direkt klare Forderungen an sie gestellt und diese sinngemäß etwa mit folgenden Worten begründet: „Hören Sie gut zu. Gleich vorweg: Eigentlich ist mit uns alles in Ordnung. Ich möchte aber wissen, ob Sie mir dabei helfen können, meine Frau wieder ,aufzumachen‘. Inzwischen habe ich nämlich meine Zweifel, ob ich überhaupt bei Psychotherapeuten an der richtigen Adresse bin. Ich war nämlich schon bei drei Ihrer Kollegen, und die hielten sich alle irgendwie nicht für zuständig.“
Trotz vorhandener Ambivalenzen geht die Therapeutin auf den Wunsch des Patienten ein und versucht ihm in den ersten Sitzungen, „Verstehen“ und „Empathie“ als grundlegende Interaktionsstrategie zu vermitteln. Dies begründet sie gegenüber dem Patienten u. a. mit dem Hinweis, dass sich andere Menschen leichter öffnen, wenn sie sich zuvor gut verstanden fühlten. Das könnte auch bei seiner Ehefrau möglich sein.
Als viel bedeutsamer für das weitere Vorgehen erweist sich jedoch eine Geschichte, die der Patient nach drei Sitzungen erzählt. Nachdem er versucht habe, einfühlender auf seine Frau einzugehen, habe diese ihm gestanden, dass sie vor Monaten eine einmalige sexuelle Beziehung zu einem anderen Mann gehabt habe. Nun hatten sich beide Partner zu Beginn ihrer Partnerschaft geschworen, niemals eine Außenbeziehung einzugehen. Dieser Schwur sei bei der Eheschließung erneuert und dahingehend verschärft worden, dass eine Nebenbeziehung gleichsam das Ende der Ehe bedeute. Nachdem die Ehefrau sich von einem gemeinsamen Bekannten sexuell habe verführen lassen, habe sie nicht mehr gewusst, was sie machen solle. Sie wollte ihren Mann nicht verlieren, weil sie ihn immer noch liebe. Deshalb habe sie einfach dichtgemacht.
Der Patient kommt nach diesem Bericht seiner Frau „völlig aufgelöst“ und „total depressiv“ in die Behandlungssitzung. Die Therapeutin hegt die Befürchtung, er könne suizidal sein. Genau an dieser Stelle ändert sich der Dienstauftrag in der Therapie, und es beginnt so etwas wie die persönliche Therapie eines Mannes, der – angesichts der ihm widerfahrenen Kränkung sowie seiner Reaktion darauf – für sich selbst inzwischen sogar die Diagnose einer „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ akzeptieren kann, und zwar nachdem die Therapeutin ihn damit vertraut gemacht hat, welches Störungsverständnis sich mit diesem Konzept verbindet und welche Behandlungsperspektiven sich damit verknüpfen. Nach der bisherigen „Supervision und Beratung des Patienten“ jedenfalls folgte jetzt – in der persönlichen Krise – ein Zurückschalten in die übliche Psychotherapiestrategie: eine empathische Gesprächsstrategie, die es dem Patienten ermöglichen sollte, sich in Ruhe Klarheit über die Bedingungen seiner jetzigen Verfassung zu verschaffen.
Prävalenz
Diagnostik
Box 21.17
Diagnostische Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung nach DSM-5 (APA 2015)
-
1.
Hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (z. B. übertreibt die eigenen Leistungen und Talente; erwartet, ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden).
-
2.
Ist stark eingenommen von Fantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe.
-
3.
Glaubt von sich, „besonders“ und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder angesehenen Personen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder nur mit diesen verkehren zu können.
-
4.
Verlangt nach übermäßiger Bewunderung.
-
5.
Legt ein Anspruchsdenken an den Tag (d. h. übertriebene Erwartungen an eine besonders bevorzugte Behandlung oder automatisches Eingehen auf die eigenen Erwartungen).
-
6.
Ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch (d. h. zieht Nutzen aus anderen, um die eigenen Ziele zu erreichen).
-
7.
Zeigt einen Mangel an Empathie: ist nicht willens, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich mit ihnen zu identifizieren.
-
8.
Ist häufig neidisch auf andere oder glaubt, andere seien neidisch auf ihn/sie.
-
9.
Zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen.
Typische Verhaltensmuster und Grundannahmen
Differenzialdiagnostik und Komorbidität
Ätiologie und Pathogenese
Therapie
Resümee
Die narzisstische PS ist charakterisiert durch eine übermäßige Selbstwertschätzung und ausgeprägte interpersonelle Schwierigkeiten, die sich aus fehlender Empathie, sozialem Unbehagen, Angst vor Kritik und Schüchternheit ergeben. Das öffentlich präsentierte überhöhte Selbstkonzept wird durch Interaktionspartner beständig infrage gestellt, was als bedrohlich erlebt wird, Rechtfertigungszwang auslöst und die überwertigen kognitiven Konstruktionen aufrechterhält. In der Folge kommt es zu eskalierenden Beziehungsstörungen.
Narzisstische Eigenarten finden sich bei allen anderen Persönlichkeitsstörungen; signifikante Komorbiditäten mit fast allen anderen Achse-II-Störungen sind häufig. Psychotherapeutische Hilfe wird i. d. R. nur wegen Sekundärerkrankungen aufgesucht. Der Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit liegt darauf, die interaktionellen Schwierigkeiten durch eine Verbesserung der Empathiefähigkeit und die Fokussierung auf konkrete Probleme zu reduzieren.
Als derzeit einziges in einer RCT nachgewiesenes Behandlungskonzept für Cluster-C-Störungen verfügt die Schematherapie diesbezüglich über ein Alleinstellungsmerkmal (Kap. 21.6.7).
Literatur
Die Literatur zu diesem Kapitel finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/literatur-kap21.


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