© 2021 by Elsevier GmbH
Bitte nutzen Sie das untenstehende Formular um uns Kritik, Fragen oder Anregungen zukommen zu lassen.
Willkommen
Mehr InformationenB978-3-437-22485-0.00003-8
10.1016/B978-3-437-22485-0.00003-8
978-3-437-22485-0
Elsevier GmbH
Abb. 3.1

[G092]
Auszug aus der ICD-10-Checkliste „Schizophrenie“ (aus Hiller et al. 1995)IDCL (Internationale Diagnosechecklisten)
Abb. 3.2

[L235]
Diagnostischer Prozess bei operationalen Diagnosesystemen (nach Stieglitz et al. Mombour 2002)
Psychiatrische KlassifikationssystemeKlassifikation(ssysteme)historische Entwicklung: historische Entwicklung
Jahr | Systembezeichnung | Anmerkungen |
1948 | ICD-6 | Erste offizielle Klassifikation der WHO |
1952 | DSM-I | Definition der Kategorien, Beschreibung der Syndrome |
1955 | ICD-7 | Keine grundlegenden Änderungen gegenüber ICD-6 |
1965 | ICD-8 | Erweiterung um neue Krankheitsgruppen; internationale Kooperation bei der Entwicklung |
1968 | DSM-II | |
1972 | SLK | St.-Louis-Kriterien |
1975 | RDC | Research Diagnostic Criteria |
1977 | ICD-9 | |
1980 | DSM-III | Erste offizielle Operationalisierung psychiatrischer Störungen, multiaxiale Klassifikation; Feldstudien vor Einführung |
1987 | DSM-III-R | Einführung des Komorbiditätsprinzips |
1992 | ICD-10 | Klinisch-diagnostische Leitlinien |
1994 | ICD-10 | Forschungskriterien (heute: Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis) |
2000 | DSM-IV-TR | Textrevision zum DSM-IV |
2013 | DSM-5 | Dt.: 2015 |
ICD: International Classification of Diseases (Weltgesundheitsorganisation, WHO)
DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (American Psychiatric Association, APA)
Operationalisierte Diagnostik am Beispiel der depressiven EpisodeDepressive Episodeoperationalisierte Diagnostik (F32.x) der ICD-10 (Forschungskriterien/Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis) DiagnostikoperationalisierteDepressive Episodediagnostische Kriterien
Symptomkriterien | |
|
|
Zeitkriterium | |
Mindestens 2 Wochen | |
Ausschlusskriterien | |
|
|
Diagnosealgorithmus | |
Leicht | Mindestens zwei der Symptome 1–3 sowie ein oder mehr zusätzliche Symptome von 4–10 bis zu einer Gesamtzahl von vier Symptomen |
Mittel | Mindestens zwei der Symptome 1–3 sowie zusätzliche Symptome von 4–10 bis zu einer Gesamtzahl von mindestens sechs Symptomen |
Schwer | Alle Symptome 1–3 sowie zusätzliche Symptome von 4–10 bis zu einer Gesamtzahl von mindestens acht Symptomen |
Multiaxiale Ansätze in ICD-10 und DSM-IVMultiaxiale DiagnostikICD-10Multiaxiale DiagnostikDSM-IV
Achse | ICD-10 | DSM-IV |
I | Klinische Diagnosen
|
Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme |
II | Psychosoziale Funktionseinschränkungen (WHO-DDS)Globaleinschätzung: 4 Subskalen |
Persönlichkeitsstörungen, geistige Behinderung |
III | Umgebungs- und situationsabhängige Ereignisse/Probleme der Lebensführung und Lebensbewältigung | Medizinische Krankheitsfaktoren |
IV | Entfällt | Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme |
V | Entfällt | Globale Erfassung des Funktionsniveaus (GAF-Skala) |
Gegenüberstellung der diagnostischen Hauptgruppen der ICD-10 und des DSM-5Klassifikation(ssysteme)Hauptstörungsgruppen
ICD-10 | DSM-5 | |
F0 | Organische einschl. symptomatische psychische Störungen | Neurokognitive Störungen (NCD) |
F1 | Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen | Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen |
F2 | Schizophrenie, schizoptype und wahnhafte Störungen | Schizophrenie-Spektrum- und andere psychotische Störungen |
F3 | Affektive Störungen | Bipolare und verwandte Störungen Depressive Störungen |
F4 | Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen | Angststörungen Zwangsstörungen und verwandte Störungen Trauma- und belastungsbezogene Störungen Dissoziative Störungen Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen |
F5 | Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren | Fütter- und Essstörungen Ausscheidungsstörungen Schlaf-Wach-Störungen Sexuelle Funktionsstörungen |
F6 | Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen | Persönlichkeitsstörungen Disruptive, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen Geschlechtsdysphorie Paraphile Störungen |
F7 | Intelligenzminderung | Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung |
F8 | Entwicklungsstörungen | |
F9 | Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend | |
F99 | Nicht näher bezeichnete psychische Störungen | Andere psychische Störungen |
Codierungsebenen am Beispiel depressiver Störungen in ICD-10 und DSM-5: mittelgradige depressive EpisodeDepressive EpisodeCodierungsebenen
Ebene | ICD-10 | DSM-5 | ||
2-stellig | F3 | Affektive Störungen | Depressive Störung | |
3-stellig | F32 | Depressive Episode | 296 | Major Depression |
4-stellig | F32.1 | Mittelgradige depressive Episode | 296.2 | Major Depression, einzelne Episode |
5-stellig | F32.11 | ... mit somatischen Symptomen | 296.22 | ... mittelschwer |
Geplante Gruppen in der ICD-11 (Del Vecchio 2017) ICD-11geplante Störungsgruppen
|
Geplante Struktur der „Klinischen Beschreibungen und Diagnostischen Leitlinien“ (Del Vecchio 2017) ICD-11klinische Beschreibungen/Leitlinien, geplante Struktur
|
Untersuchungsinstrumente zur Diagnostik von ICD-10- und DSM-III-R-/DSM-IV-Störungen: Gesamtbereich psychischer Störungen Klassifikatorische Diagnostik, Erhebungsinstrumente
Bezeichnung/Abkürzung | Gruppe | System | Autor(en) |
Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV (SKID) | StrI | DSM-IV | Wittchen et al. (1997) |
Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN) | StrI | DSM-III-R/ICD-10 | von Gülick-Bailer et al. (1994) |
Diagnostisches Interview bei Psychischen Störungen (DIPS) | StrI | DSM-IV/ICD-10 | Schneider und Margraf (2011) |
DIA-X/M-CIDI | StaI | DSM-IV/ICD-10 | Wittchen und Pfister (1997) |
Internationale Diagnosechecklisten (IDCL) für ICD-10 (IDCL für ICD-10) | CL | ICD-10 | Hiller et al. (1995) |
Internationale Diagnosen-Checklisten für DSM-IV (IDCL für DSM-IV) | CL | DSM-IV | Hiller et al. (1997) |
StrI: strukturiertes Interview; StaI: standardisiertes Interview; CL: Checkliste
Erhebungsinstrumente zur ICD-10 und DSM-III-R/IV: praktische Aspekte ErhebungsinstrumenteVergleichChecklistenKennzeichen und UnterscheidungsmerkmaleInterviewsKennzeichen und Unterscheidungsmerkmale
Training | Durchführung (min) | Auswertung | Voraussetzungen | |||
Hand | Computer | Klinische Erfahrung | ICD-/DSM-Kenntnisse | |||
Checklisten | ||||||
IDCL | 3–4 d | 30–60 | ja | nein | ja | ja |
CDML | 3–4 d | 10–220 | ja | nein | ja | ja |
Strukturierte Interviews | ||||||
SCAN | 1 Wo. | 60–90 | (ja) | ja | ja | ja |
SKID-I | 1 Wo. | 60 | ja | nein | ja | ja |
M.I.N.I. | 3–4 d | 15–30 | ja | nein | ja | ja |
Standardisierte Interviews | ||||||
|
1 Wo. | 75 | nein | ja | nein | nein |
|
5 d | 75 | nein | ja | nein | nein |
Beschreibungsebenen im diagnostischen ProzessDiagnostischer ProzessBeschreibungsebenen
Ebene | Depression | Zwang |
Symptom | Depressiv | Zwangsgedanken |
Syndrom | Depressives Syndrom | Zwangssyndrom |
Diagnose | Depressive Episode | Zwangsstörung |
Epidemiologische und statistische GrundbegriffePrävalenzInzidenzValenz, positive/negative prädiktiveSensitivitätSpezifitätOdds-RatioLebenszeitprävalenzPeriodenprävalenzPunktprävalenz
Prävalenz | Gesamtzahl der Krankheitsfälle in einer zuvor definierten Population
|
Inzidenz | Anzahl der Neuerkrankungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z. B. 1 Jahr) |
Sensitivität | Anteil der Patienten mit einem bestimmten Symptom, die auch eine bestimmte Diagnose haben |
Spezifität | Anteil der Patienten, die ein bestimmtes Symptom sowie eine bestimmte Diagnose nicht haben |
Positive prädiktive Valenz | Wahrscheinlichkeit, dass der Symptomträger auch die Diagnose hat |
Negative prädiktive Valenz | Wahrscheinlichkeit, dass Patient, der das Symptom nicht hat, auch die Diagnose nicht hat |
Odds-Ratio | Maß für die Assoziation z. B. zwischen Symptomen oder Diagnosen |
Verlaufsrelevante Begriffe (Frank et al. 1991)
Remission | |
Vollremission | Periode, in der die Besserung ein solches Ausmaß erreicht, dass der Patient symptomfrei ist (erfüllt nicht mehr die Kriterien der Störung) bzw. nur noch minimale Symptome aufweist |
Partial- oder Teilremission | Periode, in der die Besserung ein solches Ausmaß erreicht, dass der Patient nicht mehr alle Symptome der Störung aufweist |
Genesung/Wiederherstellung | Remission, die längere Zeit andauert |
Rückfall | Wiederauftreten der Symptome in der Remissionsperiode (Patient erfüllt wieder Kriterien der Störung) |
Wiedererkrankung | Erneutes Auftreten einer Störung nach längerer Zeit |
Psychiatrische Diagnostik und Klassifikation
-
3.1
Vorbemerkungen35
-
3.2
Historische Entwicklung36
-
3.3
Kennzeichen aktueller Klassifikationssysteme37
-
3.4
ICD-10, DSM-IV und DSM-540
-
3.5
Erhebungsinstrumente zur klassifikatorischen Diagnostik42
-
3.6
Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Klassifikationssysteme46
-
3.7
Diagnostischer Prozess48
-
3.8
Psychiatrisch relevante Grundbegriffe51
3.1
Vorbemerkungen
-
•
mögliche negative soziale Konsequenzen psychiatrischer Diagnosen (Stichworte: Etikettierung, Stigmatisierung, soziale Kontrolle) und
-
•
die über lange Zeit zum Teil geringe Relevanz psychiatrischer Diagnosen für die Indikationsstellung. So waren psychiatrische Diagnosen für eine pharmakologische Differenzialindikation zwar vielfach bedeutsam, im Hinblick auf psychotherapeutische und sozialpsychiatrische Interventionen aber kaum relevant.
-
•
Klassifikation: Einteilung und Klassifikation(ssysteme)Anordnung klinisch bedeutsamer Phänomene (z. B. Symptome), die durch gemeinsame Merkmale gekennzeichnet sind, in ein nach Klassen eingeteiltes System (= Klassifikationssystem)
-
•
Klassifikatorische Diagnostik: DiagnostikklassifikatorischeUntersuchungs-und Entscheidungsprozess (Kap. 3.7), der zur Erhebung der (psychopathologischen) Befunde und zur Ableitung einer oder mehrerer Diagnosen führt
-
•
Nomenklatur: Aufstellung von KrankheitsbezeichnungenNomenklatur
-
•
Glossar: ZusammenstellungGlossar von Beschreibungen und Definitionen von Begriffen, die eine Klassifikation ausmachen
-
•
Nosologie: Krankheitslehre, d. h. die Systematisierung psychischer NosologieErkrankungen nach einheitlicher Ätiologie, Pathogenese, klinischem Bild, Therapieansprechen und Verlauf
-
•
Störung: klinisch erkennbare Störung, DefinitionKomplexe von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten, in deren Folge Belastungen und Beeinträchtigungen entstehen. Im Kontext psychischer Phänomene wird der Begriff Störung den Begriffen Krankheit oder Erkrankung heute vorgezogen: Er ist neutraler, zumal im Hinblick auf Aspekte wie z. B. die Ätiologie oft noch kein hinreichendes Wissen existiert.
3.2
Historische Entwicklung
3.2.1
Kennzeichen und Ziele von Klassifikationssystemen
Box 3.1
Ziele von Klassifikationssystemen
-
•
Forschungsrelevante Ziele: Klassifikation(ssysteme)Ziele
-
–
Charakterisierung von Patientengruppen in Therapie- und Verlaufsstudien
-
–
Fallidentifikation in epidemiologischen Studien
-
–
Grundlage empirischer Untersuchungen zu Ätiologie und Verlauf von Störungen
-
–
Grundlage empirischer Studien zur Entwicklung und Überprüfung therapeutischer Interventionen
-
–
Dokumentation von therapeutischen Interventionen in psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungseinrichtungen
-
–
Verbesserung der Kommunikation von Forschungsergebnissen
-
-
•
Klinisch relevante Ziele:
-
–
Vereinfachung und adäquate Berücksichtigung der interindividuell ähnlichen Charakteristika im Rahmen einer psychischen Erkrankung
-
–
Reduktion der Komplexität klinischer Phänomene durch Trennung einzelner Betrachtungsebenen (z. B. deskriptive Diagnostik, psychosoziale Funktionseinschränkungen)
-
–
Verbesserung der Kommunikation zwischen Klinikern
-
–
Grundlage der klinisch-psychiatrischen Ausbildung
-
–
Grundlage für die Indikationsstellung und Einleitung von Behandlungsmaßnahmen sowie für ihre Überprüfung am Therapieerfolg
-
–
Grundlage für kurz- und langfristige Prognosestellungen
-
–
Bedarfsplanung für psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgungseinrichtungen
-
3.2.2
Klassifikationssysteme der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
Ausblick auf ICD-11
3.2.3
Klassifikationssysteme der American Psychiatric Association (APA) 
Tiefer gehende Informationen
Kap. 3.2.3 mit Informationen zum Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM)Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM)siehe DSM der American Psychiatric Association (APAKlassifikation(ssysteme)American Psychiatric Association (APA)) finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/online-Kap-3-2-3.
•
einen deskriptiven Ansatz, d. h. einen von theoretischen und ätiologischen Annahmen weitgehend unabhängigen Ansatz, der einer rein symptomorientierten Beschreibung besonderen Stellenwert einräumt,
•
die einheitliche und systematische Struktur bei der Beschreibung jeder Störung (u. a. Haupt- und Nebenmerkmale, Prävalenz, Differenzialdiagnosen),
•
die Vorgabe expliziter diagnostischer Kriterien für jede einzelne Störung,
•
die Einführung eines multiaxialen Ansatzes mit sog. Achsen, die eine Beschreibung klinisch bedeutsamer Aspekte über die Symptomatologie hinaus erlauben,
•
diagnostische Entscheidungsbäume, d. h. die grafische Darstellung diagnostischer Entscheidungsregeln für einzelne Störungsgruppen (Diagnosealgorithmen) sowie
•
ein Kurzglossar der wichtigsten Kriterienbegriffe.
•
die weitgehende Aufgabe diagnostischer Hierarchieregeln
•
und damit die EinführungKomorbiditätsprinzip des Komorbiditätsprinzips;
•
die Erweiterung der Klassifikation durch Schweregradbeurteilungs- und Remissionskriterien sowie
•
die Aufnahme neuer Störungsgruppen (z. B. körperdysmorphe Störungen).
Resümee
Klassifikationssysteme haben in Forschung und klinischer Anwendung eine wichtige Funktion. International akzeptiert sind heute folgende Systeme: die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das DSM-IV/-5 der American Psychiatric Association (APA). Beide stellen das Ergebnis umfangreicher internationaler bzw. nationaler Konsultationen und empirischer Studien dar.
3.3
Kennzeichen aktueller Klassifikationssysteme
-
•
Operationalisierte Diagnostik
-
•
Komorbiditätsprinzip
-
•
Multiaxiale Diagnostik (wurde im DSM-5 aufgegeben)
3.3.1
Operationalisierte Diagnostik
-
•
explizite Vorgabe diagnostischer Kriterien (Ein- und Ausschlusskriterien), d. h. eine Verbindung von Symptom-, Zeit- und/oder Verlaufskriterien, und
-
•
diagnostische Entscheidungs- und Verknüpfungsregeln für diese Kriterien.
3.3.2
Komorbidität
-
•
Identifizierung der wichtigsten Diagnose für Behandlung, Therapie und Prognose
-
•
Identifizierung der Diagnose mit der sparsamsten Erklärung der Phänomenologie
-
•
Hilfe im differenzialdiagnostischen Prozess
-
•
Identifizierung sog. reiner Fälle
-
•
Therapeutische Implikationen: KomorbiditätsprinzipImplikationen
-
–
Patienten mit komorbiden Störungen sind i. d. R. schwerer erkrankt und bedürfen zum Teil spezifischer Therapieprogramme.
-
–
Die Behandlung und Prognose dieser Patienten ist u. U. deutlich schwerer bzw. ungünstiger.
-
-
•
Theoretische und wissenschaftliche Implikationen:
-
–
Die Komorbidität psychischer Störungen kann als Ausgangspunkt für Untersuchungen zur Ätiologie und zum Verlauf psychischer Störungen dienen.
-
–
Die Aufgabe des Konzepts diagnostischer Hierarchien hat entscheidenden Einfluss auf die Schätzung der Prävalenzraten psychischer Störungen.
-
-
•
Schizophrenie und substanzbedingte SchizophrenieKomorbiditätStörungen
-
•
Persönlichkeitsstörungen und PersönlichkeitsstörungenKomorbiditätsubstanzbedingte Störungen
-
•
Angst- und Persönlichkeitsstörungen
-
•
Depressive und AngststörungenDepressionKomorbidität
-
•
Eine Störung entwickelt sich als sekundäre Komplikation einer anderen Störung (z. B. Substanzmissbrauch als Folge einer bestehenden Phobie).
-
•
Komorbidität basiert auf gemeinsamer Diathese oder gemeinsamen Vulnerabilitätsfaktoren (z. B. Major Depression und generalisierte Angsterkrankung im DSM-III-R).
-
•
Komorbidität ist ein Artefakt sich überlappender diagnostischer Kriterien (z. B. abhängige Persönlichkeitsstörung und soziale Phobie).
3.3.3
Multiaxiale Diagnostik
Fallbeispiel
Eine mittlerweile 50-jährige Frau kommt mit der dritten, jetzt mittelgradigen Episode einer depressiven Störung zur Aufnahme. Während der Behandlung zeigte sich, dass vor Beginn der Symptomatik ein seit längerer Zeit bestehender schwerwiegender Konflikt mit dem Ehemann bestand. Auch vor den beiden anderen Episoden zeigte sich ein ähnliches Bild.
Folgende Codierungen wären möglich:
-
•
F33.1: Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode
-
•
Z63.0: Probleme in der Beziehung zum (Ehe-)Partner
-
•
Z56.0: Arbeitslosigkeit, nicht näher bezeichnet Arbeitslosigkeit
-
•
Z56.1: ArbeitsplatzwechselArbeitsplatzwechsel/-verlust
-
•
Z56.2: Drohender Arbeitsplatzverlust
-
•
Z73.0: Burnout (ErschöpfungssyndromErschöpfungssyndrom) Burnout-Syndrom
-
•
Z73.1: Akzentuierte PersönlichkeitszügePersönlichkeitszüge (personality traits)akzentuierte
Resümee
ICD-10 und DSM-IV sind durch drei wichtige Merkmale charakterisiert:
-
1.
Operationalisierung der psychischen Störungen durch die Festlegung expliziter diagnostischer Kriterien
-
2.
Komorbiditätsprinzip
-
3.
Multiaxiale Klassifikation
3.4
ICD-10, DSM-IV und DSM-5
3.4.1
ICD-10
-
•
Formale Charakteristika: ICD-10formale und konzeptuelle Charakteristika
-
–
Operationalisierte Diagnostik mit Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien sowie entsprechenden Algorithmen zur Diagnosestellung
-
–
Strukturierung des Systems in 10 diagnostische Hauptgruppen (Tab. 3.4)
-
–
Offenes alphanumerisches System mit der Möglichkeit zur Ergänzung weiterer Störungsgruppen in den kommenden Jahren ohne die Notwendigkeit, das gesamte System grundlegend zu verändern
-
–
Versuch einer möglichst umfassenden Kennzeichnung einzelner Störungsgruppen durch differenzierte Codierung (je nach Störungsgruppe meist hinsichtlich Schweregrad oder Verlauf)
-
–
Entwicklung verschiedener Versionen für unterschiedliche Anwendungsbereiche (s. u.)
-
-
•
Konzeptuelle Charakteristika:
-
–
Veränderte Begrifflichkeit: z. B. Aufgabe der Begriffe Neurose/Psychose bzw. psychogen/psychosomatisch als Einteilungskriterium, damit verbunden die Aufgabe des Neurosenmodells sowie des Endogenitätsprinzips bei der Einteilung psychischer Störungen, Verwendung des Begriffs Störung statt Krankheit
-
–
Neugruppierung von Störungen: z. B. Zusammenfassung von Störungen mit gleichem Erscheinungsbild wie den depressiven Störungen in Abschnitt F3, den organischen Störungen in F0 oder den substanzbedingten Störungen in F1
-
–
Einführung des Komorbiditätsprinzips (Kap. 3.3.2)
-
–
Einführung eines multiaxialen Ansatzes (Kap. 3.3.3)
-
-
•
Internationale Kommunikation über Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken
-
•
Referenzklassifikation für nationale und andere psychiatrische Klassifikationen
-
•
Anwendung in der Forschung
-
•
Anwendung in der klinischen Routine
-
•
Anwendung in der psychiatrischen Ausbildung
Box 3.2
Versionen des Kapitels V (F) der ICD-10 und Zusatzmaterialien
-
•
Klinisch-diagnostische Leitlinien (Dilling et al. 2015) ICD-10Versionen und Zusatzmaterialien
-
•
Forschungskriterien/Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis (Dilling et al. 2016)
-
•
Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen (Dilling und Freyberger 2016)
-
•
Kurzfassung im Rahmen der Gesamt-ICD-10 (DIMDI 1994)
-
•
Primary Health Care Classification (PHC; Müßigbrodt et al. 2014)
-
•
Multiaxiales System (Siebel et al. 1997)
-
•
Lexikon psychopathologischer Grundbegriffe (WHO 2009)
-
•
Crosswalk zwischen diagnostischen Systemen (Freyberger et al. 1993a, b)
-
•
Internationale Klassifikation neurologischer Erkrankungen (Neurologische Adaptation: Kessler und Freyberger 2001)
Ausblick auf ICD-11
-
•
Formative Feldstudien, um Informationen über die Grundstruktur der Klassifikation zu bekommen
-
•
Internetbasierte Feldstudien, um den Nutzen der vorgeschlagenen Änderungen in der ICD-11 zu bewerten
-
•
Klinikbasierte Feldstudien, um den klinischen Nutzen der vorgeschlagenen klinisch-diagnostischen Leitlinien in der Praxis zu prüfen
-
•
Stärkere Einbeziehung der zukünftigen Nutzer (u. a. Internetplattform für Kommentare)
-
•
Verschiedene Formen von Feldstudien
-
1.
Strukturelle Veränderungen: ICD-11Veränderungen
-
a.
Zu den wichtigsten strukturellen Veränderungen gehört die Aufgabe des bisherigen alphanumerischen Systems (bisher F0–F9).
-
b.
Zudem sind Neugruppierungen von Störungen vorgesehen (u. a. geplante Trennung der Zwangsstörungen und der stressassoziierten Störungen von den anderen Angststörungen). Geplant sind insgesamt 18 Gruppen (Tab.3.6).
-
c.
Weiterhin ist für die Darstellung der Störungen eine einheitliche Gliederung vorgesehen (Tab.3.7 sowie First et al. 2015 exemplarisch für die PTBS).
-
-
2.
Inhaltliche Veränderungen:
-
a.
Im Gegensatz zur ICD-10 werden bei einigen Störungen keine festen Cut-off-Werte für eine Anzahl notwendiger Kriterien angegeben, Gleiches gilt auch für die Dauer der Symptomatik (Ziel: flexiblere Anwendung in der Praxis; vgl. z. B. bei PTBS, First et al. 2015).
-
b.
Inhaltliche Veränderungen werden sich vermutlich auf einen großen Teil der Störungsgruppen beziehen (z. B. Schizophrenie: Aufgabe der Subtypen, sechs Domänen zur Symptomspezifikation wie positive/negative Symptomatik).
-
c.
Grundlegende Veränderungen sind vor allem bei den Persönlichkeitsstörungen zu erwarten (auch in Abgrenzung zum DSM-5). Eine stärker dimensionale Sichtweise wird favorisiert, die individuellen Subtypen werden zugunsten einer domänenorientierten Charakterisierung relevanter Aspekte (u. a. distanziert, dissozial) abgeschafft.
-
3.4.2
DSM-IV 
Tiefer gehende Informationen
Kap. 3.4.2 mit Informationen zur Entwicklung des DSM-IV finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/online-Kap-3-4-2.
•
Diagnostische Merkmale
•
Subtypen und/oder Spezifizierung
•
Zugehörige Merkmale und Störungen
•
Spezifische kulturelle, Alters- und Geschlechtsmerkmale
•
Prävalenz
•
Verlauf (Ersterkrankungsalter, Art des Beginns, Episode vs. kontinuierlicher Verlauf, einzelne oder wiederkehrende Episode)
•
Familiäre Verteilungsmuster
•
Differenzialdiagnose
3.4.3
DSM-5 
Tiefer gehende Informationen
Kap. 3.4.3 mit Informationen zur Entwicklung des DSM-5 finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/online-Kap-3-4-3.
•
Auf konzeptueller Ebene war zunächst geplant, die Ergebnisse der neurobiologischen Forschung der letzten 20 Jahre stärker einzubeziehen. Aufgrund der Heterogenität und mangelnden Spezifität der Ergebnisse konnte dies jedoch nicht realisiert werden. Auch die Forderung, Störungen stärker unter dimensionalem Blickwinkel zu definieren, wurde aufgrund der Komplexität der Problematik aufgegeben. Lediglich im Anhang finden sich hierfür Vorschläge (im Abschnitt „Assessment Measures“ und weiterhin Vorschläge zur dimensionalen Beschreibung der Persönlichkeitsstörungen). Die bedeutsamste konzeptuelle Veränderung betrifft die Aufgabe des multiaxialen Systems, was bei Einführung des DSM-III noch als große Innovation hervorgehoben wurde. Die Störungen, die den Achsen 1 („Klinische Syndrome“), 2 („Persönlichkeitsstörungen, Geistige Behinderung“) und 3 („Medizinische Krankheitsfaktoren“) zugeordnet waren, finden sich jetzt alle in Sektion II „Diagnostic Criteria and Codes“. Die Beschreibung der Störungsbilder ist jeweils strikt gegliedert in A) Krankheitskriterien, B) Subtyp und/oder klinisches Erscheinungsbild und C) Schweregrad.
•
Auf struktureller Ebene am auffälligsten ist die Neuorganisation der Kapitel (inkl. teilweiser Neubezeichnungen, z. B. statt Dysthymie jetzt „persistierende depressive Störung“). So spricht man z. B. nicht mehr von „Störungen im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz“, sondern jetzt von „Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung („neurodevelopmental disorders“). Von Bedeutung ist auch eine teilweise Aufsplittung bzw. Neugruppierung von Kapiteln. So wurden z. B. die Angststörungen des DSM-IV aufgeteilt in „Angststörungen“, „Zwangsstörungen und verwandte Störungen“ sowie „Trauma- und belastungsbezogene Störungen“.
•
Auf inhaltlicher Ebene finden sich erwartungsgemäß die meisten Änderungen. Dies betrifft die Einführung einiger neuer Störungskategorien (z. B. prämenstruelle dysphorische Störung), grundlegende Veränderungen der Betrachtung von Störungen (z. B. Aufgabe der Unterscheidung von Missbrauch und Abhängigkeit im Kapitel „Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und Suchtstörungen“), vor allem aber die Veränderung der diagnostischen Kriterien bei einer Reihe von Störungen (z. B. Adaptierung der Kriterien der ADHS an den Erwachsenenbereich).
3.4.4
Unterschiede zwischen ICD-10 und DSM-IV/DSM-5 
Tiefer gehende Informationen
Kap. 3.4.4 mit Informationen zu den Unterschieden zwischen den Diagnosesystemen der ICD-10, des DSM-IV und des DSM-5- finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/online-Kap-3-4-4.
•
Im Gegensatz zum DSM-IV verfügt die ICD-10 entsprechend den unterschiedlichen DSM-IVund ICD-10Aufgabenstellungen über eine Vielzahl unterschiedlicher Versionen. Die größte Übereinstimmung mit dem DSM-IV weisen die Forschungskriterien der ICD-10 auf.
•
Die Entwicklung des DSM-Systems wird durch eine breitere empirische Absicherung gestützt (vgl. Literaturreviews, Feldstudien, die in Source Books dokumentiert sind; vgl. Stieglitz 2008).
•
Bei der ICD-10Source Books, DSM-IV handelt es sich um ein DSM-IVSource Booksinternationales, beim DSM-IV um ein nationales System.
•
Im Unterschied zum DSM-IV wurde bei der ICD-10 nur ein drei Achsen umfassendes multiaxiales System gewählt. Die Achsen II und III des DSM-IV werden bei der ICD-10 mit auf Achse I codiert, auf der alle Syndrome aufgeführt sind (Beispiel Tab. 3.3).
•
Beim DSM-IV findet bei den meisten Störungen eine stärkere Operationalisierung im Hinblick auf die klinische und psychosoziale Relevanz der Symptomatik statt (z. B. Funktionsbeeinträchtigungen). Die ICD-10 trennt bis auf wenige Ausnahmen den Bereich der psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen und der (psychischen) Behinderungen von den Achse-I-Störungen. Funktionsbeeinträchtigungen werden separat im Rahmen des multiaxialen Ansatzes abgebildet (Kap. 3.3.3).
•
Das Ziel einer möglichst differenzierten Codierung wird in der ICD-10 stärker umgesetzt. So gibt es z. B. in der ICD-10 ICD-10Codierungsprinzipienfür die Codierung des Verlaufs schizophrener Störungen eine fünfte Stelle, die im DSM-IV fehlt (Kap. 10). Dort ist nur eine verbale Beschreibung des Verlaufs ergänzend zur Diagnose möglich.
Resümee
ICD-10 und DSM-IV/DSM-5 weisen eine Reihe konzeptueller und inhaltlicher Gemeinsamkeiten auf (z. B. deskriptiver Ansatz, operationale Definitionen von Störungen). Die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede sind im Vergleich zu ihren Vorgängern (ICD-9 vs. DSM-III-R) deutlich geringer geworden. Neben einigen strukturellen Unterschieden (z. B. verschiedene Versionen der ICD-10 vs. eine Version des DSM-IV/DSM-5) sind auch Unterschiede auf der Ebene einzelner Störungsgruppen und Subgruppen erkennbar.
3.5
Erhebungsinstrumente zur klassifikatorischen Diagnostik
3.5.1
Übersicht
Box 3.3
Varianzquellen im diagnostischen Prozess (nach Spitzer und Fleiss 1974)
-
•
Subjektvarianz: Ein Patient wird zu zwei Zeitpunkten untersucht, an denen er sich in verschiedenen Krankheitszuständen befindet. DiagnostikFehler-/Varianzquellen
-
•
Situationsvarianz: SituationsvarianzEin Patient wird zu zwei Zeitpunkten untersucht, an denen er sich in verschiedenen Phasen oder Stadien einer Störung befindet.
-
•
Kriterienvarianz: KriterienvarianzVerschiedene Untersucher verwenden unterschiedliche diagnostische Kriterien für die Diagnose derselben Störung.
-
•
Informationsvarianz: InformationsvarianzVerschiedenen Untersuchern stehen unterschiedliche Informationen zum Patienten und zu seiner Erkrankung zur Verfügung.
-
•
Beobachtungsvarianz: BeobachtungsvarianzVerschiedene Untersucher kommen zu unterschiedlichen Urteilen und Bewertungen über Vorhandensein und Relevanz der vorliegenden Symptome.
3.5.2
Checklisten
3.5.3
Strukturierte Interviews
-
•
das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID), das aus den beiden Teilen „Achse I: SKID (Strukturiertes Klinisches Interview)Psychische Störungen“ (SKID-I) und „Achse II: Persönlichkeitsstörungen“ besteht (SKID-II; Kap. 21). In der Version für die Achse-I-Störungen werden in neun Hauptsektionen (u. a. A: Affektive Syndrome, E: Angststörungen) die wichtigsten Störungsgruppen des DSM-IV erfasst;
-
•
das Diagnostische Interview bei Psychischen Störungen (DIPS), der deutschen AdaptationDIPS (Diagnostisches Interview bei Psychischen Störungen) des Anxiety Disorders Interview Schedule (ADIS). Gegenüber den anderen Verfahren zeichnet es sich dadurch aus, dass es einerseits stärker auf für die Verhaltenstherapie relevante Störungen fokussiert (u. a. Angststörungen, somatoforme Störungen) und andererseits auch gleichzeitig therapierelevante Daten mit erhebt (u. a. Fragen zu Entstehung und Verlauf der Probleme).
3.5.4
Standardisierte Interviews
3.5.5
Computerisierte Ansätze
3.5.6
Vergleich der Verfahren
Resümee
Durch Einführung operationaler Kriterien für die einzelnen Störungen sind die Anforderungen an den Untersucher deutlich gestiegen, und der diagnostische Prozess ist komplexer geworden. Zur Unterstützung wurde daher eine Reihe diagnostischer Instrumente entwickelt (Checklisten, strukturierte und standardisierte Interviews), welche die Zuverlässigkeit der Diagnosestellung im Vergleich zum klinischen Gespräch deutlich erhöhen.
3.6
Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Klassifikationssysteme
3.6.1
Anwendungsbezogene Aspekte
-
•
Achse I (Behandlungsvoraussetzungen und Krankheitsverarbeitung) erfasst vor dem Hintergrund divergierender Konzepte der Coping-Forschung relativ realitätsnahe und Krankheitsverarbeitungpraxisrelevante Gesichtspunkte, die für die differenzielle Psychotherapieindikation von Bedeutung sind (u. a. Krankheitserleben und -darstellung, Krankheits- und Veränderungskonzepte der Patienten, Veränderungsressourcen und -hemmnisse). Die Schweregradabstufung erfolgt für jedes Item von 1 (niedriger Ausprägungsgrad) bis 4 (hoher Ausprägungsgrad).
-
•
Achse II (Beziehung) erfasst Aspekte des dysfunktionalen habituellen Beziehungsverhaltens. Dieses wird verstanden als Ausdruck der Dynamik Beziehungsverhalten, dysfunktionales habituelleszwischen den mehr oder weniger bewussten Beziehungswünschen, den damit intrapsychisch wirksam werdenden Ängsten und Befürchtungen, wie das Gegenüber auf die Wünsche reagieren könnte. Daneben werden typische Reaktionen anderer erfasst, wobei diese beiden Strukturelemente und auch die Itemformulierungen an komplexe Modelle interpersonellen Verhaltens anknüpfen. Insgesamt werden für zwei Perspektiven und Dimensionen jeweils höchstens drei Merkmale beurteilt, aus denen sich optional eine psychodynamische Formulierung ableiten lässt.
-
•
Achse III (Konflikt) hebt auf nicht erlebbare unbewusste Gegensätzlichkeiten und Problembereiche des Erlebens und Handelns ab. Unterschieden werden einerseits über lange Zeiträume bestehende KonfliktmusterKonfliktmuster, die sich in wesentlichen Lebensbereichen wie Partnerwahl, Bindungsverhalten, Familienleben, Herkunftsfamilie, Arbeit und Beruf, Besitzverhalten, umgebendem soziokulturellem Raum sowie Krankheitsverhalten und Krankheitserleben manifestieren. Andererseits sollen mit dieser Achse auch Aktualkonflikte und abgewehrte Konflikt- und Gefühlswahrnehmung erfasst werden.
-
•
Achse IV (Struktur) erfasst acht strukturelle Kategorien (u. a. Selbst- und Objektwahrnehmung), die unterschiedliche psychische Funktionen oder Fähigkeiten beinhalten. Um Ausmaß und Qualität struktureller Störungen beschreiben zu können, wurden vier Integrationsstufen der Struktur (von gut integriert bis desintegriert) definiert. Aus den Einzeleinschätzungen lässt sich ein strukturelles Profil ableiten und ein strukturelles Gesamtniveau bestimmen.
-
•
Mit Achse V (Psychische und Psychosomatische Störungen nach Kapitel V [F] der ICD-10) werden syndromale Diagnosen erfasst; gleichzeitig wird eine Verbindung zur OPD hergestellt. Neben psychischen Störungen (Achse Va) werden auch Persönlichkeitsstörungen (Achse Vb) und körperliche Erkrankungen (Achse Vc) verschlüsselt, um eine bessere Kompatibilität mit DSM-III-R und DSM-IV zu gewährleisten. Im Hinblick auf die psychische Symptomwahl und die Art der psychosomatischen Wechselwirkung wurde die somatopsychischen Störungen vorbehaltene Kategorie F54 der ICD-10 modifiziert.
3.6.2
Forschungsbezogene Aspekte 
Tiefer gehende Informationen
Kap. 3.6.2 mit Informationen zu diagnostischen Aspekten im Rahmen der empirischen Forschung finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/online-Kap-3-6-2.
Resümee
Die Anwendung der aktuellen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 ist in Praxis und Forschung mit einer Reihe von Vorteilen verbunden (z. B. erhöhte Zuverlässigkeit der Diagnosestellung). Unbefriedigend ist weiterhin, dass aus den diagnostischen Kategorien im Einzelfall nur selten therapeutische Interventionen direkt abzuleiten sind. Hierzu bedarf es oft weiterer diagnostischer Informationen.
3.7
Diagnostischer Prozess
3.7.1
Grundlagen
-
•
Psychische (oder psychologische) Datenebene: erfasst individuelles Erleben und Verhalten (z. B. Stimmungen, Befindlichkeiten, Leistungsmerkmale)
-
•
Soziale Datenebene: erfasst interindividuelle Systeme (z. B. das soziale Netz eines Patienten, das Ausmaß seiner sozialen Unterstützung)
-
•
Ökologische Datenebene: erfasst die materiellen Rahmenbedingungen (z. B. finanzielle Situation)
-
•
Biologische Datenebene: differenziert in Bezug auf verschiedene (biochemische, neuroradiologische, psychophysiologische oder neurophysiologische) Teilelemente und ist daher für die Diagnostik psychischer Störungen von besonderer Bedeutung
3.7.2
Diagnostische Ebenen: Symptom, Syndrom, Diagnose
-
•
Die unterste Ebene ist die Symptomebene. Hier werden Symptome als kleinste Beschreibungseinheiten psychopathologischer Phänomene erfasst (vgl. im Detail Kap. 2). Sie lassen sich unterteilen in beobachtbare Verhaltensweisen („signs“; z. B. Zwangshandlung) und vom Patienten berichtete Störungen („symptoms“; z. B. Denkhemmung).
-
•
Auf der nächsthöheren, der Syndromebene, finden sich die sog. psychopathologischen Syndrome, d. h. Symptome, die überzufällig häufig in einer bestimmten Kombination festzustellen sind (z. B. depressives Syndrom, paranoides Syndrom).
-
•
Auf der obersten, der Diagnosenebene, ist die psychiatrische Diagnose anzusiedeln, die eine Integration von Symptomen und/oder Syndromen sowie zusätzliche Merkmale (z. B. Zeit- oder Verlaufsmerkmale) beinhaltet.
3.7.3
Fehlerquellen
-
•
Unwissentliche Fehler, bedingt durch Erinnerungs-, Selbstbeurteilungs- und Beobachtungsfehler (einschl. mangelnder Introspektionsfähigkeit)
-
•
Absichtliche Verfälschungen wie Simulation (absichtliche Vortäuschung eines Symptoms), Dissimulation (absichtliche Negierung eines Symptoms), Bagatellisierung (absichtliches Herunterspielen eines Symptoms), Aggravation (absichtliche Herausstellung eines Symptoms)
Box 3.4
In der Praxis häufig auftretende Fehlerquellen im diagnostischen Prozess auf Diagnosenebene (operationalisierte Diagnostik nach ICD-10 oder DSM-IV/DSM-5)
-
•
Nichtbeachtung der Symptom-, Zeit- und Verlaufskriterien der jeweiligen StörungDiagnostischer ProzessVarianz-/Fehlerquellen
-
•
Nichtberücksichtigung der Ausschlusskriterien der jeweiligen Störung
-
•
Nichtberücksichtigung des Komorbiditätsprinzips
-
•
Beeinflussung durch theoretische Konzepte, die nichts mit der diagnostischen Kategorie in einem Klassifikationssystem zu tun haben
-
•
Einfluss eigener diagnostischer Unsicherheit bei der Entscheidung für eine Diagnose (vor allem bei Borderline-Störung, schizoaffektiver Störung)
-
•
Rückschluss auf eine Diagnose aufgrund eines singulären Phänomens (z. B. hysterisch = histrionische Persönlichkeitsstörung)
-
•
Falsche Schlussfolgerungen (z. B. Halo-Effekt)
3.7.4
Integration diagnostischer Befunde
-
•
In der ICD-10 kann der Sicherheitsgrad folgendermaßen codiert werden: „vorläufig“(fehlende Informationen können wahrscheinlich noch ergänzt werden); „Verdacht auf“ (weitere Informationen können nicht mehr eingeholt werden).
-
•
Im DSM-IV wird eine vorläufige Diagnose empfohlen, wenn zwar der Eindruck besteht, dass der Patient eine bestimmte Störung Diagnosevorläufigehat, aber nicht alle zur Diagnosestützung notwendigen Symptome erhebbar sind, z. B. wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft des Patienten.
-
•
Darüber hinaus gibt es sowohl im DSM-IV als auch in der ICD-10 einige eher formale Möglichkeiten, diagnostische Unsicherheiten über spezielle Codierungen, die sog. V-Codes, abzubilden (z. B. ICD-10: F99 nicht näher bezeichnete psychische Störung). Zudem gibt V-Codierunges in einigen Abschnitten gesonderte Kategorien (z. B. ICD-10: Fxx.8 andere Störungen; Fxx.9 nicht näher bezeichnete Störungen). So beinhalten z. B. die Kategorien Fxx.8 der ICD-10 solche Störungen, für die keine spezifischen Kategorien zutreffen (z. B. F60.8: u. a. narzisstische Persönlichkeitsstörung, für die keine expliziten Kriterien in den klinisch-diagnostischen Leitlinien existieren).
3.7.5
Zielsetzungen
Resümee
Psychiatrisch-psychotherapeutische Diagnostik kann auf Symptom-, Syndrom- und Diagnosenebene erfolgen. Da auf allen Ebenen unterschiedliche Informationen berücksichtigt werden, ergibt sich eine Vielzahl potenzieller Fehlerquellen, die es zu kontrollieren gilt (z. B. durch Verwendung von Erhebungsinstrumenten). Das Ergebnis des diagnostischen Prozesses stellt i. d. R. eine Syndromdiagnose (z. B. depressives Syndrom) oder eine Diagnose im engeren Sinne dar (z. B. depressive Episode nach ICD-10).
3.8
Psychiatrisch relevante Grundbegriffe
3.8.1
Epidemiologische und diagnostische Grundbegriffe
-
•
Untersuchungen zur Prävalenz und Inzidenz von Krankheiten (Tab. 3.11)
-
•
Untersuchungen zu Entstehung, Verlauf und Ausgang von Erkrankungen
-
•
Ermittlung individueller Krankheitsrisiken
-
•
Prüfung von Hypothesen zu kausalen Beziehungen zwischen Umweltfaktoren und Krankheit
3.8.2
Verlaufsrelevante Begriffe
Erkrankungsbeginn
Auftreten einer einzelnen Erkrankung
„Phase istKrankheitsepisode/-phase/-schub eine Krankheitsepisode, welche akut beginnt und wieder zurückgeht. Es kann sich um die erste oder eine wiederholte Krankheitsphase handeln, sie kann sich aus voller Gesundheit oder aus einem leichteren chronischen Zustand entwickeln und entweder in Heilung oder in einen leichteren Zustand übergehen.“
Bleuler (1972: 247)
Verlauf
Resümee
Zur Charakterisierung psychischer Störungen finden sich in der Literatur epidemiologische (z. B. Prävalenz) sowie verlaufsbezogene Begriffe (z. B. Episode).
Literatur
Die Literatur zu diesem Kapitel finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/literatur-kap3.


Literatur
3.1 Vorbemerkungen
Spitzer and Fleiss, 1974
Kendell, 1978
3.2 Historische Entwicklung
APA – American Psychiatric Association, 1994
APA – American Psychiatric Association, 1996
APA – American Psychiatric Association, 2013
APA – American Psychiatric Association, 2015
Baumann and Stieglitz, 2005
Berner et al., 1983
Dilling and Reinhardt, 2016
Feighner et al., 1972
Freyberger et al., 2001
Sartorius et al., 1988
Schulte-Markwort et al., 2002
Spitzer et al., 1978
Stengel, 1959
Stieglitz, 2008
3.3 Kennzeichen aktueller Klassifikationssysteme
Clark et al., 1995
Freyberger et al., 2001
Mezzich, 1992
Siebel et al., 1997
Stieglitz, 2008
Stieglitz and Volz, 2007
3.4 ICD-10 und DSM-IV/DSM-5
APA – American Psychiatric Association, 2000
Andrews et al., 1999
Ehret and Berking, 2013
Del Vecchio, 2017
Dilling, 2000
Dilling and Freyberger, 2016
Dilling et al., 2015
Dilling et al., 2016
Dilling et al., 1994
DIMDI – Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 1994
First et al., 2015
Frances, 2013
Freyberger and Dilling, 2014
Freyberger et al., 1993a
Freyberger et al., 1993b
Ch and Freyberger, 2001
Luciano, 2015
Müßigbrodt et al., 2014
Paris, 2013
Saß et al., 1996
Schulte-Markwort et al., 2002
Siebel et al., 1997
Stieglitz, 2008
Stieglitz and Hiller, 2013
van Drimmelen-Krabbe et al., 1999
WHO, 2009
Zaudig et al., 2000
3.5 Erhebungsinstrumente der klassifikatorischen Diagnostik
Angenendt et al., 2001
Beck et al., 1962
Dittmann et al., 1992
Hiller et al., 1995
Hiller et al., 1997
Malchow and Dilling, 2000
Miller et al., 2001
Paris, 2013
Schneider and Margraf, 2011
Schützwohl et al., 2007
Sheehan et al., 1998
Spitzer and Fleiss, 1974
Stieglitz, 2008
Stieglitz et al., 2001
Stieglitz and Hiller, 2013
von Gülick-Bailer et al., 1994
Ward et al., 1962
Wing et al., 1982
Wittchen, 1993
Wittchen and Pfister, 1997
Wittchen and Semler, 1991
Wittchen et al., 2001
Wittchen et al., 1997
3.6 Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Klassifikationssysteme
Cierpka, 2007
Cierpka et al., 2007
Helmchen, 2001
OPD et al., 2014
Philipp, 1994
Schneider and Freyberger, 2000
Stieglitz, 2008
Stieglitz et al., 2017
van Os et al., 1999
3.7 Diagnostischer Prozess
Baumann and Stieglitz, 2001
Spitzer and Williams, 1989
Stieglitz et al., 2002
3.8 Psychiatrisch relevante Grundbegriffe
Bleuer, 1972
Frank et al., 1991
Häfner, 1995
Weyerer and Lucht, 2002