© 2021 by Elsevier GmbH
Bitte nutzen Sie das untenstehende Formular um uns Kritik, Fragen oder Anregungen zukommen zu lassen.
Willkommen
Mehr InformationenB978-3-437-22485-0.00020-8
10.1016/B978-3-437-22485-0.00020-8
978-3-437-22485-0
Elsevier GmbH
Abb. 20.1

[L235]
Entstehung und Aufrechterhaltung sexueller FunktionsstörungenSexuelle FunktionsstörungenEntstehung und Aufrechterhaltung
Abb. 20.2

[L235]
Verhaltenskette ungestörten SexualverhaltensSexualverhalten, gestörtes/ungestörtesSexuelle FunktionsstörungenVerhaltenskette
Abb. 20.3

[L235]
Verhaltenskette gestörten SexualverhaltensSexualverhalten, gestörtes/ungestörtesSexuelle FunktionsstörungenVerhaltenskette
Sexuelle Funktionsstörungen Sexuelle FunktionsstörungenDSM-5/ICD-10-Klassifikationin den verschiedenen Phasen der sexuellen Interaktion (mit Angabe der ICD-I0- bzw. DSM-5-Nummern)Erregungsstörungenbeim Mannsiehe ErektionsstörungenErregungsstörungenbeim Mannsiehe Erektionsstörungen
ICD-10 | DSM-5∗ | |
F52 | Sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit | Sexuelle Funktionsstörungen |
Störungen der sexuellen Appetenz | ||
F52.0 | Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen | Störung des sexuellen Interesses bzw. der Erregung bei der Frau |
Störung mit verminderter sexueller Appetenz beim Mann | ||
F52.1 | Sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Befriedigung | |
F52.7 | Gesteigertes sexuelles Verlangen | |
Störungen der sexuellen Erregung | ||
F52.2 | Versagen genitaler Reaktionen (Erektion im Hinblick auf Dauer und Stärke bzw. Lubrikation nicht ausreichend für befriedigenden Geschlechtsverkehr) | Störung des sexuellen Interesses bzw. der Erregung bei der Frau |
Erektionsstörung | ||
Orgasmusstörungen | ||
F52.3 | Orgasmusstörung (Orgasmus nie oder selten; trotz voller Erektion und intensiver Reizung kein Samenerguss) | Weibliche Orgasmusstörungen |
F52.4 | Ejaculatio praecox (vorzeitiger Samenerguss des Mannes) | Verzögerte Ejakulation |
Vorzeitige (frühe) Ejakulation | ||
Störungen mit sexuell bedingen Schmerzen | ||
F52.5 | Nichtorganischer Vaginismus (Einführung des Penis durch krampfartige Verengung des Scheideneingangs nicht oder nur unter Schmerzen möglich) | Genitopelvine Schmerz-Penetrationsstörung (Dypareunie/Vaginismus) |
F52.6 | Nichtorganische Dyspareunie (Schmerzen im Genitalbereich während oder unmittelbar nach dem Koitus) |
∗
APA, dt. Ausgabe Falkai und Wittchen 2015. Männliche Erregungsstörungen werden auch als Erektionsstörung oder erektile Dysfunktion bezeichnet.
Haupteffekte der Wirkung von PsychopharmakaPsychopharmakaEinfluss auf die sexuelle Funktion auf die sexuelle Funktion (D = Dopaminrezeptor; 5-HT = Serotoninrezeptor; α = alpha-adrenerger Rezeptor (oder Alpha-Adrenozeptor); H = Histaminrezeptor; M = Muscarinrezeptor (Acetylcholin-Subtyp)
Beispielsubstanzen | Auswirkungen auf die sexuelle Reaktion | |
D2-Agonismus | Antiparkinson-Medikamente (z. B. Pramipexol, Ropinirol) | Verstärkte Appetenz/Lust (Annahme von Belohnung) |
D2-Antagonismus | Antipsychotika (z. B. Haloperidol, Risperidon) | Verringerte Appetenz/LustAbnahme sexueller Aktivität, Häufigkeit von Erektionen und Ejakulationen |
5-HT2-Agonismus | Alle Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z. B. Fluoxetin, Paroxetin) | Orgasmusverzögerung, niedrigere Priorisierung des Sexualverhaltens, damit geringere Frequenz |
5-HT1a-Agonismus | Anxiolytika (z. B. Buspiron) | Aktivierung des Sexualverhaltens, Ermöglichung von Orgasmen |
5-HT2a- und 5-HT2c-Antagonismus | Clozapin, SSRIs | Wahrscheinliche Stimulation des Sexualverhaltens |
α1-Antagonismus | Antihypertensiva, Yohimbin | Zentraler Effekt: Abnahme der Erektion, Lubrikation und Ejakulation Peripherer Effekt: möglicher stimulierender Effekt auf z. B. Erektionen |
α2-Antagonismus | Mianserin, Mirtazapin | Wahrscheinliche Stimulation des Sexualverhaltens, Anregung der Erektion |
H1-Antagonismus | Antiemetika, Antiallergika | Indirekter Effekt auf die sexuelle Leistung durch Sedierung |
M1-Antagonismus | Anticholinergika (z. B. Biperiden) | Verringerte Erektion und Lubrikation |
Nebenwirkungen von PDE-5-Hemmern
Häufigkeit (%) | Sildenafil | Vardenafil | Tadalafil |
Kopfschmerzen | 10–15 | 10–15 | 10–15 |
Gesichtsröte (Flush) | 10–15 | 10–15 | 1–5 |
Dyspepsie | 5–10 | 1–5 | 10–15 |
Rhinitis | 1–5 | 5–10 | 1–5 |
Schwindel | 1–5 | 5–10 | 1–5 |
Myalgie | < 1 | < 1 | 5–10 |
Rückenschmerzen | < 1 | < 1 | 5–10 |
Sehveränderungen | 1–5 | 1–5 | < 1 |
Dosierung von Sildenafil, Tadalafil, Vardenafil und Avanafil PDE-5-Hemmer
Substanz | Dosierung |
Sildenafil | Beginn mit 50 mg, ggf. Reduktion auf 25 mg oder Erhöhung bis 100 mg |
Tadalafil | Beginn mit 10 mg, ggf. Reduktion auf 5 mg oder Erhöhung bis 20 mg |
Vardenafil | Beginn mit 10 mg, ggf. Reduktion auf 5 mg oder Erhöhung bis 20 mg |
Avanafil | Beginn mit 100 mg, ggf. Reduktion auf 50 mg oder Erhöhung bis 200 mg |
Sexuelle Deviationen, Paraphilien (nach DSM-5)VoyeurismusTransvestitismusTransvestitischer FetischismusSodomieSexueller SadismusSexueller MasochismusParaphilien/paraphile StörungenDSM-5-KlassifikationSadismus, sexuellerPädophilieMasochismus, sexuellerFrotteurismusFetischismustransvestitischerFetischismusExhibitionismusErotophonieParaphilien/paraphile StörungenTypisierung
Über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten bestanden wiederkehrende starke sexuelle Impulse, Handlungen und/oder sexuell erregende Fantasien: | |
Exhibitionismus | beinhaltet das Entblößen der eigenen Geschlechtsteile gegenüber einem nichtsahnenden Fremden |
Fetischismus | beinhaltet den Gebrauch lebloser Objekte (z. B. weibliche Unterwäsche) |
Pädophilie | beinhaltet die sexuelle Aktivität mit einem vorpubertären Kind oder Kindern (gewöhnlich im Alter von ≤ 13 Jahren) |
Transvestitismus (transvestitischer Fetischismus) | steht im Zusammenhang mit weiblicher Verkleidung bei einem heterosexuellen Mann |
Voyeurismus | beinhaltet die Beobachtung argloser Personen, die nackt sind, sich gerade entkleiden oder sexuelle Handlungen ausführen |
Frotteurismus | betrifft das Berühren und Sich-Reiben an Personen, die mit der Handlung nicht einverstanden sind |
Sexueller Masochismus | ist mit einem realen, nicht simulierten Akt der Demütigung, des Geschlagen- und Gefesseltwerdens oder sonstigen Leidens verbunden |
Sexueller Sadismus | beinhaltet reale, nicht simulierte Handlungen, in denen das psychische oder physische Leiden (einschl. Demütigung) des Opfers für die Person sexuell erregend ist |
Sodomie | beinhaltet die sexuelle Aktivität mit Tieren |
Erotophonie | beinhaltet obszöne Telefonanrufe bei Personen, die ahnungslos oder damit nicht einverstanden sind |
Ebenen und Ablauf der Sexualanamnese im Überweisungskontext
Symptomatik
-
•
Diagnose nach ICD-10/DSM-5
-
•
Formale Merkmale:
-
–
primär vs. sekundär (erworben)
-
–
praktikenabhängig vs. praktikenunabhängig
-
–
partnerabhängig vs. partnerunabhängig
-
–
situativ vs. nicht situativ
-
-
•
Subjektive Krankheitstheorie
-
•
Warum kommt der Patient gerade jetzt?
-
•
Leidensdruck
Medizinische Kontextvariablen
-
•
Relevante internistische (insbesondere kardiovaskuläre und endokrinologische), neurologische und psychiatrische Risikofaktoren und Erkrankungen
-
•
Relevante Pharmakotherapien (insbesondere psychiatrische Medikation)
-
•
Menopause
-
•
Nikotinkonsum
-
•
Beziehung zum Beginn der Symptomatik
Auslösesituationen
-
•
Momentaner situativer Kontext
-
•
Konfliktkonstellation bei Symptombeginn
-
•
Medizinische Risikofaktoren und Medikationen
Gegenwärtige Sexualität und Partnerbeziehung
-
•
Sexuelle Partnerbeziehungen
-
•
Stellenwert der Sexualität in der Beziehung
-
•
Kinder und Kinderwunsch
-
•
Beziehungen innerhalb der Familie
-
•
Sexuelle Fantasien, Wünsche, Vorlieben
-
•
Sexuelle Identität
-
•
Kontrazeption
Sexuelle Entwicklung
-
•
Sexuelles Klima im Elternhaus
-
•
Pubertät: Pubarche/Menarche
-
•
Bisherige sexuelle Erfahrungen
Therapiemotivation
-
•
Eigen- vs. Fremdmotivation
-
•
Passiver Änderungswunsch vs. aktive Änderungsbereitschaft
Sexualstörungen
-
20.1
Sexuelle Funktionsstörungen591
-
20.2
Paraphilien – sexuelle Deviationen605
-
20.3
Geschlechtsidentitätsstörungen610
20.1
Sexuelle Funktionsstörungen
20.1.1
Terminologie
„Sexuelle Gesundheit ist ein Zustand körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf Sexualität und bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktionsstörungen oder Schwäche. Sexuelle Gesundheit erfordert einen positiven und respektvollen Umgang mit Sexualität und sexuellen Beziehungen sowie die Möglichkeit, lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, die frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt sind. Wenn sexuelle Gesundheit erreicht und bewahrt werden soll, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen anerkannt, geschützt und eingehalten werden.“
20.1.2
Epidemiologie
-
•
Bei den Frauen gaben 22 % sexuelle Probleme im Laufe des letzten Jahres im Sinne eines herabgesetzten sexuellen Interesses, 14 % Störungen der sexuellen Erregung und 7 % Schmerzen beim sexuellen Kontakt an.
-
•
Bei den Männern bestand im letzten Jahr bei 5 % ein herabgesetztes sexuelles Interesse, 5 % hatten Erektionsprobleme und 21 % einen vorzeitigen Samenerguss.
Resümee
Die sehr heterogenen berichteten Zahlen zur Häufigkeit weisen darauf hin, dass sexuelle Störungen weit verbreitet sind. In klinischen Populationen (ambulant und stationär) sind alle Formen sexueller Störungen häufiger als in der Allgemeinbevölkerung.
20.1.3
Symptomatik und Typisierung
•
Störungen der sexuellen Appetenz
•
Störungen der sexuellen Erregung
•
Schmerzen bei sexuellem Kontakt
•
Orgasmusstörungen
•
Inhaltlich wurden diese Störungsbilder traditionell danach unterschieden, in welcher Phase des sexuellen Reaktionszyklus (Masters und Johnson 1970) sie auftreten (Tab. 20.1). DSM-IV und ICD-10 richten sich weitestgehend an der Unterteilung nach diesen inhaltlichen Gesichtspunkten aus. Im DSM-5 wurde diese Nomenklatur für Lust- und Erregungsstörungen bei Frauen (gemeinsame Kategorie) und bei der genitalen Schmerz-Penetrationsstörung (anstelle separater Kategorien für Vaginismus und Dyspareunie) erstmals verlassen (APA 2015).
•
Formale Beschreibungskriterien sind u. a. die Häufigkeit der Problematik (z. B. immer oder gelegentlich), die Umstände und Bedingungen ihres Auftretens sowie die Dauer und der Schweregrad. Einige formale Merkmale können diagnostische Hinweise geben:
–
Primär/sekundär: Primär ist eine Störung, die von Beginn der sexuellen Aktivität an besteht; sekundär ist eine Störung, die nach einer symptomfreien Phase beginnt. Sekundäre Störungen haben meist relativ leicht explorierbare Auslöser.
–
Durchgängig/situationsabhängig: Situationsabhängige Störungen treten nur bei bestimmten sexuellen Aktivitäten auf, z. B. nur beim Koitusversuch, nicht aber bei der Masturbation (eher psychische Ursache). Durchgängige Störungen treten bei jeder Form einer sexuellen Aktivität auf (eher körperliche Ursache).
–
Partnerabhängig/partnerunabhängig: Partnerabhängigkeit ist ein Indiz für Schwierigkeiten mit diesem Partner.
Ausblick auf ICD-11
Sexuelle Funktionsstörungen
•
Die Diagnose nach ICD-11 ist dann möglich, wenn sich eine – von Grunderkrankungen – unabhängige Behandlungskonsequenz ergibt.
•
Es werden zusätzlich ätiologische Kennzeichnungen eingeführt.
•
Sexuelle Aversion wird gestrichen und – je nach Ätiologie – unter Schmerz-PenetrationsstörungSchmerz-Penetrationsstörung, genitopelvine oder spezifischer Phobie eingeordnet.
•
Aufgrund der anatomischen und physiologischen Unterschiede werden verschiedene Kategorien von ErregungsstörungenErregungsstörungenICD-11 für Männer und Frauen eingeführt.
•
Die Diagnose OrgasmusstörungOrgasmusstörungenICD-11 kann für Männer und Frauen vergeben werden.
•
Die Diagnose sexuelle Schmerz-Penetrationsstörung schließt VaginismusVaginismusICD-11 ein. DyspareunieDyspareunieICD-11 und VulvodynieVulvodynie, ICD-11 werden im Urogenital-Kapitel klassifiziert.
Störungen beim Mann
Appetenzstörungen
1.
Mangel an oder Verlust von sexuellem Verlangen (F52.0): Patienten mit dieser Störung erleben unterschiedlich stark ausgeprägte Lustlosigkeit und sexuelles Desinteresse; es kann dennoch zu sexueller Erregung und Befriedigung während des sexuellen Kontakts kommen. Sexuelle Aktivitäten werden seltener initiiert.
2.
Sexuelle Aversion (F52.10): Die Vorstellung sexuellen Kontakts ist stark mit negativen Gefühlen verbunden und erzeugt so viel Angst oder Widerwillen, dass sexuelle Handlungen zunehmend vermieden werden. Kommt es zu sexuellen Handlungen, dann sind sie im Allgemeinen mit Schmerzen, Ekel – bis hin zu Übelkeitsgefühlen – verbunden. Die AversionSexuelle AversionAversion, sexuelle bezieht sich meist auf genitale Kontakte, kann aber auch generalisiert sein und führt fast immer zur aktiven Vermeidung sexueller Kontaktmöglichkeiten.
3.
Mangelnde sexuelle Befriedigung (F52.11): SexuelleSexuelle Befriedigung, mangelnde Reaktionen laufen normal ab, aber der Orgasmus wird ohne entsprechendes Lustgefühl erlebt. Diese Symptomatik ist selten.
Erektionsstörungen (F52.1)
Dys- oder Algopareunie (F52.6)
Orgasmusstörungen
•
Der vorzeitige Orgasmus (Ejaculatio praeacox, F52.4) ist Ejaculatio praecoxdas möglicherweise häufigste sexuelle Funktionsproblem des Mannes überhaupt. Da vielen Männern und ihren Partnerinnen mit dieser Problematik ein Arrangement eher gelingt als etwa bei Erektionsstörungen, ist die Zahl der Ratsuchenden geringer. Als entscheidendes Kennzeichen dieser Störung kann eine Unfähigkeit zur Erregungssteuerung gelten, die dem Mann das Lenken seiner sexuellen Reaktion unmöglich macht. Viele Männer versuchen, ihre Erregung z. B. durch Ablenkung zu minimieren, um die Orgasmuslatenz zu verlängern. Diese Gratwanderung kann im höheren Lebensalter dekompensieren und so sekundär zu einer zusätzlichen Erektionsstörung führen. Das subjektive Gefühl, in kürzester Zeit auf einem hohen präorgasmischen Erregungsniveau zu sein, korrespondiert meist mit einer (durch Ablenkung und Angst bedingten) mangelnden Wahrnehmung des subjektiven und physiologischen Erregungsaufbaus.
•
Ejaculatio tardaDer gehemmte Orgasmus (Ejaculatio tarda, F52.3) ist ein bei Männern eher seltenes Symptombild. Die Unfähigkeit, trotz adäquater sexueller Erregung den Höhepunkt zu erreichen, betrifft in den meisten Fällen nur den Koitus, der teils keine sexuelle Lust bereitet, teils anfänglich noch genossen werden kann, bevor eher unangenehme Gefühle und die Empfindung überwiegen, es auch bei noch längerer Dauer „nicht zu schaffen“. Trotz vorhandener Erektion besteht zumeist ein Erregungsdefizit, für das Beziehungs- und Sexualängste wie die Angst vor Verschmelzung, Verletztwerden oder Verletzen eine wichtige Rolle spielen können. Darüber hinaus sind vor allem Nebenwirkungen von Pharmaka (insbesondere serotonerg wirksamen Substanzen wie TZAs, SSRIs und SNRIs), Alkohol oder selten neurogene Ursachen zu beachten. Eine verzögerte oder gelegentlich ausbleibende Ejakulation ist im höheren Lebensalter ein nicht seltenes – quasi physiologisches – Ereignis.
Hypersexualität
Störungen bei der Frau
Appetenzstörungen
Erregungs- und Schmerzstörungen
Orgasmusstörungen
Resümee
Die häufigsten sexuellen Funktionsstörungen des Mannes sind der vorzeitige Orgasmus und Erektionsprobleme. Frauen leiden vor allem an herabgesetzter sexueller Lust; jedoch finden sich auch hohe Anteile von Erregungs- und Orgasmusstörungen sowie Schmerzen beim Verkehr. Zwischen den sexuellen Funktionsstörungen der Frau und des Mannes besteht ein wesentlicher Unterschied. Während die Störungen beim Mann häufiger isoliert bestehen können (z. B. eine Erektionsstörung bei sonst voll erhaltenen sonstigen sexuellen Funktionen), treten die Störungen bei der Frau sehr viel seltener isoliert auf. Die Symptomatik einer Störung ist dann oft die Folge oder auch die Ursache einer anderen Störung (z. B. Orgasmusstörung als Folge von Erregungsstörung). Lediglich der Vaginismus der Frau scheint häufiger isoliert vorzukommen.
20.1.4
Ätiologie und Pathogenese
-
•
Patientenstichprobe: Ein Psychotherapeut sieht andere sexuell gestörte Patienten als z. B. der Internist am Diabetikerzentrum. Weiterhin spielt das Lebensalter eine entscheidende Rolle. In der Gruppe der Männer ab ca. 50 Jahren sind körperliche Ursachen sexueller Störungen häufiger anzutreffen als z. B. bei jüngeren Männern zwischen 18 und 40 Jahren.
-
•
Multifaktorielle Bedingtheit: Sexuelle Störungen sind nur in ganz seltenen Fällen durch eine alleinige Ursache zu erklären. In einem Ursachenbündel greifen häufig körperliche und psychische Bedingungen ineinander. Dann ist eine Entscheidung im Sinne eines Entweder-Oder nicht zu treffen. Hierfür zwei Beispiele:
-
–
In einer Untersuchung (Kockott 2000) wurden bei Diabetikern mit Erektionsstörungen erhebliche sexuelle Versagensängste festgestellt. Die psychische Komponente verstärkte deutlich die diabetesbedingte Sexualproblematik.
-
–
Eine französische Arbeitsgruppe (Buvat et al. 1983) behandelte 23 erektionsgestörte Patienten mit pathologischen Angiogrammen der Beckenarterien konservativ mit Psychotherapie und/oder gefäßerweiternden Mitteln. Nach 6 Monaten fanden sich leichte bis deutliche Besserungen, auch bei alleiniger Psychotherapie.
-
Körperliche Ursachen
Psychische Ursachen
-
•
Innerpsychische Ängste
-
•
Partnerschaftliche Probleme
-
•
Lerndefizite, sexuelle Erfahrungslücken
-
•
Selbstverstärkungsmechanismus der Versagensangst
-
•
Bei Männern mit Sexualstörungen wird sexuelle Erregung durch Angst gehemmt, während Angst bei Männern ohne Sexualstörungen die Erregung häufig erleichtert.
-
•
Sexuelle Leistungsanforderung erhöht bei ungestörten Männern die sexuelle Erregung; sexuell gestörte Männer werden dadurch abgelenkt und behindert.
-
•
Personen mit Sexualstörungen erleben in Situationen mit sexuellem Kontakt häufig negative Gefühle, während Personen mit einem ungestörten Sexualleben vorwiegend positive Emotionen berichten.
-
•
Im Vergleich zu sexuell ungestörten Männern unterschätzten sexuell gestörte Männer das Ausmaß ihrer sexuellen Erregung.
Eine lerntheoretische Sicht
Sexualanamnese
-
•
Einholen der Erlaubnis, über das Thema zu sprechen
-
•
Sind der Patient und sein Partner in den letzten 6 Monaten sexuell aktiv gewesen?
-
•
Bestehen sexuelle Probleme beim Patienten oder seinem Partner?
-
•
Hat sich die Sexualität gegenüber früher so verändert, dass Patient oder Partner dies als Problem empfinden?
Resümee
Sexuelle Funktionsstörungen haben keine einzelne Ursache; immer lässt sich ein ganzes Ursachenbündel finden. Dabei können körperliche und psychische Bedingungen ineinandergreifen. Obwohl in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis die Psychogenese überwiegt, sollte jeder Patient mit sexuellen Funktionsstörungen gründlich körperlich untersucht und eine detaillierte Medikamentenanamnese erhoben werden. Das trifft insbesondere für Frauen mit Schmerzen beim Verkehr und Männer mit Erektionsstörungen im höheren Lebensalter zu. Die häufigsten psychischen Ursachen sind innerpsychische Ängste, Partnerprobleme, Lerndefizite und der Selbstverstärkungsmechanismus der Versagensangst. Ein Screening auf sexuelle Probleme sollte Bestandteil jeder ausführlichen psychiatrischen Exploration sein.
20.1.5
Therapie
Psychotherapeutische Basisbehandlung: Sexualberatung
Somatische Therapieverfahren
EbM
Die Wirksamkeit von PDE-5-Hemmern bei organisch bedingten Erektionsstörungen ist für Patienten mit Diabetes mellitus und chronischen Nierenerkrankungen belegt (Evidenzstufe Ia: Vardi und Nini 2007; Vecchio et al. 2010). Flushsymptomatik und Kopfschmerzen wurden als häufigste Nebenwirkungen genannt.
EbM
Sexuelle FunktionsstörungenmedikamenteninduziertEiner Metaanalyse zufolge hat sich für Männer mit durch Antidepressiva induzierter erektiler Erektionsstörungendurch AntidepressivaDysfunktion neben Sildenafil, erektile DysfunktionSildenafil (Viagra®) auch Tadalafil, erektile DysfunktionTadalafil (Cialis®) als wirksame Behandlungsstrategie erwiesen. Bei Frauen mit sexueller Dysfunktion durch Antidepressiva war eine zusätzliche Bupropion-Medikation (150 mg Bupropionsexuelle DysfunktionBupropion 2 ×/d) erfolgversprechend (Evidenzstufe 1a: Taylor et al. 2013). Aufgrund der dürftigen Datenlage sind jedoch weitere Studien zur Absicherung dieser Befunde notwendig.
Bei neuroleptikainduzierter sexueller Dysfunktion fand sich in einem Cochrane-Review (Schmidt et al. 2012), in dem eine metaanalytische Auswertung aufgrund der dürftigen Datenlage nicht möglich war, ebenfalls ein Hinweis für die Wirksamkeit der Add-on-Anwendung von Sildenafil.
Psychotherapie
EbM
SexualtherapieWirksamkeitEs gibt, wie der systematische Cochrane-Review von Melnik et al. (2012) zeigt, nur fünf mit methodischen Mängeln behaftete RCTs zur Sexualtherapie bei VaginismusVaginismusSexualtherapie. Die Heterogenität der Studien erlaubte keine metaanalytische Auswertung. Den Befunden der Einzelstudien zufolge ergaben sich zwischen systematischer Desensibilisierung und den Kontrollinterventionen (z. B. Warteliste) keine signifikanten Unterschiede.
Auch für eine Wirksamkeit von Sexualtherapie infolge einer Krebserkrankung von Frauen gibt es aufgrund der Datenlage, die ebenfalls keine Metaanalyse erlaubte, keine empirisch begründete Therapieempfehlung (Candy et al. 2016).
Ein weiterer Cochrane-Review (Evidenzstufe Ia: Melnik et al. 2007) von 9 randomisierten und 2 quasirandomisierten Studien mit insgesamt 398 Männern, die an ErektionsstörungenErektionsstörungenSexualtherapie litten, fand Hinweise darauf, dass die erektile Funktion durch eine auf die Störung bezogene Gruppenpsychotherapie im Vergleich zu keiner Therapie mit einer Responserate von 95 % (Kontrollen: 0 %) gebessert wurde. Dieser positive Befund war vom Alter der Patienten, von der Art der Beziehung und der Schwere der Sexualstörung unabhängig.
Modifikationen
EbM
Gruppenpsychotherapie plus Sildenafil ist bei einer geringeren Abbruchrate hinsichtlich der erektilen ErektionsstörungenSomatopsychotherapieFunktion wirksamer als eine Monotherapie mit Sildenafil (Evidenzstufe Ia: Melnik et al. 2011).
Resümee
Viele sexuelle Probleme lassen sich durch kompetente Sexualberatung lösen. Bei der Behandlung psychosexueller Funktionsstörungen hat sich die sog. Sexualtherapie als entscheidender Fortschritt erwiesen. Insbesondere für ältere männliche Patienten könnte sich eine Somatopsychotherapie (Kombination von pharmakologischer Behandlung mit Sexualtherapie) als sinnvollste Behandlungsform erweisen.
20.2
Paraphilien – sexuelle Deviationen
20.2.1
Symptomatik und Typisierung
-
•
mindestens über einen Zeitraum von 6 Monaten aufgetreten sind (Kriterium A) und
-
•
der Betroffene seinen sexuellen Bedürfnissen mit einer Person, die sich damit nicht einverstanden erklärt, nachgegeben hat oder der sexuelle Drang/die sexuellen Fantasien in klinisch bedeutsamer Weise Leiden verursachen oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen bedingen (Kriterium B).
-
•
Stufe 1: Ein devianter Impuls taucht einmalig oder sporadisch auf, gebunden an einen aktuellen Konflikt oder eine besondere Lebenskrise.
-
•
Stufe 2: Eine deviante Reaktion wird zum immer wiederkehrenden Konfliktlösungsmuster, ohne die sexuelle Orientierung zu bestimmen.
-
•
Stufe 3: Es entwickelt sich eine stabile deviante Orientierung. Sexualität ist ohne devianten Inhalt nicht oder nicht intensiv zu erleben (sog. Fixierung).
-
•
Stufe 4: Die stabile deviante Orientierung geht in eine progrediente Entwicklung über.
-
•
Verfall an die Sinnlichkeit: spezifische Reize erhalten Signalcharakter
-
•
Zunehmende Häufigkeit sexuell devianten Verhaltens mit abnehmender Befriedigung
-
•
Trend zur Anonymität und Promiskuität
-
•
Ausbau devianter Fantasien und Praktiken
-
•
„Süchtiges Erleben“
-
•
Stereotypes ritualisiertes sexuelles Verhalten: Dieselbe sexuelle Verhaltensweise wird immer wieder erneut durchgespielt; nur dadurch ist sexuelle Befriedigung möglich.
-
•
Der Partner wird zum Objekt: Die individuellen Bedürfnisse des Partners sind zweitrangig und werden nur akzeptiert, wenn sie den Erwartungen des Devianten entsprechen. Vom Partner wird erwartet, dass er eine bestimmte Rolle spielt, er darf nicht er selbst sein.
-
•
Die orgastische Befriedigung wird, sowohl physisch als auch psychisch, nur unter den ganz speziellen Bedingungen erreicht, die für die Abweichung charakteristisch sind, nicht dagegen beim gewöhnlichen Koitus. Dieser wird als Ersatz aufgefasst.
-
•
Phänomenologie entsprechend ICD-10 oder DSM-5
-
•
Klinische Intensitätsstufe
-
•
Beziehungsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, Partnerinteressen zu berücksichtigen
-
•
Soziale Kompetenz
-
•
Begleitende Persönlichkeitsstörung; Borderline- und antisoziale Persönlichkeiten haben eine schlechte Therapieprognose
Ausblick auf ICD-11
-
•
Die ICD-11 unterscheidet zwischen Zuständen versorgungspolitischer und klinisch psychopathologischer Relevanz auf der einen und privaten Verhaltensweisen, deren Klassifikation nicht gerechtfertigt ist.
SadomasochismusSadomasochismus, ICD-11 wird gestrichen bzw. durch „sadistische Störung mit sexueller Nötigung“ („coercive sexual sadism disorder“) ersetzt. Diese Kategorie beschreibt ein Erregungsmuster, das auf Beibringen von sexuellem oder psychologischem Leid bei einer Person ohne deren Zustimmung beruht.
-
•
FrotteurismusFrotteurismusICD-11 wird neu hinzugefügt.
-
•
FetischismusFetischismusICD-11 und fetischistischer TransvestitismusTransvestitismusfetischistischer werden gestrichen.
Resümee
Eine Paraphilie ist der sexuelle Drang nach einem unüblichen Sexualobjekt oder nach unüblicher Art sexueller Stimulierung. Die Übergänge zur „Normalität“ sind fließend. Man sollte von einer Paraphilie erst dann sprechen, wenn sie „fixiert“ ist. Sexuell delinquent sind Personen, die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begehen.
20.2.2
Ätiologie und Pathogenese: Entstehungstheorien
Paraphilien
Sexuelle Delinquenz
Resümee
Die Entstehung und Ätiologie paraphiler Entwicklungen ist noch immer nicht aufgeklärt. Vor allem psychoanalytische und lernpsychologische Theorien bemühen sich um eine Erklärung. Umfassend ist zurzeit die Theorie von John Money, der ein Zusammenwirken von biologischen und psychischen Faktoren in kritischen Zeitperioden annimmt. Ähnlichkeit hiermit hat die Theorie von Marshall zur Entwicklung sexueller Delinquenz.
20.2.3
Therapie
Psychotherapeutische Basisbehandlung: Beratung
-
•
Sie können für den Paraphilien/paraphile StörungenBeratungparaphilen Patienten die erstmalige Chance zu einem offenen Gespräch sein. Dabei kann geklärt werden, ob das sexuelle Verhalten als deviant anzusehen ist oder nur vom Patienten oder dessen Partner als „pervers“ erlebt wird. In letzterem Fall ist Aufklärung über die Variationsbreite üblichen sexuellen Verhaltens die Hauptaufgabe.
-
•
Sie können klären, ob der Patient eine Veränderung will. Häufig ist der Druck seitens der Angehörigen und der sozialen Umgebung sehr erheblich, während die Störung vom Patienten selbst auch als ich-synton erlebt werden kann. Es wird zu entscheiden sein, ob eine Therapie indiziert ist und entsprechende Motivationsarbeit geleistet werden muss oder ob Gespräche mit Angehörigen nötig sind, um Verständnis für die sexuellen Besonderheiten des Patienten zu wecken.
-
•
Sie sollen die Frage klären, ob das Akzeptieren der sexuellen Präferenz zumindest teilweise möglich ist, wie z. B. bei Transvestiten oder Sadomasochisten, die ihre Neigung in Crossdressing-Clubs oder sadomasochistischen Zirkeln leben können.
-
•
Die beratenden Gespräche haben auch das Ziel, über therapeutische Möglichkeiten zu informieren. Man kann damit bei devianten Patienten erreichen, dass sie sich ihrer sexuellen Devianz nicht mehr hilflos ausgeliefert fühlen.
Medikamentöse Behandlung
-
•
Bei Minderbegabten mit eingeschränkter oder aufgehobener Psychotherapiefähigkeit
-
•
Am Anfang einer PsychoTherapie, deren Beginn erst durch die vorübergehende medikamentöse Dämpfung der sexuellen Appetenz möglich wird
-
•
Zur Unterstützung einer Psycho Therapie, vor allem in krisenhaften Lebenssituationen
EbM
Zwei systematische Reviews stützen aufgrund der vorliegenden Daten weder (K)VT, noch psychodynamische Verfahren, noch pharmakologische Interventionen als Methode zur signifikanten Reduktion der Rückfallhäufigkeit von Sexualstraftätern (Dennis et al. 2012; Khan et al. 2015). Aufgrund des spärlichen Datenmaterials, das eine metaanalytische Auswertung nicht zuließ, besteht dringender Forschungsbedarf, um empirisch besser begründete Aussagen über eine Wirksamkeit dieser Verfahren treffen zu können.
Spezifische PsychoTherapie, insbesondere Verhaltenstherapie
-
•
Klare Struktur mit Festlegung der Grenzen therapeutischen Handelns.
-
•
Am Anfang oft supportiver Charakter; soziale Belange müssen geklärt werden.
-
•
Schulenübergreifendes Handeln des Therapeuten: Die Patienten sind in höchst unterschiedlichem Maße „therapiefähig“. Die Behandlung wird deshalb je nach Patient sehr unterschiedliche Therapieziele, Zugangsformen und Tiefengrade haben. Integrative Therapieprogramme, die psychodynamische und verhaltenstherapeutische Konzepte berücksichtigen und pharmakologische Möglichkeiten nicht außer Acht lassen, scheinen am erfolgreichsten zu sein.
-
•
Man erreicht nur selten eine „Heilung“, aber der Patient kann lernen, seine Devianz unter Kontrolle zu halten und eine adäquatere zwischenmenschliche Kommunikation zu entwickeln („no cure, but control“).
-
•
Verdeckte SensibilisierungParaphilien/paraphile StörungenReduktions-/Kontrollmethoden: Der Patient ruft sich eine deviante Handlung lebhaft ins Gedächtnis und kombiniert das Bild mit einem besonders unangenehmen Ereignis, z. B. von einem Familienmitglied überrascht zu werden.
-
•
Selbstkontrollmethoden: Der Patient lernt, alternative Verhaltensformen zu entwickeln, die mit einer devianten Handlung unvereinbar sind. Beispiel: Ein Exhibitionist geht auf eine Frau zu, vor der er sich ursprünglich exhibieren wollte, und lässt sich die Uhrzeit sagen.
-
•
Stimuluskontrollmethoden: Der Patient lernt, Umstände zu erkennen, unter denen deviantes Verhalten häufig auftritt (z. B. unstrukturierte Freizeit, Nähe zu Kinderspielplätzen), und sein Verhalten so zu ändern, dass er nicht in solche Situationen gerät (Freizeit strukturieren, Vermeiden von Kinderspielplätzen).
Therapieergebnisse
-
1.
psychisch relativ stabilen sozial integrierten Patienten,
-
2.
selbstunsicheren „depressiven“ Patienten,
-
3.
Patienten mit „Depressionsabwehr“, instabilen Beziehungen und Neigung zur Kriminalität und
-
4.
schwer gestörten dissozialen Patienten.
-
•
Die Rückfallquote Behandelter liegt um ca. 30 % niedriger als bei Nichtbehandelten.
-
•
Es besteht kein deutlicher Erfolgsunterschied zwischen verschiedenen Therapieformen (KVT, antihormonelle Behandlung).
-
•
Der Abschluss einer Therapie ist gegenüber einem Abbruch ein prognostisch günstiger Faktor.
-
•
Starke paraphile Fixierung und dissoziale Persönlichkeitscharakteristika sind prognostisch besonders ungünstige Faktoren (s. auch Quinsay et al. 1995).
Resümee
Die Beratung sexuell devianter Personen ist oft notwendig und bereits therapeutisch wirksam. Die Anzahl gut kontrollierter Untersuchungen zur Therapie sexueller Deviationen ist gering. Die wenigen Studien zeigen jedoch, dass diese Patienten behandelbar sind. Allerdings hat die Therapie Grenzen, wenn die Psychopathologie besonders ausgeprägt ist. Eine medikamentöse Behandlung kann den therapeutischen Prozess möglicherweise unterstützen.
20.3
Geschlechtsidentitätsstörungen
20.3.1
Symptomatik und Typisierung
-
•
Die konstante, d. h. seit Jahren bestehende, lebenslang anhaltende und vollständige Identifikation mit dem Gegengeschlecht. Transsexuelle empfinden sich dem anderen Geschlecht zugehörig und wünschen sich die soziale Anerkennung im Gegengeschlecht.
-
•
Ein konstantes und starkes Unbehagen gegenüber den eigenen geschlechtsspezifischen biologischen Merkmalen (Brust, Vagina, Menstruation bei der Frau und Penis, Hoden, Bartwuchs beim Mann: Sie werden strikt abgelehnt und nach außen z. B. durch Einschnürungen zu verbergen oder durch Eigeneingriffe zu beseitigen versucht; Selbstkastrationen sind beschrieben).
-
•
Drängender Wunsch nach Geschlechtswechsel. Transsexuelle suchen die volle juristische und soziale Anerkennung im erlebten Geschlecht und streben nach geschlechtstransformierenden Maßnahmen (Hormonbehandlung und Operation) sowie Namens- und Personenstandsänderung.
-
•
Das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts („Crossdressing“) ist im Gegensatz zum CrossdressingTransvestitismus nicht sexuell motiviert. Transsexuelle bemühen sich oft mit Erfolg, auch die Mimik und Gestik sowie typische Berufe des erlebten Geschlechts zu übernehmen.
-
•
Eine bisher nicht eingestandene Homosexualität mit transvestitischen Zügen: Der Homosexuelle akzeptiert aber seinen biologischen Körper.
-
•
Fetischistischer Transvestitismus: Ein Transvestit erlebt das CrossTransvestitismusFetischistischer Transvestitismusdressing sexuell erregend und identifiziert sich nicht TranssexualitätCrossdressingpermanent mit dem Gegengeschlecht.
-
•
Transsexuelle Symptome im Rahmen einer akuten oder subakuten psychotischen Symptomatik. Sie sind vorübergehender Natur, und weitere psychotische Symptomatik ist explorierbar.
-
•
Persönlichkeitsstörungen (insbesondere Borderline-Persönlichkeiten), bei denen die transsexuellen Symptome vorübergehend auftreten können.
-
•
Adoleszenzkonflikte mit einer transsexuell anmutenden Symptomatik, die vorübergehend besteht.
-
•
Unbehagen mit der soziokulturell festgelegten Geschlechtsrolle.
Ausblick auf ICD-11
Geschlechtsidentitätsstörungen
-
•
Der primäre Fokus der ICD-11 liegt auf der Erfahrung von Unstimmigkeit zwischen geschlechtlichem Selbstverständnis und zugewiesener Geschlechterrolle.
-
•
Der Transvestitismus TransvestitismusICD-11unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen wird mangels Versorgungsnotwendigkeit gestrichen.
20.3.2
Ätiologie und Pathogenese
20.3.3
Therapie
Therapeutische Maßnahmen
-
1.
Im Einklang mit den deutschen Therapiestandards erfolgt als erster Schritt eine i. d. R. mindestens 1-jährige Betreuung und Beobachtung. Dabei wird darauf geachtet, ob der transsexuelle Wunsch stabil bleibt und der Geschlechtswechsel psychisch verarbeitet werden kann. Es hat sich als äußerst wichtig erwiesen, mit Transsexuellen zu erarbeiten, dass nicht die Operation der entscheidende therapeutische Schritt ist, sondern die jahrelange Vorbereitung darauf, mit der ständigen Überprüfung, ob ihnen ein Wechsel der Geschlechtsrolle auch tatsächlich möglich ist. Diese Zeitspanne wird auch vom Therapeuten benötigt, um seine diagnostische Einschätzung immer wieder zu überprüfen und zu erhärten.
-
2.
Als zweiter Schritt kann ein sog. „Alltagstest“ erfolgen, der jedoch zunehmend infrage gestellt wird: Der Betroffene lebt für eine längere Zeit – früher wurde mindestens 1 Jahr empfohlen – TranssexualitätAlltagstestin der angestrebten Geschlechtsrolle; dabei wird erprobt, ob ihm das möglich ist. Er sollte sich weiterhin mit den Reaktionen seines näheren und weiteren sozialen Umfelds auf seine Veränderung auseinandersetzen. Vor der Einleitung körperverändernder, organmedizinischer Maßnahmen sollten folgende Kriterien erfüllt sein (Becker et al. 1997):
-
–
Innere Stimmigkeit und Konstanz des Identitätsgeschlechts und seiner individuellen Ausgestaltung
-
–
Lebbarkeit der gewünschten Geschlechtsrolle
-
–
Realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen somatischer Behandlungen
-
-
3.
Hat der Betroffene weitgehende Sicherheit in seiner neuen Geschlechtsrolle gewonnen, kann mit dem dritten Schritt, der gegengeschlechtlichen Hormonmedikation, begonnen werden. Die Hormonbehandlung ermöglicht dem TranssexualitätHormonmedikation, gegengeschlechtlichePatienten, schon vor der irreversiblen Operation den postoperativen Zustand zu erleben: bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen Erniedrigung der Libido, Brustwachstum, Umverteilung Mann-zu-Frau-Transsexuelledes Unterhautfettgewebes mit Zunahme an den Hüften; bei Frau-zu-Mann-TranssexuellenFrau-zu-Mann-Transsexuelle Vertiefung der Stimme, evtl. Bartwuchs, Vergröberung von Haut und Gesichtszügen.
-
4.
Wenn alle bisherigen Stufen positiv durchlaufen sind, kann der vierte Schritt die Transformationsoperation sein. Die Indikation hierzu ist gegebenTranssexualitätTransformationsoperation,
-
–
wenn die Diagnose überprüft und die Kriterien 1–3 (s. o.) erfüllt sind und zusätzlich
-
–
der Therapeut den Patienten i. d. R. mindestens seit 1½ Jahren kennt,
-
–
der Patient das Leben in der gewünschten Geschlechtsrolle mindestens seit 1½ Jahren kontinuierlich erprobt hat und
-
–
seit mindestens ½ Jahr hormonell behandelt wurde (Becker et al. 1997).
Bei Mann-zu-Frau-Transsexuellen werden üblicherweise Penektomie, Kastration und Konstruktion einer Neovagina vorgenommen. Im Einzelfall kann auch eine Mammaaufbauplastik notwendig sein. Bei Frau-zu-Mann-Transsexuellen erfolgen beidseitige Mastektomie, Ovarektomie und evtl. Hysterektomie. Die Ergebnisse von Phalloplastiken sind weiterhin unbefriedigend. Stattdessen wird heute oft eine sog. Klitorismobilisierung durchgeführt (Eicher 1996).
-
-
5.
Nach der Operation ist die Weiterbetreuung des TranssexuellenTranssexualitätNachuntersuchungen/Weiterbetreuung wegen der medizinischen, aber auch wegen möglicher psychischer Probleme unbedingt zu empfehlen.
Nachuntersuchungen
-
•
den kontinuierlichen Kontakt mit einer Behandlungseinrichtung,
-
•
den erwähnten Alltagstest,
-
•
die Durchführung einer Hormonbehandlung,
-
•
die Beratung bzw. psychiatrische oder supportive psychotherapeutische Behandlung,
-
•
die Transformationsoperation und deren Qualität sowie
-
•
die juristische Anerkennung des Geschlechtswechsels durch Namens- und Personenstandsänderung.
20.3.4
Das Transsexuellengesetz (TSG)
-
•
der Antragsteller sich nicht mehr dem in seinem Geburtseintrag angegebenen, sondern dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet,
-
•
er seit mindestens 3 Jahren unter dem Zwang steht, seinen Vorstellungen entsprechend zu leben, und
-
•
nach den derzeitigen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft sich das Zugehörigkeitsempfinden zur neuen Geschlechtsrolle mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr ändern wird.
Resümee
Die Transsexualität ist die klinisch bedeutsamste Form der Geschlechtsidentitätsstörungen. Transsexuelle identifizieren sich konstant mit dem Gegengeschlecht und streben die juristische und soziale Anerkennung im erlebten Geschlecht an. Das transsexuelle Syndrom ist psychotherapeutisch fast niemals aufzulösen. Eine über Jahre laufende schrittweise Behandlung zu einer individuell unterschiedlich weit führenden Anpassung an das erlebte Geschlecht (Auflösung der Geschlechtsdysphorie) hat sich bei Transsexualität als sinnvolles Therapievorgehen erwiesen. Die Anpassung geht häufig mit einer gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung und einer Geschlechtstransformationsoperation einher. Eine Namens- und Personenstandsänderung ist auf Antrag bei Gericht möglich.
Literatur
Die Literatur zu diesem Kapitel finden Sie auf der Homepage zu diesem Buch unter http://else4.de/literatur-kap20.


Literatur
20.1 Terminologie
Bancroft, 1991
Beier et al., 2001
Berner, 2017
Kinsey et al., 1948
Pfaus, 2009
Reed et al., 2016
Schmidt, 1993
Schoenfeld et al., 2017
Sigusch and Schmidt, 1973
Tiefer, 2006
WHO – World Health Organization, 2006
20.2 Sexuelle Funktionsstörungen
Epidemiologie,
Epidemiologie
Berner, 2001
Braun et al., 2000
Günzler et al., 2007
Laumann et al., 1999
McCabe et al., 2016
Shifren et al., 2008
Simons and Carey, 2001
Epidemiologie,
Symptomatik und Typisierung
APA, 2015
Brückner, 1990
Kafka, 2010
Kaplan and Krueger, 2010
Kockott, 2000
Marshall and Briken, 2010
Masters and Johnson, 1970
Impotenz,
Impotenz und Anorgasmie. Hamburg: Goverts, Krüger und Stahlberg.Shifren et al., 2008
Epidemiologie,
Ätiologie und Pathogenese
Ansari, 1975
Arentewicz et al., 1993
Bancroft and Janssen, 2000
Barlow, 1986
Beier et al., 2005
Berner, 2017
Bitzer, 2013
Bulpitt et al., 1976
Buvat et al., 1983
Clement, 2004
Fahrner and Kockott, 1994
Feldman et al., 1994
Kockott and Pfeiffer, 1996
Kockott, 2000
Leiber, 2013
Masters and Johnson, 1970
Pfaus, 2009
Porst and Berner, 2004
Schiavi, 1976
Schnarch, 2004
Serretti and Chiesa, 2009
Serretti and Chiesa, 2011
Singer-Kaplan, 1981
Zimmer, 1985
Therapie,
Therapie
Annon, 1974
Annon, 1975
Arentewicz et al., 1993
Beier and Loewit, 2004
Berner and Günzler, 2012
Bitzer, 2013
Buddeberg, 2005
Clement, 2004
Davis et al., 2008
Di Luigi et al., 2017
Günzler and Berner, 2012
Hauch and Hrsg, 2006
Hawton et al., 1989
Höhn and Berner, 2013
Jaspers et al., 2016
Kaplan, 1981
Kaplan, 2000
Kockott and Fahrner, 1993a
Kockott and Fahrner, 1993b
Kockott and Fahrner, 2000
Leiber, 2013
LoPiccolo and Lobitz, 1972
Masters and Johnson, 1970
Porst and Berner, 2004
Schmidt, 2001
Schnarch, 2004
Hrsg, 2001
Vandereycken, 1996
Waldinger et al., 2001
Wang et al., 2012
Zilbergeld, 1999
20.3 Paraphilien – sexuelle Deviationen
Symptomatik,
Symptomatik und Typisierung
Berner, 2000
Briken et al., 2013
Giese, 1962
Schorsch, 1985
Symptomatik,
Ätiologie und Pathogenese – Entstehungstheorien
Freud, 1905/1964
Jakubczyk et al., 2017
Laws and Marshall, 1990
Money, 1986
Morgenthaler, 1987
Rachman, 1966
Rachman and Hodgeson, 1968
Seligman, 1970
Seligman, 1971
Stoller, 1979
Tenbergen et al., 2015
Therapie,
Therapie
Beier, 1995
Beier et al., 2007
Beier et al., 2015
Berner, 2000
Berner and Bolterauer, 1995
Briken et al., 2000
Briken et al., 2013
Hall, 1995
Hanson and Bussière, 1998
Kernberg et al., 1992
Kockott, 2000a
Kockott,
Kockott G (2000b). Sexuelle Störungen. In: Margraf J (2000), S. 295–318.Margraf and Hrsg, 2000
Marshall and Marshall, 2015
Marshall et al., 1990
Masters and Johnson, 1970
Morgenthaler, 1987
Quinsey et al., 1995
Scherner, 2015
Schorsch, 1985
Stoller, 1979
20.4 Geschlechtsidentitätsstörungen
Becker et al., 1997
Beier et al., 2005
Eicher, 1996
Coleman et al., 2011
Nieder and Richter-Appelt, 2013
Pfäfflin and Junge, 1992
Sigusch, 2001
The Wessex Institute for Health Research and Development, 1998
Zhou et al., 1995
Leitlinien (systematisch, evidenzbasiert)
AWMF-S1-Leitlinie Störungen der Geschlechtsidentität,
AWMF-S1-Leitlinie Störungen der Geschlechtsidentität (F64) sowie der sexuellen Entwicklung und Orientierung (F66). AWMF-Registrierungsnummer 028–014.Althof et al., 2010
Hatzimouratidis et al., 2010
Systematische Cochrane-Reviews (www.cochrane.de/deutsch
Candy et al., 2016
Dennis et al., 2012
Khan et al., 2015
Melnik et al., 2007
Melnik et al., 2012
Schmidt et al., 2012
Taylor et al., 2013
Vardi and Nini, 2007
Vecchio et al., 2010