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Bindung und spätere StressresistenzBindungBindung(sbeziehungen)StressresistenzStressresistenz (nach Weaver et al. 2004). Frühe Bindung bewirkt über epigenetische Veränderungen (Ablesbarkeit des GR-Genabschnitts) erhöhte Stressresistenz im Erwachsenenalter (durch erhöhte Exprimierung von GR-Rezeptoren und niedrige Glukokortikoid-Spiegel) und transgenerationale Weitergabe (über mütterliches Bindungsverhalten → Oxytocin).
[L106]

Langzeitfolgen früher StresserfahrungenStresserfahrungenfrüheLangzeitfolgen im Rahmen eines biopsychosozialen Vulnerabilitätsmodells
[L106]

Empirisch gesicherte Risikofaktoren mit potenziellen Langzeitfolgen für die Stressvulnerabilität (Egle et al. 1997, 2015)
Stressvulnerabilität Risikofaktoren
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Niedriger sozioökonomischer Status
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Schlechte Schulbildung der Eltern
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Arbeitslosigkeit
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Große Familien und sehr wenig Wohnraum
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Kontakte mit Einrichtungen der „sozialen Kontrolle“ (z. B. Jugendamt)
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KriminalitätKriminalität oder DissozialitätDissozialität eines Elternteils
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Chronische Disharmonie in der PrimärfamiliePrimärfamilie, chronische Disharmonie
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Unsicheres Bindungsverhalten Bindungsverhaltenunsicheresnach 18./24. Lebensmonat
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Psychische Störungen der Mutter/des Psychische StörungenMutter/VaterVaters
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Schwere körperliche Erkrankungen der Mutter/des Körperliche ErkrankungenMutter/VaterVaters
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Parentifizierung/ParentifizierungRollenumkehrRollenumkehr
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Chronisch krankes Geschwister
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Alleinerziehende AlleinerziehendeMutter
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Längere Trennung von den Eltern in den ersten sieben Lebensjahren
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Anhaltende Auseinandersetzungen infolge Scheidung/Trennung der ElternAuseinandersetzungenanhaltende
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Häufig wechselnde frühe Beziehungen (z. B. Waisenhaus, Aupair-Mädchen)
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GewalterfahrungenGewalterfahrungen: sexueller und/oder aggressiver Missbrauch
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Schlechte Kontakte zu Gleichaltrigen in der Schule
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Altersabstand zum nächsten Geschwister < 18 Monate
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Geschlecht (Jungen vulnerabler als Mädchen)
Empirisch gesicherte kompensatorische Schutzfaktoren für die spätere Stressvulnerabilität (Egle et al. 1997, 2015)
Kindheitserfahrungen, belastende Schutzfaktoren, kompensatorische
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Dauerhafte gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson
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Sicheres Bindungsverhalten
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Großfamilie, kompensatorische Elternbeziehungen
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Entlastung der Mutter (v. a. wenn alleinerziehend)
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Gutes Ersatzmilieu nach früherem Mutterverlust
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Überdurchschnittliche Intelligenz
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Robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament
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Internale Kontrollüberzeugungen, Selbstwirksamkeit (self-efficacy)
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Soziale Unterstützung und Förderung (z. B. Gleichaltrige, Jugendgruppen, Schule)
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Verlässlich unterstützende Bezugsperson(en) im Erwachsenenalter
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Lebenszeitlich spätere Familiengründung (im Sinne von Verantwortungsübernahme)
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Geschlecht: Mädchen weniger vulnerabel
Früherkennung und Prävention
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30.1
Was sind psychosoziale Belastungen für Kinder und Eltern?354
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30.2
Biologische Einflussparameter und entwicklungspsychologische Auswirkungen355
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30.3
Erkrankungen, Drogenabusus und Gewalt als Langzeitfolgen356
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30.4
Möglichkeiten der Prävention357
PräventionPsychosoziale BelastungenKindheitFrüherkennungFrüherkennung/-interventionIn den letzten Jahren setzen sich in der psychosozial orientierten Psychosoziale Prävention(sprogramme)frühe KindheitPräventionPsychosoziale BelastungenPrävention Maßnahmen im frühkindlichen Alter durch, um Kinder von Beginn ihres Lebens an in ihrer Entwicklung verstärkt zu fördern. Diese Maßnahmen setzen vor allem an den Beziehungssystemen an, in denen die Kinder leben. Den Kindern sollen angemessene Reifungsbedingungen geschaffen werden, damit sie sich adäquat entwickeln können. Vorsorge ist vor allem erforderlich, wenn ein Neugeborenes in eine FamilieRisikofamilien mit hohen Belastungen hineingeboren wird. Diese „Risikofamilien“ müssen unterstützt werden, damit sie ihren Kindern angemessen gute Umgebungsbedingungen zur Verfügung stellen können. Nach dem UNICEF-Report (2005) wachsen in den industrialisierten Ländern zwischen 7 und 10 % der Kinder in risikobelasteten Familien auf.
Dass durch psychosoziale BelastungenPsychosoziale BelastungenKindheit in der KindheitKindheitpsychosoziale Belastungen lebenslang die Weichen für die spätere Gesundheit bzw. Krankheitsvulnerabilität in erheblichem Umfang gestellt werden, kann heute als wissenschaftlich sehr gut gesichert gelten.
Kindheitserfahrungen, belastendeFolgenDies betrifft nicht nur zahlreiche psychische (depressive und Angststörungen, PTBS, Borderline-Störung) und psychosomatische (stressinduzierte Hyperalgesie, immunologische) Erkrankungen (Egle 2015b; Schubert et al. 2015), sondern auch einige häufige körperliche Erkrankungen (Typ-2-Diabetes, Schlaganfall, KHK, COPD, Hepatitis, Pharynx- und Lungenkarzinome), welche die Lebenserwartung potenziell verkürzen können. Dass bei Einwirken von sechs und mehr bzw. vier und mehr KindheitsbelastungsfaktorenKindheitBelastungsfaktoren die Mortalität in der einen der beiden Bevölkerungsstichproben bis zum 65. Lj. um das 2,4-Fache (Brown et al. 2009), in der anderen bis zum 70. Lj. um das 2,0-Fache (Bellis et al. 2014) erhöht ist, macht deutlich, in welchem Umfang das StressverarbeitungssystemStressverarbeitung(ssystem)allostatische Überlastung dadurch früh überlastet (allostatic overloadAllostatic overload) und in seiner Funktion anhaltend beeinträchtigt werden kann (Übersicht bei Egle 2015; Overfeld und Heim 2015).
Psychische und körperliche TraumatisierungenTrauma(tisierungen)frühkindliche, Folgekosten sowie emotionale DeprivationDeprivationemotionale in der Kindheit führen zu enormen Gesundheits- und volkswirtschaftlichen Kosten (AU-Tage, Frühberentungen). Die US-amerikanischen Centers of Disease Control (CDC) beziffern die gesundheitsbezogenen und volkswirtschaftlichen Folgekosten allein für die in den USA im Jahr 2008 misshandelten Kinder mit 124 Mrd. Dollar (Fang et al. 2012).
Dies macht die Notwendigkeit von Prävention im Sinne früher Hilfen sehr deutlich (vgl. Cierpka 2015; Thyen und Pott 2015), die bei gut belegter Wirksamkeit in Modellprojekten in die Breite politisch umgesetzt werden müssen.
Die Schwerpunktsetzung auf „frühe Interventionen“ Interventionenfrühe (Kindheitserfahrungen, belastende)leitet sich aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Folgen von psychosozialen BelastungenBelastungenpsychosozialeKinder für Kinder ab. Schwierigste Bedingungen in der frühen Kindheit können die Entwicklung eines Menschen in vielfältiger Weise einschränken. Weil die seelische Entwicklung und die damit korrespondierende Strukturierung des kindlichen Gehirns gerade in den ersten Lebensjahren stark beeinflussbar sind, muss sich die primäre Prävention auf die Förderung der Reifungsbedingungen für die Kinder am Anfang ihres Lebens konzentrieren. Zunächst wird dargestellt, was unter „psychosozialen Belastungen in der Kindheit“ verstanden wird.
-
1.
Der Wissensstand zu den Auswirkungen dieser psychosozialen Belastungen auf die seelische und gesundheitliche Entwicklung der Kinder wird erläutert.
-
2.
Dann werden die Folgen dargestellt, die sich aus den Belastungen und Entwicklungsbeeinträchtigungen ergeben.
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3.
Anschließend wird der Stand der internationalen und nationalen Präventionsforschung in der frühen Kindheit diskutiert.
30.1
Was sind psychosoziale Belastungen für Kinder und Eltern?
30.2
Biologische Einflussparameter und entwicklungspsychologische Auswirkungen
30.3
Erkrankungen, Drogenabusus und Gewalt als Langzeitfolgen
Vor allem die Kombination von mehreren der oben genannten RisikoverhaltensweisenRisikoverhaltenchronische Krankheiten erhöht die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von chronischen körperlichen Erkrankungen sowie sozialen Problemen.
30.4
Möglichkeiten der Prävention
30.4.1
Definitionen
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1.
Psychosoziale Prävention(sprogramme)InterventionenuniverselleDie primäre Prävention für alle Gruppen in einer Bevölkerung bezeichnet man als universelle präventive Interventionenuniverselle präventivePsychosoziale Prävention(sprogramme)universelleIntervention. Entscheidend ist, dass sie unabhängig von evtl. vorhandenen Risikofaktoren eingesetzt wird. Wenn Risikofaktoren identifiziert werden und das Risiko verringert werden soll, muss man genau genommen schon von sekundärer Prävention sprechen. Diese Unterscheidung fällt manchmal nicht leicht. Wenn Eltern z. B. mit ihrem exzessiv schreienden Baby in einer Sprechstunde um Rat nachsuchen, stellt sich die Frage, ob dies bereits eine Risikokonstellation darstellt. Immerhin sind ca. 25 % der Kinder in den ersten 3 Lebensmonaten sog. „Schreibabys“. Die meisten von ihnen können nicht als Risikokinder bezeichnet werden, weil die Problematik nur bei ca. 6 % über den 3. Lebensmonat hinaus persistiert. Im Sinne der universellen primären Prävention können aber alle Eltern darauf vorbereitet werden, sodass das Persistieren des Problems vermieden werden kann.
Beispiele aus dem Gesundheitsbereich sind etwa Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere oder die zeitlich genau terminierten und inhaltlich vorgegebenen Untersuchungen der Kinder beim Kinderarzt. Im psychosozialen Bereich sind die Ehevorbereitungskurse für Paare oder die Elternschulen in den Familienbildungsstätten anzuführen.
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2.
Mit einer selektiven präventiven Intervention Psychosoziale Prävention(sprogramme)InterventionenselektiveInterventionenselektive präventivewerden Subpopulationen wie z. B. die Alleinerziehenden, Verwitwete oder Scheidungskinder unterstützt. Diese Maßnahmen zielen auf Individuen oder Bevölkerungsgruppen, die aufgrund verschiedener Faktoren im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Störungen haben oder schon erste Symptome aufweisen.
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3.
Indizierte präventive InterventionenInterventionenindizierte präventivePsychosoziale Prävention(sprogramme)Interventionenindizierte zielen auf Personen, die bereits Symptome einer Störung aufweisen, aber noch nicht die Kriterien für eine Diagnose erfüllen. Mit indikativer Psychosoziale Prävention(sprogramme)indikativeIndikative PräventionPrävention meint man z. B. die Förderung von Kindern, die eine hyperkinetische oder eine Lese-Rechtschreib-Lese-Rechtschreib-StörungStörung entwickeln könnten.
Psychosoziale Prävention(sprogramme)primäreJegliche Form der PrimärpräventionPrimärprävention sollte darauf ausgerichtet sein, das kumulative Einwirken dieser Faktoren während der Kindheit zu verhindern. Im Rahmen von Maßnahmen der SekundärpräventionPsychosoziale Prävention(sprogramme)sekundäre muss es darum gehen, die psychischen wie biologischen Auswirkungen einer derartigen kumulativen Stressoreneinwirkung zu mildern.
30.4.2
Präventionskonzepte
Beziehungsaufnahme, kindlicheSensitive und kontingente Reaktionen auf die kindlichen Signale tragen nach der Bindungstheorie entscheidend dazu bei, dass die Bindungsfigur als sicher und verlässlich erlebt wird. Eine sichere BindungBindung(sbeziehungen)sichere gilt als wesentlicher Schutzfaktor und Puffer gegenüber Risikofaktoren für psychiatrische Erkrankungen. Voraussetzung für die Entwicklung einer sicheren Bindungsbeziehung ist eine positive Beziehung zwischen Eltern und Kind, die sich ihrerseits aus einer Vielzahl überwiegend positiver Interaktionen konstituiert.
Hertzman und Wiens (1996) führen die Wirksamkeit von Präventionsprogrammen auf zwei Psychosoziale Prävention(sprogramme)WirksamkeitsprinzipienPrinzipien zurück: Zum einen ist ein „Je früher desto besser“ und zum anderen ein „Immer wieder“ wichtig, also die Möglichkeit, Entwicklung auch in späteren Lebensphasen immer wieder anzustoßen.
30.4.3
Familienzentrierte Präventionsansätze in der frühen Kindheit
Psychosoziale Prävention(sprogramme)ElternschuleDurch Programme, die die Eltern-Kind-InteraktionEltern-Kind-Beziehung/-Interaktion(en)Präventionsprogramme positiv beeinflussen und so zu wechselseitig guten Beziehungen zwischen Kind und Eltern beitragen, werden die elterlichen Kompetenzen, aber auch die sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder gefördert. Bereits die werdenden Eltern können auf ihre Erziehungsaufgaben vorbereitet werden.
30.4.4
Präventionsmaßnahmen bei Hochrisikofamilien
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1.
Unterstützung bzgl. des für das Überleben wichtigen Bereichs, der Unterkunft, Nahrung, Einkünfte, Sicherheit und Transportmöglichkeiten betrifft
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2.
Vermittlung von Werten und Zielen für die Familie auch in Hinblick auf Schulbesuch und Arbeitsplatz
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3.
Schaffung eines Gefühls für die physische, sozial-emotionale und finanzielle Sicherheit von Eltern und Kind
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4.
Sicherstellung physischer und seelischer Gesundheit
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5.
Verbesserung der sozialen Interaktionen zwischen Familienmitgliedern, Peers und Nachbarn
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6.
Steigerung des Selbstwertgefühls
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7.
Förderung von sozialen Kompetenzen, Kommunikationsfertigkeiten und der Motivation für Schulerfolg
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8.
Training basaler intellektueller Fähigkeiten
Internationale Studien
Projekte in Deutschland
Hochrisikofamilien verfügen häufig aufgrund vielfältiger Probleme (schwierige Familienstrukturen, Armut, Arbeitslosigkeit, Partnerschafts- und Familienkonflikte etc.) nicht über die Ressourcen, die notwendig sind, damit eine Familie ihren Aufgaben angemessen nachkommen kann.
Kontrollierte Studien im deutschsprachigen Raum
FamilienhebammenFamilienhebammen können depressive Symptome bei jungen Müttern lindern, sie können dazu beitragen, dass Mütter und Kinder innerhalb des 1. Lebensjahres eine tragfähige Beziehung zueinander aufbauen und sich die sozialen Fähigkeiten der Kinder altersentsprechend entfalten.
Literaturauswahl
Cicchetti and Blender, 2006
Cierpka, 1999
Cierpka, 2009
Egle, 2015a
Egle, 2015b
Felitti et al., 1998
Franz, 2014
Olds, 2006
Rutter and Giller, 1983
Thyen and Pott, 2015