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FallarbeitFall(arbeit)traditionelle
[L231]

Fallarbeit als Praxis Integrierter MedizinFall(arbeit)Integrierte Medizin
[L231]

Das Gebiet „Psychosomatische Medizin und PsychotherapiePsychosomatische MedizinAufgaben“Psychosomatische MedizinQualifikationPsychosomatische GrundversorgungFacharztfür Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Aufgaben | Qualifikation | |
Psychosomatische Grundversorgung |
|
Fortbildung (alle Gebiete), in Weiterbildung integriert (Allgemeinmedizin, Frauenheilkunde) |
Psychotherapie fachbezogen | Richtlinien-Psychotherapie, in Fachpraxis integriert | Facharzt für … plus Zusatzweiterbildung, berufsbegleitend |
Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie |
|
Vollzeitweiterbildung |
„Integrierte Medizin“
-
1.1
Reform ärztlichen Handelns3
-
1.2
Reform in der Praxis: Woran können wir uns orientieren?5
-
1.3
Fallarbeit im Verlauf13
-
1.4
Integrierte Medizin gemeinsam realisieren18
-
1.5
Persönliche Erfahrungen20
„Wie alles Lebendige so entfaltet sich die Medizin – in der Wissenschaft und in der ärztlichen Aufgabe – in dauernder Bewegung, in den wechselnden Anschauungen, Erkenntnissen und Bedürfnissen der sich wandelnden Zeit, in jeder Begegnung von Arzt und Krankem …“
Richard Siebeck (1949)
„The patient and I are the case.“
2
John Horder, President, Royal College of General Practitioners, Michael Balint Memorial Lecture, 27. Januar 1981
John Horder2 (1981)
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Videomaterial (Filme, Vortrag) finden Sie unter www.netmediaviewer.de |
1.1
Reform ärztlichen Handelns
1.1.1
Von Uexkülls Anliegen
-
•
In der unmittelbaren Krankenversorgung orientiert er sich am biopsychosozialen Verständniskonzept und versucht, bei aller notwendigen speziellen Diagnostik seine Patienten „als psychophysische Einheit zu erfassen“ (1979: 3–4).
-
•
Darüber hinaus beteiligt er sich als Mitglied der ärztlichen Berufsgemeinschaft auch an der Entwicklung „neuer Formen kollegialer Zusammenarbeit, sowohl in der Krankenversorgung wie in der Forschung“ (1979: V).
1.1.2
Weiterbildungsordnung ermöglicht Reform
3
Bis 2003 „Psychotherapeutische Medizin“
-
1.
ein bedarfsgerechtes Angebot ärztlicher Fachpsychotherapie – gemeinsam mit Ärzten für Psychiatrie – sicherstellen,
-
2.
Ärzten in allen Bereichen der Krankenversorgung ermöglichen, ausreichend Kompetenz zu erwerben, um ihr Handeln am biopsychosozialen Verständnismodell und darauf bezogenen Behandlungskonzepten auszurichten.
1.1.3
Ziele „Integrierter Medizin“
-
1.
Integrierte Medizin soll in der Ärzteschaft ein Bewusstsein dafür fördern, dass wir uns aus der starren Fixierung unseres beruflichen Selbstverständnisses an die tradierte Auffassung der Medizin als einer „angewandten (Natur-)Wissenschaft“ befreien müssen, um unsere wissenschaftlichen Orientierungsmöglichkeiten erweitern zu können.
-
2.
Integrierte Medizin soll das „biopsychosoziale Modell“ „revitalisieren“ (Lewis 2007a) und zu einem Konzept weiterentwickeln, in dem „physiologische, psychische und soziale Vorgänge nicht mehr … als isolierte Ereignisse unverbunden nebeneinander stehen, sondern sich gegenseitig beeinflussen und ergänzen“ (von Uexküll 2003: VI).
V. von Weizsäcker hatte sich schon früh von einer „sozusagen trivialen Anthropologie“ distanziert, die jedermann mit sich herumtrage, „etwa der Vorstellung, dass der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht“, und der unverbindlichen „Vorstellung des Zusammengehörens von drei Stücken“ (1944/1986:84).
Herbert Weiner hatte darauf aufmerksam gemacht, dass George Engels Modell (1977) keinen Ansatz für das Verständnis der Wechselwirkungen zwischen den Subsystemen des biopsychosozialen Gesamtsystems enthält. Dieses Defizit trägt dazu bei, dass das Modell seine Funktion als weithin akzeptierter Orientierungsrahmen einzubüßen droht, oft nur noch als „empty shibboleth“ (Lewis 2007a) oder als „Cover für konzeptuelle Beliebigkeit“ (Henningsen 2015) dient. Eine Revitalisierung dieses Modells durch ergänzende Konzeptualisierung und weiterführende Forschung erscheint dringend erforderlich (Lewis 2007a; vgl. Henningsen 2015).
Um das Zusammenwirken der Teilbereiche ärztlichem Verstehen zu erschließen, schlug von Uexküll vor, „drei einschneidende theoretische Vorannahmen einzuführen“, „die Theorie des Konstruktivismus, die Lehre der Zeichen und eine Systemtheorie, in der Organismen zusammen mit ihrer Umwelt ein Ganzes, ein lebendes System bilden“ (von Uexküll und Wesiack 2003: 20).
-
3.
Integrierte Medizin soll von Weizsäckers vielzitierte Forderung nach der „Einführung des Subjekts“ in die Medizin erfüllen (1944/1986: 82 und 1945/1986: 293). Erst mit der Einführung eines Subjekts, dem etwas widerfährt, das erlebt, interpretiert und selbst handelt, gewinnen Konzepte für das Zusammenwirken von Psyche und Soma Relevanz für den Arzt (1944/1986: 84). „Die Einführung des Subjekts in die Methode der Forschung ist der Punkt, an dem die Verschiebung der Grundlagen einsetzt“ (1935/1986: 330).
„Die Entfaltung der Heilkunde geschieht nicht nur durch Erfindungen und Entdeckungen, sondern auch durch die Ordnung des Denkens.“
Richard Koch (1923)
1.2
Reform in der Praxis: Woran können wir uns orientieren?
1.2.1
Die Stellung ärztlichen Handelns im Feld der Wissenschaften
Unser ärztliches Selbstverständnis
„Wir sind in der Vorstellung aufgewachsen, Medizin sei eine angewandte Wissenschaft – und das meint letzten Endes gar keine Wissenschaft, sondern eine Disziplin, welche die Theorien und Methoden von sogenannten Grundlagenwissenschaften für die praktischen Zwecke der Ärzte verwende.“
von Uexküll und Wesiack (1998: 2)
Kasuistik 1
„Für Gefühle gibt es keinen Titer“: nicht einstellbarer Diabetes mellitus – verzweifelt Trauernder
5
Occupy Medicine. A Call for a Revolution to Save American Health Care (2012)
“The physician's role transcends that of simple mechanical repair. The human body is infinitely more than a deterministic machine. … Medicine's mission is to assert and assure human potential … The crisis … requires a revolutionary response … what is needed is a rigorous new alternative, a new paradigm, more complete than the former paradigm.”
Bortz (2011: 6–8)
Kooperation der Subsysteme im biopsychosozialen Modell
„Ich stelle mir einmal vor, dass der Körper nichts anderes sei als eine … Maschine, die Gott gänzlich in der Absicht formt, sie uns so ähnlich wie möglich zu machen, und zwar derart, dass er ihr … auch in ihr Inneres alle jene Teile legt, die notwendig sind, um sie laufen, essen, atmen, kurz all unsere Funktionen nachahmen zu lassen, von denen man sich vorstellen könnte, dass sie aus der Materie ihren Ursprung nehmen …“
Descartes (1632, Hervorhebungen KK)
6
„In der Wissenschaft haben die Ueberzeugungen kein Bürgerrecht, so sagt man mit gutem Grunde: erst wenn sie sich entschließen, zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen, darf ihnen der Zutritt und sogar ein gewisser Werth innerhalb des Reichs der Erkenntnis zugestanden werden, – immerhin mit der Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu bleiben, unter die Polizei des Mißtrauens.“ (Nietzsche 1882: 344)
„… dass ich meinem Körper aufs Engste verbunden (arctissime conjunctum) bin und gleichsam mit ihm vermischt (quasi permixtum), so dass ich mit ihm zusammen ein einheitliches Etwas ausmache (adeo ut unum quid cum illo componam).“
6. Meditation (1642/1956: 141 ff.)
„… da nach meiner Meinung der menschliche Geist nicht fähig ist, sehr deutlich und zu gleicher Zeit den Unterschied zwischen Seele und Körper und ihrer Vereinigung zu begreifen, weil man sie dazu zugleich als ein einziges Ding und als zwei begreifen muss, was sich widerspricht.“
Brief an Elisabeth vom 28.6. 1643 (1643/1949: 272)
„… was ich hiernach erklären muss, die Art und Weise, diejenigen (Begriffe) zu begreifen, die der Verbindung der Seele mit dem Körper zukommen (…). So haben wir, glaube ich, zuvor den Begriff der Kraft, mit der die Seele auf den Körper wirkt, mit der verwechselt, mit der ein Körper auf den anderen wirkt.“
Brief an Elisabeth vom 21.5. (1643/1949: 265 f.)
7
Vgl. auch den Hinweis auf den Entwicklungsstand der „Biosemiotik“ im Netmediaviewer > Integrierte Medizin.
Kasuistik 2
Schwindelattacke während Neujahrskonzert
Die Anerkennung des Subjekts
„Der Mensch ist ein Objekt, welches ein Subjekt enthält, und es ist erforderlich, das Subjekt in die Wissenschaft vom Menschen einzuführen oder richtiger, es anzuerkennen; denn man braucht nichts einzuführen, was schon enthalten ist.“
8
Vgl. von Weizsäcker (1935: 281) und Jacobi (2012)
von Weizsäcker (1949/1985: 293)8
9
Von Weizsäcker hatte „1915 im Felde“, „einen sozusagen inspiratorischen Augenblick erlebt“, in dem sich ihm „gleichsam leiblich denkend“ „die ursprüngliche Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt“ „offenbart“ habe. Mit diesem Erleben sei ihm deutlich geworden, dass die Forderung eines wissenschaftlichen Positivismus, das Subjekt aus der Erkenntnis zu entfernen, zu einer „Verirrung oder Fälschung“ führe. Später habe er erkannt, dass seine experimentellen neurophysiologischen Untersuchungen, u. a. seine Experimente zur Erklärung von Schwindelphänomenen, es erforderlich machten, „die Erlebnisse des Subjekts als integrierend für die Beschreibung des Vorganges“ anzuerkennen (1944/1986: 81–83).
Von Uexküll erzählte von einer Schlüsselerfahrung, die er als Medizinstudent während einer „postinfektiösen Psychose“ im Verlauf einer schweren Typhuserkrankung gemacht habe. Damals habe sich der zugezogene Psychiater nicht für seine wahnhaft veränderte „individuelle Wirklichkeit“ oder gar für die Funktion deren inhaltlicher Ausgestaltung interessiert, sondern sich später nur erkundigt, ob er noch weiter „an das unverantwortliche Zeug“ glaube, von dem er während dieser Krankheitsphase geredet habe. (vgl. Otte 2001: 40 f.).
„Im Rahmen einer ‚Medizin der Subjekte‘ ist der Arzt (als Subjekt) Beobachter von Objekten, die selbst Subjekte, d. h. Beobachter sind, die ihre Umgebung für ihre Probleme und Verhaltensmöglichkeiten in Form gebracht haben.“
von Uexküll und Herrmann (2003: 1358)
10
„Kasuistik“ als Titel für klinische Beispiele entspricht der Auffassung, dass für den Verlauf von Diagnostik und Therapie Interaktionsprozesse zwischen Arzt und Patient von wesentlicher Bedeutung sind (Kächele 1993; Meyer 1993).
11
Der Verbesserung der Versorgung der jährlich etwa 8 Mio. in Deutschland Betroffenen gilt u. a. die Arbeit des Hamburger „Netzwerkes Somatoforme Störungen (sofu-Net)“ im „Netz psychische Gesundheit (psychenet.de)“.
Die Forderung nach „Anerkennung des Subjekts“ impliziert, dass es zum Wesen unserer ärztlichen Arbeit gehört, die Spannung zwischen zwei Bereichen, zwischen Individuellem und Allgemeinem, zu überbrücken: Kranke begegnen uns als Einzelne, wir verpflichten uns einem Individuum. Um die Erkrankung zu klären und geeignete Behandlungsmöglichkeiten zu erarbeiten, müssen wir jedoch von der Möglichkeit Gebrauch machen, Singuläres mit Allgemeinem in Beziehung zu setzen, uns am vorhandenen Wissensstand und an gültigen Gesetzmäßigkeiten zu orientieren.
12
Von Uexkülls und Wesiacks Forderung, (nach dem Vorbild der Physik) ein eigenständiges Grundlagenfach „Theoretische Medizin“ zu gründen (1998: 3), verspricht ebenso wenig eine Lösung wie die Wiedereinführung eines Philosophikums in das Medizinstudium.
1.2.2
Medizin ist Handlungswissenschaft
„Daher müssen wir die Natur vorläufig auflösen und zersplittern, nicht durch Kohlenfeuer, sondern das göttliche Feuer des Geistes. Das erste Geschäft der Induction, um die Formen zu verstehen, ist das Abstrahiren von Einzelheiten, welche nicht mit dem Wesen der Sache zusammenhängen.“
Bacon (1620/1981: 127–128)
„Zu dem Verstandesbegriffe, welcher die Regel enthält, muß ein Actus der Urteilskraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht; …es [kann] Theoretiker geben, die in ihrem Leben nie praktisch werden können, weil es ihnen an Urteilskraft fehlt: z. B. Ärzte …, die ihre Schule gut gemacht haben, die aber, wenn sie ein Consilium zu geben haben, nicht wissen, wie sie sich benehmen sollen.“
Kant (1793/1983, VI: 127)
„Es kann also niemand sich für praktisch bewandert in einer Wissenschaft ausgeben, und doch die Theorie verachten, ohne sich bloß zu geben, daß er in seinem Fache ein Ignorant sei.“
Kant (VI: 128; vgl. auch Wieland 2001)
Medizin hat ärztliches Handeln nicht nur zum Gegenstand, Medizin realisiert sich im Handeln (Wieland 1975/2004: 84). Patienten suchen uns Ärzte als Einzelne wegen lebensweltlicher Probleme auf, die sie selbst nicht zu lösen vermögen. Sie stellen uns die Aufgabe, diese Probleme auf Sachwissen gegründet zu klären und zu bewerten, Lösungsansätze zu entwickeln und umzusetzen.
Das Erstellen einer Diagnose als Teil der Fallarbeit führt zu einer singulären, nicht zu einer universellen, verallgemeinerungsfähigen Aussage: Es erlaubt, einzelne Patienten bzw. ihre Erkrankung einer Krankheitseinheit und Indikationsstellung und damit einer Therapieleitlinie zuzuordnen.
„Eine Naturwissenschaft … ist sie … nicht geworden und wird sie auch schwerlich jemals werden. Denn jede Wissenschaft steckt sich ihre Grenzen nach ihrem Können! Und dahin kann es die Medicin nicht bringen – dazu sitzt ihr die Humanität zu tief im Blute.“
13
Vor allem im Pflegebereich und in der Physiotherapie folgt Clinical Reasoning einem ähnlichen Ansatz (Higgs et al. 2008; Klemme und Siegmann 2015). Auch in diesem Konzept ist es Ziel, dem einzelnen Patienten in seiner Individualität gerecht zu werden. Die professionell Tätigen sollen sich der Lösung des Problems in einem spiralförmigen Prozess widmen, in dessen Verlauf sie ihr Handeln an dem zur Verfügung stehenden gesicherten Wissen orientieren und ihr Vorgehen (metakognitiv) reflektieren: „Clinical reasoning is a dynamic, cyclic, reiterative process in which observation, analysis, synthesis, deduction, hypothesis generation, hypothesis testing, inquiry-stategy design, and the skills of examination are all interrelated“ (Barrows und Pickel 1991: 125, zit. nach Klemme und Siegmann 2015).
1.2.3
Ärztliches Handeln als Fallarbeit (Kasuistik)
„Das Eigentümliche der Form Kasus liegt … darin, dass sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann, dass sie uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält – was sich in ihr verwirklicht, ist das Wägen, aber nicht das Resultat des Wägens.“
Jolles (1930/2006: 191)
-
•
In einem ersten explorativen Abschnitt („Her-Richten“) generieren und sammeln wir mit professioneller Methodik Wissen über die vorliegende Gesundheitsstörung.
-
•
In einem zweiten stärker bewertenden Abschnitt („Zu-Richten“) sortieren und strukturieren wir das vorher nur agglomerierte Wissen.
-
•
An welcher Konzeption des Organismus orientieren wir uns?
-
•
Auf welchen Teilbereich des Gesamtsystems fokussieren wir unsere Betrachtung?
Traditionelle Fallarbeit
Fallarbeit in integrierter Medizin
Fall(arbeit)KooperationFür die Konzeption klinischer Fallarbeit ist Kooperation im Sinne des Pragmatismus von Charles Peirce von großer Bedeutung: In scharfer Abgrenzung gegenüber Descartes wies er nachdrücklich auf die grundlegende Bedeutung gemeinsamen Bemühens, auf die Bedeutung fortgesetzten interpersonellen Austauschs in einer „community of inquiry“ für die Erarbeitung und Sicherung von Erkenntnis hin (Liszka 1996, 2013 und Kap. 27.3).
1.3
Fallarbeit im Verlauf
1.3.1
Fall öffnen – kooperative Beziehung aufbauen – Wissen generieren
Kasuistik 3 Beginn einer Konsultation
„Wenn mich einer so offen in die Augen guckt …“
Dr. R.: | So, jetzt bin ich bei Ihnen. |
Frau C.: | Dat geht um Zucker bei mir, … und um de Nieren. |
Kasuistik 3 (Forts.)
Beziehungsaufnahme im Rückblick: Patientin1414
Die Interviews mit der Patientin und der Ärztin führten Dr. med. Hella Poll und Prof. Dr. phil. Rainer Obliers.
14
Die Interviews mit der Patientin und der Ärztin führten Dr. med. Hella Poll und Prof. Dr. phil. Rainer Obliers.
Frau C.: | Ja, … sie guckte einen in die Augen. Und nich' dat se wegguckte. Als Patient is dat für mich ne Vertrauenssache, wenn mich einer so offen in den Augen guckt: die is' ganz jetzt dadrauf, wat du sagst und wat du vielleicht hast … Dat is' für mich sehr wichtig. |
Interviewer: | Was würden Sie denken, wenn ein Arzt oder 'ne Ärztin nich' in die Augen guckt … |
Frau C.: | De würde überhaupt nicht, dat würde genau wie Schema F ablaufen. Un' dat hat sie jetzt eben nich' gemacht. Sie tat sich richtig mit einem befassen, tat einen schön angucken und alles und sie sprach auch, ich fand dat ganz toll. |
Interviewer: | Das heißt, Sie fühlen sich dann auch als Person ernst genommen? |
Frau C.: | Ja, ja, sicher, nich' so, als wenn: kommste jetzt als Patient, du bringst mir den Krankenschein un' dann is' et jut, ne. Und das find' ich eben, was mich sehr beeindruckt hat. Un' dat hat man nich' überall. |
Frau C.: | Also das is' für mich Ende, ich bin da nich' mehr hingegangen. Ich bin jetzt über 'en Jahr nich' mehr beim Arzt gewesen. |
Frau C.: | Aber hier hab' ich das nicht gehabt. Dat is' so, als wenn ich hier reingekommen, als wenn ich hier schon Jahr und Tag reingekommen bin, ne. Also, ich hatte eben, in diesem Moment, ganz kurz gesagt, keine Hemmungen. |
Frau C.: | Für mich war dat also, ganz ehrlich gesagt, ich hab' ein richtiges Vertrauen gehabt, als wenn ich zu meiner Mutter gesprochen hätte. |
Beziehungsaufnahme im Rückblick: Ärztin
Interviewer: | Als die Patientin reinkam? |
Dr. R.: | Da versuch' ich eigentlich möglichst wenig zu denken [lacht], sondern lass' erst mal … wirken. Da mach' ich noch nich' viel. |
Dr. R.: | Was kann ich von ihr erwarten, wie weit wird sie mitmachen? |
Dr. R.: | Der war eigentlich: 'n sympathischer Pummel. [mit Wärme in der Stimme] |
Dr. R.: | Da kam es dann so, dass ich mit mir am Kämpfen war, wie forsch geh' ich an sie ran? … das sind so die Phasen, wo ich denke, „wie sehr hängste dich dahinter?“ oder sagste einfach: „och, das hat doch keinen Zweck“, und dann denk ich: „Ne, bleib dran“! Das gehörte so in diesen Prozess, das is ja was so langsam entsteht, ich weiß es ja nicht plötzlich, dass dann langsam so'n Gebäude entsteht, wo ich denke, gut, dem kann ich so und so viel zutrauen und ich guck' mal, was der dann draus macht. Das is also sicher eher was, was über diesen Verlauf sich aufbaut. Nich' schlagartig, also, es is' selten, dass ich so schlagartig denke: „Jetzt, hier muss es gehen.“ |
Dr. R.: | Ja, ich denke, wer bei jedem kleinen Problem wegläuft, der lässt sich jetzt drei Mal 'nen Zucker machen, dann is' der auch weg. Da kann ich zwar irgendwo auch versuchen, dem zu erklären, dass Zucker gefährlich sein kann, werd' ich auch aus irgend 'ner inneren Verpflichtung heraus tun, aber bin natürlich wesentlich weniger überzeugt, dass das Erfolg hat. |
Dr. R.: | Also, ich wäre sicher in Zweifel gekommen, wenn diese Interaktionen sich nicht so gut entwickelt hätten. Ich hatte für mich das Gefühl, sie versteht, was ich wissen will und was mein Anliegen ist. Das spürt mer irgendwie so, ne. |
Dr. R.: | Ja, is' mir auch ein Indiz … ja, also ich hatte bei ihr weder Bauchschmerzen noch sonstige Muskelverspannungen noch sonst irgendwas gemerkt, ne. … Es ging sehr gut. Ich wurde auch nich' unruhig oder … so, ja bei manchen, wo die Dinge einfach nicht gut laufen, dann krieg' ich dann entweder hier schon mal so'n Drücken im Bauch oder irgendwas oder, ja irgendwie fühle ich mich dann nich' so o. k., ne. |
Kasuistik 4
„Das Außergewöhnliche für mich ist das Alltägliche für ihn“
1.3.2
Fall aufbereiten – Diagnose stellen
Kasuistik 5
„Synkope“ – „Commotio cerebri“ – „Depression“
1.3.3
Vom Einzelfall zum Krankheitsbild zur Indikationsstellung
„Rezepte schreiben ist leicht, aber im Übrigen sich mit den Leuten verständigen, ist schwer.“
Franz Kafka: Der Landarzt
1.3.4
Partizipative Entscheidungsfindung anstreben
Kasuistik 6
Vorhofflimmern – Indikation zur Psychotherapie?
1.3.5
Adhärenz fördern
Kasuistik 7
„Dann wär' ich ja der König?“
15
Die Boston Change Process Study Group (2010) hat retrospektiv Mikroprozesse in Analysestunden untersucht und festgestellt, dass Momente der Begegnung (moments of meeting) ein wirkmächtiges Agens therapeutischer Veränderung sind, welche die Möglichkeit bieten, die intersubjektive Erfahrung in der Dyade neu zusammenzusetzen.
Kasuistik 8
„Warum musste er sterben, warum bist nicht du verreckt?“
„Wie die naturwissenschaftliche Forschung aufwendige Laboratorien und diagnostische Einrichtungen benötigt, so braucht die anthropologische Richtung eine … auf Zusammenarbeit im gleichen Geiste eingestellte Ärztegruppe. … Es bedarf der selbstverständlichen Unterstützung durch einen in gleicher Gesinnung verbundenen Kreis …“
Karl Matthes (1962)
1.4
Integrierte Medizin gemeinsam realisieren
1.4.1
Kooperation in der klinischen Praxis
1.4.2
Solidarität und Wandel im sozialen Feld
1.4.3
Im „Widerstreit“ mit der Gesundheitswirtschaft
Die Orientierung an Effizienz und Wettbewerb, der Einsatz lebensferner Finanzprodukte, der Einfluss von Globalisierung, Digitalisierung und Virtualisierung drohen zum Verlust sozialer Nähe, zum Erleben von Entfremdung und Verdinglichung in der Versorgung zu führen. Sie lässt befürchten, dass „Patienten“ zu „Kunden“ konvertiert werden und ihnen als „Konsumenten“ das Produkt „Gesundheit“ angeboten wird.
1.5
Persönliche Erfahrungen
1.5.1
Herausforderungen
Kasuistik 9
Visite: Zuhören oder selbst sehen?
1.5.2
Aus- und Fortbildung
Balint-Gruppenarbeit ist fester Bestandteil psychotherapeutischer Weiterbildung und der Fortbildung zur Zulassung zur „Psychosomatischen Grundversorgung“ („Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung“). Videoaufnahmen und Rollenspiel können helfen, die jeweils geschilderte Situation zu vergegenwärtigen.
Kasuistik 10
„Ausgelaugt, verschaukelt, Mülleimer“: Entwicklung metakognitiver Kompetenz
Rollenspiel 1
Ä: | Was für Beschwerden haben Sie? [Fokus auf „Beschwerden“] |
P: | Mir geht's schlecht. Das ist schon eine lange Geschichte. Hab' hier oft Schmerzen [zeigt auf ihre Brust], kriege so Panik zu Hause, dass ich umfalle und sterbe. Weil ich ganz allein bin. Geh dann raus und fahre mit dem Rad. Deswegen bin ich auch in Behandlung, in der Klinik. |
Ä: | Was für 'ne Klinik? [Informationsfrage, führt von Patientin weg] |
P: | [Nennt Name der Klinik] Dort krieg ich auch Medikamente, aber die helfen nicht. Und da werde ich auch ganz dick von. |
Ä: | Seit wann fühlen Sie sich krank? [Zeitfrage, berücksichtigt Klage nicht] |
Rollenspiel 2
Ä: | Was führt Sie zu mir? [Fokus offener, schließt Beziehungsaufnahme ein] |
P: | Das ist 'ne lange Geschichte. Hab hier oft Schmerzen in der Brust und im Arm, kriege dann immer so Beklemmungen zu Hause. Hab so Angst vor 'nem Herzinfarkt, dass ich allein sterbe zu Hause. Ich geh dann immer raus mit dem Fahrrad. |
Ä: | So eine starke Angst ist das, allein? [Empathische Antwort, verbindet und betont Emotion und soziale Situation] |
P: | Ja, sehr. Ich muss dann immer unter Menschen, um mich zu beruhigen. Zu Hause halte ich das so allein eben nicht aus. Bin auch in einer Klinik in Behandlung, da krieg ich auch Tabletten. Die machen immer dicker, sonst ändert sich gar nichts. |
Ä: | Sonst ändert sich gar nichts? [Reflexionsfrage (Typ Echo) nimmt Frustration auf] |
1.5.3
Zufriedenheit im Beruf
„Glück entspringt der Freude dessen, der tun kann, was er gern tut, was er gut kann, und der dies so vollkommen wie möglich tut.“
G. H. von Wright (1963)
Arztäußerungen nach der Fortbildung
-
•
Ich kann jetzt mehr aus den Patienten hervorlocken. Integrierte MedizinAus-, Weiter- und Fortbildung
-
•
Die Fälle haben eine größere Vielfalt.
-
•
Die Erzählungen der Patienten, ihre Schicksale interessieren mich wieder.
-
•
Ich kann mir alles besser merken, weil es zusammenhängt.
-
•
Mir fällt alles wieder ein, ohne es aufzuschreiben.
-
•
Ich habe weniger Angst, gehe ruhiger in Gespräche.
-
•
Ich fühle mich von den Patienten weniger ausgenutzt.
-
•
Ich werde viel besser fertig.
-
•
Ich bin viel gelassener.
-
•
Ich kann nach der Arbeit einen schöneren Feierabend machen.
Kasuistik 11
„Ende eines anstrengenden Tages in der Sprechstunde“1616
Ich danke Frau Dr. med. Aglaja Sedelmeier, Köln, für die Überlassung dieser „Fall“-Geschichte.
16
Ich danke Frau Dr. med. Aglaja Sedelmeier, Köln, für die Überlassung dieser „Fall“-Geschichte.
www.netmediaviewer.de | |
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Thure von Uexküll: Biographie |
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Thure von Uexküll (Vortrag): Placebo – Die Gretchenfrage der Medizin |
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Thure von Uexküll: Freiburger Interview |
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Maximiliane Mainka: „Wer will schon krank sein auf der Welt?“ – Dokumentarfilm, Ulmer Modellstation |
Literaturauswahl
Altmeyer and Thomä, 2010
Bergmann et al., 2014
Hofer, 2014
Krais and Gebauer, 2014
Lewis, 2007
Liszka, 2013
Scheurer et al., 2009
Schneider, 1989
Tomasello, 2014
Wieland, 1975/2004