Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass psychische und physiologische Prozesse sich wechselseitig bedingen und regulieren. Die physiologische Aufrechterhaltung der körperlichen Funktionsfähigkeit, die sich z. B. durch die Kalorienzufuhr zur Deckung des Grundumsatzes oder einer Mindestschlafdauer objektivieren lässt, kann mit einem psychischen Equilibrium einhergehen, da körperliche Grundfunktionen und damit Grundmotive wie z. B. Hunger befriedigt sind. Somit werden regulatorische Prozesse wie die Aufnahme von Nahrungsmitteln als Folge von Hunger einerseits motivational und damit durch psychische Prozesse, andererseits durch eine Vielzahl endokriner, immunologischer, zentral- und periphernervöser Mechanismen beeinflusst. Auf endokriner Ebene führt u. a. das orexigene Hormon GhrelinGhrelin, dessen Konzentration vor der NahrungsaufnahmeNahrungsaufnahmeperiphere/zentrale Regelkreise am höchsten ist, zu einer Stimulation von Neuropeptid Y und Agouti-Related Protein (AgRP) im Ncl. arcuatus. Gegenregulatorisch kommt es zu einer inhibitorischen Wirkung auf die Nahrungsaufnahme u. a. durch das Peptid YYPeptid YY (PYY 3–36), das in verschiedenen Darmabschnitten produziert wird. Die Konzentration an PYY 3–36 variiert proportional zum Energiewert der aufgenommenen Nahrung, d. h., sie ist bei fettreichen Speisen höher als nach proteinreicher Nahrung (Drobnjak und Ehlert 2010). Bestehen physiologische Abweichungen vom gesunden Körpermilieu wie ein erhöhtes Körpergewicht in Relation zu Körpergröße (AdipositasAdipositasDysregulation, psychologische und physiologische), liegt eine psychologische und physiologische Dysregulation vor. Diese kann sich bei der Adipositas physiologisch u. a. durch erhöhte Ghrelinspiegel aufgrund von erfolglosen Diäten (Cummings et al. 2002) und psychisch durch einen Kontrollverlust bei der Nahrungsaufnahme oder einschlägige Lernerfahrungen mit einer Präferenz hochkalorischer Nahrungsmittel äußern (Platte und Meule 2016).
Regulation, Gegenregulation und Dysregulation physiologischer Prozesse sind deshalb für das Verständnis psychosomatischer Prozesse grundlegend, weil sich nur bei Berücksichtigung der Interaktion und Veränderung beider Systeme, also psychischer und physiologischer Vorgänge, Gesundheit, Gesundheitsabweichungen und manifeste Erkrankungen erklären lassen.
7.1.1
Physiologische Bedeutung regulativer Prozesse
Physiologische Regulationsprozessephysiologische BedeutungEine der Herausforderungen endokriner Substitution besteht bei pathologischen Vorgängen in der Qualität der Imitation physiologischer Prozesse. Liegt z. B. bei einem Patienten ein insulinpflichtiger DiabetesDiabetes mellitusinsulinpflichtiger vor, so besteht eine der Adhärenzschwierigkeiten darin, dass der Betroffene ein besonders gutes Verständnis für den Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme und notwendiger hormoneller Substitution (Selbstverabreichung von Insulin) benötigt. Im gesunden Organismus führt die Aufnahme von Nahrungsmitteln zu einer Kaskade von zentralnervösen und peripheren, quasi automatisch ablaufenden Anpassungsleistungen, die neben der erlebten Sättigung zur Aufrechterhaltung der körperlichen Funktionsfähigkeit beitragen. Bei der Behandlung des Diabetes muss in diesen Regulationsprozess substituierend eingegriffen werden, um die physiologische Reaktion auf die Nahrungsaufnahme gewährleisten zu können. Die Qualität der gesunden Regulation physiologischer Prozesse wird dabei von dispositionellen Voraussetzungen, Verhaltensmerkmalen, stabilen und volatilen psychischen und soziokulturellen Merkmalen beeinflusst.
7.1.2
Moderatoren physiologischer Regulationsprozesse
Genetische Merkmale
Physiologische RegulationsprozesseModeratorenPhysiologische Regulationsprozessegenetische MerkmaleDie Bedeutung der genetischen Ausstattung eines Menschen für die physiologische Reagibilität unter Ruhe- und Belastungsbedingungen lässt sich einerseits mittels der genetischen Merkmale anhand von genomweiten Assoziationsstudien zur Erfassung spezifischer Polymorphismen und andererseits mittels epigenetischer Veränderungen wie Methylierung oder Histonmodifikationen infolge adaptiver Prozesse an die Lebensbedingungen abschätzen (Ehlert et al. 2013). In der Ursachenforschung z. B. zur Adipositas, die nachweislich kardiovaskuläre Erkrankungen, Typ-2-Diabetes und gewisse Krebserkrankungen begünstigt, wurde eine Vielzahl von krankheitsspezifischen Single-Nucleotide-Polymorphismen (SNPs)Single-Nucleotide-Polymorphismen (SNPs) auf verschiedenen Genen gefunden. Interessanterweise sind diese genetischen Merkmale jedoch nicht mit der Adipositas per se assoziiert, sondern mit spezifischen anthropometrischen Maßen wie z. B. der Waist-to-Hip-Ratio (WHR) oder dem Taillenumfang. Zu dieser Fragestellung wurden in einer Metaanalyse der Daten aus 22 Polymorphismenstudien 50 000 SNPs von 2 100 Genen untersucht. Dabei konnten erstens Unterschiede bei bereits bekanntem WHR- oder Taillenumfang-assoziierte Polymorphismen bestätigt werden, und zweitens fand sich ein eindeutiger geschlechtsspezifischer Effekt nur für Frauen. Allerdings zeigte sich auch eine Gen-Gen-Interaktion von mehr als 300 Genen (Yoneyama et al. 2014), was die Interpretation der genetischen Befunde deutlich erschwert.
Als Folge von kardiovaskulären Erkrankungen, Gestationsdiabetes, Adipositas oder Mangelernährung bei schwangeren Frauen lassen sich bei den Nachkommen als epigenetische Phänomene eine Hyper- oder Hypomethylierung in mehr als 5 000 Genen, die mehrheitlich mit dem Glukosemetabolismus und Inflammation assoziiert sind, nachweisen (El Hajj et al. 2014).
Für regulatorische Prozesse physiologischer Systeme sind sicherlich genetische Besonderheiten zu berücksichtigen. Allerdings ist der aufklärende Varianzanteil an der Verursachung pathophysiologischer Prozesse deutlich geringer als zu Beginn dieses Jahrtausends vermutet und die Gen-Gen-Interaktion noch weitgehend unerforscht. Epigenetische Prozesse nehmen per se keinen Einfluss auf die genetische Konstellation, sondern beeinflussen die Funktionsweise wie die Genexpression. Hier findet sich eine Reihe von bahnbrechenden Studien, bei denen SNP-Analysen, Methylierungsmuster spezifischer Genabschnitte, lebensgeschichtliche Variablen wie Traumatisierung oder aversive Lebensbedingungen in der Kindheit kombiniert erhoben wurden und pathophysiologische Mechanismen für Subgruppen von Patienten mit z. B. einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder Depression aufgezeigt werden konnten (Klengel et al. 2013). Kritisch anzumerken ist, dass derzeit die epigenetischen Messmethoden in den verschiedenen Laboratorien nur bedingt reliabel sind und bisher unbekannt ist, ob z. B. pränatal erworbene Hyper- oder HypomethylierungenEpigenetik/epigenetische MechanismenHyper-/Hypomethylierung durch veränderte Umweltbedingungen reversibel sind.
Biologische Moderatoren
Physiologische RegulationsprozesseModeratorenEine Vielzahl biologischer Variablen beeinflusst die Anpassungsleistung an Umweltbedingungen. Es steht außer Zweifel, dass Geschlechts- und Altersmerkmale auf die physiologische Verarbeitung von externen Reizen Einfluss nehmen. So sind Frauen aufgrund der endokrinen Variation und der gesamthaft erhöhten Östrogensekretion über den Lebenszyklus hinweg bis zur Menopause vor kardiovaskulären ErkrankungenKardiovaskuläre Erkrankungenbiologische Moderatoren besser geschützt als Männer, jedoch hebt sich dieser Vorteil nach der Menopause auf. Auch erhöhen schwangerschaftsabhängige Erkrankungen wie Präeklampsie oder Gestationsdiabetes das Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung (Appelman et al. 2015), wobei beide schwangerschaftsbedingten Erkrankungen in einer engen Beziehung zu psychosozialen BelastungenBelastungenAnpassungsleistungen, physiologischeBelastungenpsychosoziale stehen (Silveira et al. 2014; Yu et al. 2013).
Bei biologischen Moderatoren psychophysiologischer Prozesse ist davon auszugehen, dass mehrere Merkmale durch ihre Interaktion spezifische gesundheits- oder krankheitsbezogene Wirkungen zeigen. Eine gute parasympathische Regulation, die z. B. durch die Aktivität des Vagusnervs auf das kardiale System abgebildet werden kann, geht mit einer hohen subjektiv und objektiv messbaren Schlafqualität einher (
Werner et al. 2015). Eine Störung der zirkadianen Rhythmik
Zirkadianer RhythmusStörungen, wie sie bei Schichtarbeitern gegeben ist, führt jedoch zu einer Abnahme der parasympathischen Aktivität und ist mitverursachend für kardiovaskuläre Erkrankungen (
Lee et al. 2015). So zeigte sich, dass eine reduzierte vagale Aktivität (erniedrigte Herzratenvariabilität) mit einem verlangsamten Absinken des diastolischen Blutdrucks, des Kortisols und proinflammatorischer Biomarker nach akuter psychosozialer Belastung einhergeht (
Weber et al. 2010) (
Abb. 7.5).
Verhaltensmerkmale und Stressbewältigung
Physiologische RegulationsprozesseVerhaltensmerkmalePhysiologische RegulationsprozesseStressbewältigungUngünstige Effekte auf physiologische Prozesse infolge einer Störung der zirkadianen Rhythmik sind nicht nur bei Schichtarbeitern oder bei Flugreisenden über mehrere Zeitzonen hinweg zu beobachten, sondern auch im Zusammenhang mit social jet lag. Diese Form des JetlagsJetlagsozialer bezieht sich auf Personen, die aufgrund ihrer individuellen Chronobiologie zu den Spätaufstehern und Nachtmenschen gehören, infolge ausbildungsbedingter, beruflicher oder familiärer Pflichten morgens jedoch früh aufstehen müssen. Bei nicht wenigen dieser Personen kommt es zu einem chronischen Schlafmangel (< 6 h pro Nacht), wodurch das Risiko eines Diabetes mellitusDiabetes mellitusSchlafmangel, chronischer deutlich erhöht ist (Larcher et al. 2015). Im Ncl. suprachiasmaticus des Hypothalamus, der als „Zeitgeber“ via Lichtexposition wirkt, erfolgt die Expression der sog. Clock-GeneClock-Gene. Diese beeinflussen u. a. die zirkadiane Rhythmik des Kortisols, und umgekehrt beeinflusst ein Kortisolanstieg infolge psychosozialer Stressexposition die Genexpression (Abbruzzese et al. 2014). Eine Beurteilung gesundheitsbezogenen Verhaltens wie dem Schlaf ist also von unterschiedlichsten biologischen und verhaltensbezogenen Merkmalen abhängig und stellt ein gutes Beispiel für die Multikausalität psychosomatischer Prozesse dar.
Anpassung(sreaktion)physiologischeStressStressbewältigung/-managementphysiologische AnpassungVerhaltensmerkmale umfassen körperliche Aktivierung wie Alltagsbewegung oder Sport, Ernährungsverhalten, den Konsum psychotroper Substanzen, das Sozialverhalten und das Ausmaß an erlebter sozialer Unterstützung oder den sozioökonomischen Status. Besondere Bedeutung für die Regulation physiologischer Prozesse besitzt die Fähigkeit zur Anpassung an akuten und chronischen Stress sowie Traumata, welche unten genauer beschrieben werden. Die Bewältigung individuell erlebter Belastungen und damit die physische Konstitution wird jedoch auch von psychischen Merkmalen beeinflusst, die im Folgenden exemplarisch aufgezeigt werden.
Stabile psychische Merkmale
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass PersönlichkeitsmerkmalePersönlichkeitsmerkmalephysiologische Anpassung, aber auch das Ausmaß an Intelligenz oder Spiritualität als relativ stabile Konstrukte anzusehen sind, die den psychophysiologischen Anpassungsprozess an die jeweiligen Lebensbedingungen beeinflussen. So wurde z. B. das Kontinuum von NegativismusNegativismus zu OptimismusOptimismus mit einer Vielzahl physiologischer Anpassungsleistungen in Beziehung gesetzt. Neuere Befunde sprechen dafür, dass es einen indirekten Effekt von Optimismus auf günstige Gesundheitsentwicklungen gibt. So wird die Überlebenszeit bzw. Rezidivrate bei Krebserkrankungen nicht direkt durch Optimismus beeinflusst, sondern eine optimistische Grundeinstellung fördert die Sinnfindung im Leben mit einer Krebserkrankung, und diese steht in einer positiven Relation zu verschiedenen Biomarkern (Pascoe und Edvardsson 2013).
Stressbewältigung/-managementResilienzIm Kontext von Optimismus ist das
Resilienzkonstrukt
Resilienz(entwicklung)Stresbewältigung zu betrachten, das als die Fähigkeit zum Erhalt psychischer Belastbarkeit und innerer Stärke beschrieben werden kann (
Bonanno et al. 2011). Auch bei diesem Konstrukt ist davon auszugehen, dass es einen indirekten Vermittlungsweg zwischen psychischer Widerstandfähigkeit und physischer Stabilität gibt. So konnten wir in einer Untersuchung an jungen gesunden Frauen ohne Einnahme oraler Kontrazeptiva zeigen, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen subjektiv erlebtem Stress und der Regelmäßigkeit des Menstruationszyklus gibt, dass ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Merkmalen jedoch dann gegeben ist, wenn das Ausmaß an Resilienz als Moderator in die Datenanalyse einbezogen wird. Das heißt, die Zyklusregelmäßigkeit wird nur dann beeinträchtigt, wenn hoher Stress bei niedriger Resilienz vorliegt (
Palm und Ehlert 2014).
Anpassung(sreaktion)physiologischeEmotionsregulationEmotionsregulationEmotionsregulation stellt eine weitere bedeutsame Einflussgröße der physiologischen
BelastungenAnpassungsleistungen, physiologischeAnpassungsleistung auf Belastungssituationen dar (
Gross 1998). Das Konstrukt dient der Erfassung von Strategien zur emotionalen Up- oder Downregulation und zeigt Effekte auf unterschiedlichste Biomarker. So konnten z. B. die Gesichtsmuskulatur und ereigniskorrelierte Potenziale im EEG durch die Wahl der jeweiligen Emotionsregulationsstrategie manipuliert werden (
Baur et al. 2015). In Abhängigkeit von der emotionalen Bewältigungsstrategie wie der hedonistischen Emotionsregulation lassen sich übermäßige physiologische Stresseffekte bei akutem Stress dämpfen, wobei dieser Effekt nicht nur bei Normo-, sondern auch bei medikamentös unbehandelten Hypertonikern zu beobachten ist (
Wirtz et al. 2006a).
Soziokulturelle Faktoren
Anpassung(sreaktion)physiologischesoziokulturelle FaktorenFrühe LebenserfahrungenLebenserfahrungen, frühe, die u. a. durch sozioökonomische Verhältnisse und das elterliche Verhalten beeinflusst werden, haben nachweislich langanhaltende psychophysiologische und epigenetische Konsequenzen für Gesundheit und KrankheitKrankheitfrühe LebenserfahrungenGesundheitfrühe Lebenserfahrungen. Kulturelle Besonderheiten wie die aversiven epigenetischen Effekte des niederländischen Hungerwinters im Zweiten Weltkrieg auf die Nachkommen stellen ein Beispiel für die dramatischen Konsequenzen von Mangelernährung bei Schwangeren dar (Tobi et al. 2014; Kap. 3.1.8).
Die Bedeutung einer stabilen familiärenFamilienbedingungen/-beziehungenAnpassungsleistungen, physiologische Struktur für das seelische Wohlbefinden der Ehepartner und Kinder wird von der Art des Zusammenlebens beeinflusst. In einer Stichprobe von türkischen Frauen, die sich in einer monogamen oder einer polygamen Ehe befanden, wurde gerade für die älteren Frauen der polygamen Partnerschaften eine deutlich erhöhte depressive Gestimmtheit gefunden (Özer et al. 2015). Die Partnerschaftsqualität scheint jedoch auch in monogamen Beziehungen einen moderierenden Effekt auf Pathophysiologien zu nehmen. So werden Merkmale des metabolischen Syndroms wie Hüftumfang, Blutdruck, Triglyzeride, HDL-Cholesterin nicht direkt durch die Partnerschaftsqualität, jedoch indirekt durch den moderierenden Effekt depressiver Gestimmtheit bei männlichen und weiblichen Partnern beeinflusst (Henry et al. 2015). Kinder zeigen körperliche (z. B. reduzierte Immunfunktion) und seelische Fehlanpassungen (Verhaltensauffälligkeiten) infolge elterlicher Konflikte, weniger aufgrund einer erfolgten Scheidung als vielmehr aufgrund der vorausgehenden familiären Belastungen wie elterliche Konflikte, inkongruenter Erziehungsstil, psychopathologische Auffälligkeiten der Eltern und nachfolgenden Belastungen wie einer sozioökonomischen Verschlechterung (Nunes-Costa et al. 2009).
Resümee
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass physiologische Prozesse durch eine Vielzahl Anpassung(sreaktion)physiologischebiologische Moderatorenbiologischer, psychologischer und soziokultureller Faktoren beeinflusst werden. Die Herausforderung der psychosomatischen Forschung und der praktischen Arbeit besteht darin, theoriegeleitet experimentelle Untersuchungsstrategien einzusetzen, um die wechselseitige Beeinflussung und die Effekte oben skizzierter Faktoren in ihrer Bedeutung adäquat abbilden zu können.