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Biopsychosoziales ModellBiopsychosoziales ModellKHK-Genese zur KHK-Genese (nach Herrmann-Lingen 2000) Koronare Herzkrankheit (KHK)biopsychosoziales Modell
[L106]

Überblick über die wichtigsten somatischen, verhaltensbezogenen und psychosozialen Risikofaktoren in der Ätiologie der Koronare Herzkrankheit (KHK)psychosoziale RisikofaktorenKoronare Herzkrankheit (KHK)verhaltensbezogene RisikofaktorenKoronare Herzkrankheit (KHK)somatische RisikofaktorenKHK (Piepoli et al. 2016)Hypertoniearterielle
Somatische Risikofaktoren | Verhaltensbezogene Risikofaktoren | Psychosoziale Risikofaktoren |
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Strategien zur Verbesserung der Effektivität von Beratungen zur Lebensstil Verhaltensumstellung
Herzinfarkt(patienten) Lebensstiländerung
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1.
Entwickeln Sie eine tragfähige therapeutische Beziehung.
-
2.
Beraten Sie alle Patienten.
-
3.
Stellen Sie sicher, dass Ihre Patienten den Zusammenhang zwischen Verhalten und Gesundheit verstehen.
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4.
Unterstützen Sie Ihre Patienten, eigene Barrieren zur Verhaltensumstellung zu erfassen.
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5.
Streben Sie eine verbindliche Übereinkunft mit Ihren Patienten zur Verhaltensumstellung an.
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6.
Beteiligen Sie Ihre Patienten an der Identifizierung und Auswahl der zu verändernden Risikofaktoren.
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7.
Verwenden Sie für die Umstellung eine Kombination aus verschiedenen Strategien inkl. Verstärker der eigenen Ressourcen des Patienten.
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8.
Gestalten Sie mit den Patienten einen Plan, wie und wann sie ihr Gesundheitsverhalten umstellen wollen.
-
9.
Verfolgen Sie die Umsetzung mittels fester Wiedervorstellungstermine.
-
10.
Involvieren Sie andere medizinische Berufsgruppen, wo immer es sinnvoll und machbar ist.
Koronare Herzkrankheit
-
78.1
Biopsychosoziale Aspekte zur Ätiologie und Pathogenese Christian Albus und Christoph Herrmann-Lingen865
-
78.2
Krankheitsverarbeitung und Psychotherapie nach Herzinfarkt Christian Albus und Karl Köhle877
78.2.1
Einfluss psychosozialer Faktoren auf den Krankheits- und Rehabilitationsverlauf877
78.2.2
Ein psychodynamischer Verständnisansatz für emotionale Reaktionen auf das Infarktereignis879
78.2.3
Psychotherapeutische Behandlungsansätze bei Patienten nach Herzinfarkt882
78.2.4
Psychosomatische Grundversorgung884
78.2.5
Analgetika und Psychopharmaka886
78.2.6
Schlussfolgerungen887
Biopsychosoziale Aspekte zur Ätiologie und Pathogenese
Dieses Koronare Herzkrankheit (KHK)biopsychosoziale AspekteKapitel konzentriert sich inhaltlich auf die biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren, die mit der Entwicklung und dem Verlauf einer koronaren Herzkrankheit (KHK) verknüpft sind. Empfehlungen zum therapeutischen Vorgehen unter psychosomatischen Gesichtspunkten werden in Kap. 78.2 dargestellt.
Patientengeschichte
Herzinfarkt(patienten)Ein 57-jähriger Schriftsetzermeister verspürt an einem Wochentag gegen 17 Uhr ein heftiges, schmerzhaftes Beklemmungsgefühl, das reifenförmig den Brustkorb umfasst und über 10 Minuten anhält. Nachdem es abgeklungen ist, fährt er mit dem eigenen Wagen zu seinem Sohn, um ihm beim Umzug zu helfen. Bei dieser Arbeit treten wieder die gleichen Beschwerden auf, diesmal von Schweißausbrüchen begleitet. Nach erneutem Abklingen begibt er sich nach Hause, wo er ein heftiges Stechen und Druckgefühl über der linken Brustseite verspürt, das in den linken Arm ausstrahlt und nicht mehr verschwindet. Die Ehefrau benachrichtigt den Hausarzt, der den Patienten mit dem Verdacht auf einen Herzinfarkt notfallmäßig in die Klinik einweist. Dort wird die Diagnose anhand des EKGs und aufgrund ansteigender Enzymwerte bestätigt.
Der Pat. ist das ältere von zwei Kindern. Die Mutter verstarb 72-jährig an einem Schlaganfall. Der Vater war Eisengießer, der 44-jährig nach 18-monatiger Bettlägerigkeit an „Nervenentzündung“ verstarb; der Pat. war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Der Vater sei ein fleißiger, strebsamer, sehr angesehener Mann gewesen, der ihn streng, aber gerecht erzogen habe. Der 2 Jahre jüngere Bruder sei immer der weichere gewesen. Er selbst sei seit 30 Jahren verheiratet und habe einen 27-jährigen Sohn. Er arbeite seit 25 Jahren als Schriftsetzer im gleichen Betrieb, in den letzten 15 Jahren als Abteilungsleiter. Er erlebe sich als korrekten Vorgesetzten, der viel Wert darauf lege, dass im Betrieb alles wie am Schnürchen laufe. Dabei habe er häufig das Gefühl, vieles würde nicht klappen, wenn er nicht selbst hinter allem her sei. Seine ganze Liebe gelte nach Feierabend seinem handwerklichen Hobby, das er sehr genau und sorgfältig ausführe.
Vor 1½ Jahren sei er als Leiter in eine andere Abteilung versetzt worden, wo er häufig kurzfristig angesetzte Termine einhalten müsse. Seit dieser Zeit seien bei Aufregungen Druck auf der Brust und Magenbeschwerden aufgetreten. Während der letzten 3 Monate vor dem Infarkt sei er einer außerordentlichen Terminhetze ausgesetzt gewesen. Er habe z. T. bis zu 60 Stunden in der Woche gearbeitet und sei im Betrieb, aber auch zu Hause immer reizbarer geworden. Zusätzlich habe er einen schweren grippalen Infekt bekommen, von dem er sich seinem Eindruck nach nicht mehr richtig erholt habe. Er habe sich zunehmend müde gefühlt, sein Körper sei „wie eine Batterie gewesen, die keinen Saft mehr hat“.
78.1.1
Historische Vorbemerkungen
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•
Spezifische, durch Erbfaktoren und eine individuelle Lerngeschichte bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, die Herzinfarkt(patienten)Persönlichkeitsmerkmalesich in Arbeitseifer, Ehrgeiz, Verantwortungsbewusstsein und Dominanzstreben ausdrücken.
-
•
Diese Persönlichkeitsmerkmale führen zu zwischenmenschlichen Herzinfarkt(patienten)KonflikteKonfliktsituationen in Familie und Beruf, die als eigentlicher Stressor dem Infarkt unmittelbar vorausgehen.
-
•
Hinzu kommt, dass die Betroffenen ihren Herzinfarkt(patienten)innere SpannungÄrger oder ihre Niedergeschlagenheit nicht offen zeigen; sie verbergen vielmehr ihre Gefühle, geben sich einen optimistischen oder gleichgültigen Anschein und verleugnen die innere Spannung.
Resümee
Mittlerweile darf es als gesichert gelten, dass psychosoziale Faktoren einen wesentlichen Einfluss auf die Genese und den Verlauf der KHK haben.
Von entscheidender Bedeutung für die beginnende Akzeptanz dieser Befunde – auch durch „somatisch“ ausgerichtete Wissenschaftler – waren jedoch die vor allem in den letzten 30 Jahren publizierten Erkenntnisse über das missing link, die psychophysiologischen Prozesse und Verhaltensmerkmale, über die bestimmte psychosoziale Faktoren mit der KHK verknüpft sind. Auch wenn hier noch viele Fragen offen sind, spricht mittlerweile hochwertige Evidenz für das Vorliegen plausibler Mechanismen, durch die ein gesteigertes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen vermittelt wird.
78.1.2
Epidemiologie und sozioökonomische Bedeutung
78.1.3
Klinisches Bild
78.1.4
Ätiologie und Pathogenese
Das Risikofaktorenmodell
Die Kombination einzelner Risikofaktoren führt jedoch nicht zu einer Addition der Einzelrisiken, sondern zu einer Potenzierung des Risikos.
Somatische Risikofaktoren
Verhaltensbezogene Risikofaktoren
Psychosoziale Risikofaktoren
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•
Niedriger sozioökonomischer Status
-
•
Soziale Isolation bzw. Mangel an sozialer Unterstützung
-
•
Psychosozialer Stress am Arbeitsplatz oder in der Familie
-
•
Depressivität und Angst(störungen)
-
•
Maladaptive Persönlichkeitsmerkmale wie Feindseligkeit, Neigung zu Ärger oder die Typ-D-Persönlichkeit
Resümee
Zusammenfassend scheint ein niedriger sozioökonomischer Status eher ein Indikator als ein eigenständiger Risikofaktor für ein erhöhtes KHK-Risiko zu sein. Vor allem ist noch relativ wenig über die vermittelnden pathogenetischen Mechanismen bekannt, wenngleich sich abzeichnet, dass sowohl Merkmale der geringeren Inanspruchnahme medizinischer Betreuung als auch anerkannte Faktoren wie ungünstiges Gesundheitsverhalten und erhöhtes Stresserleben (möglicherweise in Verbindung mit psychischen Merkmalen wie Depressivität oder Feindseligkeit) eine Rolle spielen.
Aufgrund einer Vielzahl von experimentellen und klinischen Studien ist gesichert, dass akuter Stress bei KHK-Patienten myokardiale Ischämien, lebensbedrohliche Arrhythmien und strukturelle Defekte bis hin zu Rupturen atherosklerotischer Plaques mit der Konsequenz eines Myokardinfarkts auslösen kann (Kop 1999; Rozanski et al. 2005).
Resümee
Zusammenfassend ergibt sich damit möglicherweise zumindest bei einem Teil der Patienten ein typisches Muster: Die ausgeprägte Orientierung an äußeren Anforderungen führt bei gleichzeitig latent hoher Ärgerbereitschaft unter entsprechenden auslösenden Bedingungen akut zu einer massiven Stressreaktion.
StressJobstrain-ModellDas Jobstrain-Modell (Karasek 1979) definiert das Erleben von Stress am Arbeitsplatz als ein Missverhältnis zwischen hoher Anforderung (high demand) und niedriger Kontrolle über wesentliche Entscheidungsprozesse (low control).
Das Modell der beruflichen GratifikationskriseStressModell der beruflichen Gratifikationskrise (Siegrist et al. 1990) legt den Akzent auf das Verhältnis zwischen Verausgabung und Belohnung im Erwerbsleben. Es postuliert, dass chronischer Stress am Arbeitsplatz als Resultat eines Missverhältnisses zwischen persönlich und/oder situativ bedingter hoher Verausgabung bei gleichzeitig niedriger Belohnung (Einkommen, Anerkennung, Sicherheit/Aufstiegschancen) gesehen werden kann (effort-reward imbalance).
-
•
Zum einen sind sie mit denen vergleichbar, die bei akutem Stress ablaufen (i. e. Aktivierung der SAM- und HPA-Achse); allerdings sind die Effekte (z. B. Steigerung von Herzfrequenz und Blutdruck etc.) im Durchschnitt weniger ausgeprägt, werden dafür aber repetitiv wirksam und geben möglicherweise Anlass zu dauerhaften Veränderungen (Rozanski et al. 2005; Chandola et al. 2008).
-
•
Zum anderen wurde die bei einer Untergruppe beobachtbare Erschöpfung der Kortisolreaktion mit einer Zunahme der arteriellen Entzündungsprozesse in Verbindung gebracht (Näheres zu diesem Punkt s. im Abschnitt über Depression).
Unter pathogenetischen Gesichtspunkten ist wesentlich, dass eine depressive Symptomatik kardiale Ereignisse unabhängig von „stabilen“ klinischen Risikomarkern wie (stabiler) Angina pectoris, Verminderung der linksventrikulären Ejektionsfraktion oder des angiografischen Koronarstatus vorhersagt (Rozanski et al. 2005). Dies legt nahe, dass Depressivität eher mit „dynamischen“ Anteilen der kardialen Risikoerhöhung verknüpft ist.
1
Ballondilatation der Koronarien
Resümee
Zwei neuere Metaanalysen zeigten zusammenfassend, dass erhöhte Ängstlichkeit und Angststörungen das Risiko für die Inzidenz der KHK um den Faktor 1,5 erhöhen (Roest et al. 2010a) und die Prognose nach einem Herzinfarkt um den Faktor 1,5–1,7 verschlechtert ist (Roest et al. 2010b).
Zudem kann mäßige Angst die Motivation zur Risikofaktorenkontrolle steigern und durch angemessene Arztbesuche eine frühzeitige Diagnostik und Behandlung ermöglichen. Deshalb spricht angesichts der derzeitigen Evidenz vieles dafür, bei bestehender KHK eine leicht erhöhte Ängstlichkeit („Besorgnis“) von pathologischer Angst bis hin zu Angststörungen zu unterscheiden (Näheres dazu s. Kap. 78.2.3).
Akuter Ärger vermag sogar Myokardischämien bzw. einen Herzinfarkt auszulösen. Das Risiko eines Myokardinfarkts ist bei KHK-Patienten generell 2 h nach einer Ärgerepisode signifikant erhöht (Mittleman et al. 1995; Möller et al. 1999).
Resümee
Hinsichtlich möglicher pathogenetischer Faktoren ist anzunehmen, dass dieses „breite“ Konstrukt einer übergreifenden Persönlichkeitsvariable sein gesteigertes Risiko über ähnliche Mechanismen vermittelt wie die Einzelfaktoren Depression/vitale Erschöpfung, Angst und FeindseligkeitKoronare Herzkrankheit (KHK)vitale Erschöpfung. Studien, die dies speziell für die Typ-D-Persönlichkeit prüfen, liegen jedoch noch nicht vor.
Ein integriertes Modell zur Ätiopathogenese der KHK
Damit erscheint die KHK in ihren verschiedenen klinischen Gestalten als somatische Endstrecke eines komplexen Gefüges pathogenetischer Mechanismen. Dabei kann man in Bezug auf die Auswirkungen der skizzierten Risikofaktoren grob zwischen langfristigen Prozessen (z. B. somatische Risikofaktoren, chronischer Stress, ungünstiges Gesundheitsverhalten und langsamer Progress der KHK), mittelfristigen Prozessen (z. B. Depression/vitale Erschöpfung und zunehmende Entzündung) und akuten Prozessen (z. B. akuter Ärger und Plaqueruptur) unterscheiden (Kop 1999).
-
•
Ausgehend von der individuellen genetischen Ausstattung, die in Wechselwirkung mit frühen Beziehungserfahrungen und sozialem Status sowohl biologische (z. B. Dyslipoproteinämie, Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie) als auch psychische Faktoren (z. B. Temperament, Ehrgeiz, Irritabilität) determiniert, wird die einem kardialen Ereignis häufig vorausgehende Depressivität/vitale ErschöpfungKoronare Herzkrankheit (KHK)vitale Erschöpfung als Dekompensation psychosozialen „Risikoverhaltens“ (z. B. Typ-A-Muster) verstanden, das sich als Abwehr einer narzisstischen Problematik entwickelt hatte.
-
•
Parallel dazu fördern Gruppennormen ein schädliches Gesundheitsverhalten (z. B. Rauchen, Fehlernährung, Bewegungsmangel), das zusammen mit den beschriebenen mittelfristigen psychophysiologischen Prozessen das Auftreten von entzündlichen Plaques und/oder Koronarstenosen befördert.
-
•
Maladaptive Selbst- und Beziehungsregulierung, Gratifikationskrisen oder Mangel an sozialer Unterstützung begünstigen im weiteren Verlauf das Auftreten situativer psychischer Dekompensationen (z. B. akuter Ärger oder schwerste Hoffnungslosigkeit), die über einen akuten Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg und/oder Abfall der Herzfrequenzvariabilität eine Plaqueruptur oder schwere Arrhythmie auslösen können.
78.1.5
Ausblick auf therapeutische Konsequenzen
Literaturauswahl
Barth et al., 2010
Edmondson et al., 2013
Grande et al., 2012
Kivimäki et al., 2012
Ladwig et al., 2013
Lichtman et al., 2014
Meijer et al., 2011
Mostofsky et al., 2014
Piepoli et al., 2016
Roest et al., 2010b
Krankheitsverarbeitung und Psychotherapie nach Herzinfarkt
MyokardinfarktHerzinfarkt(patienten)KrankheitsverarbeitungKrankheitsverarbeitungHerzinfarktIn diesem Kapitel werden schwerpunktmäßig Empfehlungen zur psychosomatischen Grundversorgung und zur Fachpsychotherapie nach Herzinfarkt beschrieben. Weitergehende Informationen zu den biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren, die mit der Entwicklung und dem Verlauf der koronaren Herzkrankheit (KHK) verknüpft sind, finden sich in Kap. 78.1.
78.2.1
Einfluss psychosozialer Faktoren auf den Krankheits- und Rehabilitationsverlauf
Verzögerte Inanspruchnahme medizinischer Versorgung
-
•
Atypisches Schmerzmuster (Lokalisation, Ausstrahlung), unabhängig von der Stärke
-
•
Vieldeutige Begleitsymptome wie Luftnot, Übelkeit und Sodbrennen
-
•
Vorbestehende arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus oder Angina pectoris
-
•
… schätzen Symptome als nicht schwerwiegend ein, oder es besteht ein Missverhältnis zwischen erwarteten und erlebten Beschwerden;
-
•
… wollen niemanden belästigen bzw. erleben es als peinlich, medizinische Hilfe anzufordern;
-
•
… wollen Symptome nicht wahrhaben und/oder hoffen, dass die Symptome sich spontan bessern, bzw. betreiben Eigenmedikation;
-
•
… haben Angst vor den Konsequenzen des Hilfeholens (z. B. Krankenhausaufnahme, invasive Therapie);
-
•
… informieren lieber zuerst den Hausarzt, weil sie sich nicht krank genug fühlen, um den Notruf zu alarmieren;
-
•
… fragen zuerst Angehörige um Rat bzw. lassen sich von diesen zum Krankenhaus bringen.
Psychische Symptome während der Krankenhausphase
Ein hohes Angstniveau ist damit ein unabhängiger Prädiktor für eine schlechtere Prognose (Moser et al. 2007).
Psychische Symptome im Verlauf
Die Beschreibung depressiver Symptome ist im Vergleich zu den Beschwerden psychiatrischer Patienten gewöhnlich weniger direkt und weniger typisch. Sie klagen meist vor allem über eine ungewöhnliche Müdigkeit, einen Mangel an Energie und unerklärliche körperliche Symptome, einschließlich atypischer Brustschmerzen, Atemnot und Palpitationen. Herzpatienten neigen dazu, depressive Gefühle zu rationalisieren und somatische Symptome einer Depression ihrer Herzstörung zuzuschreiben, und lenken damit von den emotionalen Hintergründen ihrer Beschwerden ab. Zudem werden die typischen Symptome der Depression bei psychiatrischen Patienten wie Trauer, verminderter Selbstwert, Schuld und Todeswünsche oft durch weniger typische Symptome ersetzt wie Ängstlichkeit (chronische Sorgen, Überwachheit, multiple somatische Beschwerden) und Nervosität (plötzlicher Ärger oder Feindseligkeitsausbruch, häufige negative und unangenehme Bemerkungen gegenüber anderen, Überempfindlichkeit gegen Lärm). Kurz gesagt kann der Patient durchaus an einer klinisch relevanten Depression leiden, auch wenn er oder sie an weniger als fünf der für die Depression typischen Symptome leidet.
zit. nach Lespérance und Frasure-Smith 2000 (Übers. d. Autoren)
Bedeutung sozialer Unterstützung für die Entwick-lung psychischer Symptome und für die Prognose
Inanspruchnahme von Rehabilitation, Gesundheitsverhalten und Compliance
78.2.2
Ein psychodynamischer Verständnisansatz für emotionale Reaktionen auf das Infarktereignis
Angst
Patientengeschichte 1
Ein Büroleiter klagte am zweiten Morgen auf der Intensivstation während der Visite über Angina pectoris; die Nachfrage ergab, dass er die Schmerzen nach dem Erwachen aus einem Traum bemerkt hatte. Er habe geträumt, dass andere Angestellte in seiner Firma in sein Büro einbrachen, ihn mit Gewalt verdrängten und seine Möbel vor die Tür stellten. Sein Bericht war von starker diffuser Angst begleitet. Das anschließende Gespräch ergab den realen Hintergrund: Der Patient hatte seinen Herzinfarkt unmittelbar nach dem Verlassen der chirurgischen Klinik erlitten, wohin er seine Frau zur Operation eines Kolonkarzinoms gebracht hatte. Der befürchtete Verlust seiner zweiten Ehefrau – seine erste Frau war 5 Jahre vorher an demselben Leiden verstorben – wurde von ihm vollends als Katastrophe erlebt, da die Ehefrau zugleich seine Sekretärin war. Er fühlte sich während der letzten Monate seiner Arbeit in einem größeren Betrieb immer weniger gewachsen, hatte sie jedoch mithilfe der jüngeren und tüchtigen Ehefrau eben noch bewältigen können.
Depression
Patientengeschichte 2
Ein still und zurückgezogen wirkender Patient, im Beruf ein dynamischer und erfolgreicher Geschäftsmann, klagt bei der Morgenvisite des 3. Behandlungstages über Angina pectoris, die somatisch nicht erklärt werden kann. Im Gespräch klärt sich, dass die Beschwerden nach dem Erwachen aus einem Traum aufgetreten sind: Er habe im Traum gesehen, wie er „auf den Lumpenwagen“ geworfen wurde.
Verleugnung
Patientengeschichte 3
Ein 67-jähriger Hersteller medizinischer Geräte bekommt morgens um 5:30 Uhr kurz nach dem Aufstehen heftige länger dauernde retrosternale Schmerzen. Seine Berufstätigkeit hat ihm prinzipiell genaue Kenntnisse über Natur und Folgen eines Herzinfarkts vermittelt. Er entschließt sich jedoch, die Schmerzen zunächst dadurch zu bekämpfen, dass er in seine Heimsauna geht und gymnastische Übungen macht. Als sich die Schmerzen nicht bessern, lässt er seine Schwester kommen, die Ärztin ist. Sie stellt die Verdachtsdiagnose eines Herzinfarkts und empfiehlt eine sofortige Krankenhausaufnahme. Der Patient schickt jedoch den Krankenwagen wieder weg und begibt sich erst nach insgesamt 12 h, als die Schmerzen für ihn unerträglich werden, am Steuer des eigenen Wagens in die Klinik.
Patientengeschichte 4
Während der Visite schildert sich ein Infarktkranker am 2. Tag des stationären Aufenthalts zunächst als völlig beschwerdefrei. Auf intensiveres Nachfragen hin klagt er über Beschwerden in der linken Großzehe. Erst nachdem wir mit ihm ausführlicher über seine Gesamtsituation und mögliche Ängste gesprochen haben, kann er über eine noch fortbestehende Angina pectoris berichten.
Interaktionsprobleme
Patientengeschichte 5
Ein erfolgreicher Filmproduzent schilderte bei der Chefarztvisite auf die Frage, wie es ihm gehe, keine Beschwerden, sondern stellte erst einmal fest, dass der Chefarzt auch Ostpreuße sei, und berichtete dann ausführlich über seine Leistungen als Soldat beim Kampf um Ostpreußen. Schließlich fragte er den Chefarzt, ob dieser nicht vielleicht unter ihm in einer Studentenkompanie in Ostpreußen „gedient“ habe.
78.2.3
Psychotherapeutische Behandlungsansätze bei Patienten nach Herzinfarkt
Psychotherapie in der Akutphase
Psychotherapie nach Klinikentlassung und während der Rehabilitation
Vor diesem Hintergrund empfehlen heutzutage alle Leitlinien zur Sekundärprävention der KHK sog. multimodale InterventionenHerzinfarkt(patienten)multimodale Interventionen, d. h. die Kombination von Wissensvermittlung, Sport- und Bewegungstherapie sowie psychosozialen Angeboten (Perk et al. 2012; Gohlke et al. 2013). Herzinfarkt(patienten)Gesundheitsverhalten
-
•
In der Studie ENRICHDHerzinfarkt(patienten)psychosoziale InterventionenStudienlage (ENhancing Recovery In Coronary Heart Disease)ENRICHD (ENhancing Recovery In Coronary Heart Disease) wurden knapp 2 500 Patienten mit depressiver Symptomatik und/oder geringer sozialer Unterstützung nach einem Myokardinfarkt entweder einer kognitiv-behavioralen Psychotherapie oder einem standardisierten Selbsthilfeprogramm zugeteilt (Writing Committee for the ENRICHD Investigators 2003). Bei ausgeprägter Depressivität oder Nichtansprechen auf Psychotherapie wurde in der Psychotherapiegruppe zusätzlich ein SSRI verordnet. Die psychotherapeutische Intervention umfasste initial eine Einzeltherapie und nachfolgend eine Gruppentherapie. Nach 6 Monaten zeigten sich im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikante, aber geringe Effekte der Psychotherapie in Bezug auf die Depressivität; Gesamtmortalität und Reinfarktrate waren nach durchschnittlich 2,5 Jahren jedoch identisch (OR 1,07; CI 0,75 bis 2,0).
Sekundäranalysen getrennt nach Subgruppen (weiße/schwarze Männer/Frauen) zeigten nur für weiße Männer in Bezug auf die kardiale Mortalität und Reinfarktrate eine signifikant bessere Prognose (OR 0,63; CI 0,46–0,87) (Schneiderman et al. 2004).
-
•
Die Studie CREATE (Canadian Cardiac Randomized Evaluation of Antidepressant and Psychotherapy Efficacy)CREATE (Canadian Cardiac Randomized Evaluation of Antidepressant and Psychotherapy Efficacy) verglich den Effekt von 12 Sitzungen Interpersoneller Therapie (IPT) und/oder Citalopram im Vergleich zu einem enhanced clinical management bei Patienten mit klinisch stabiler KHK und Major Depression (Lespérance et al. 2007). Die IPT war hinsichtlich depressiver Symptome tendenziell sogar weniger wirksam (p = 0,06) als das enhanced clinical management, wobei Letzteres in Gestalt einmal wöchentlicher, ca. 20- bis 25-minütiger supportiver Gespräche mit einem psychologisch geschulten Mitarbeiter durchaus dem entspricht, was in Kap. 78.2.4 als „Psychosomatische Grundversorgung“ vorgestellt wird.
-
•
Eine deutsche Arbeitsgruppe hat im Rahmen der Studie Stepwise Psychotherapy for Reducing Risk in Coronary Artery Disease (SPIRR-CADSPIRR-CAD (Stepwise Psychotherapy for Reducing Risk in Coronary Artery Disease9) jüngst an 570 Patienten die Effekte einer kombiniert psychodynamisch/kognitiv-behavioral ausgerichteten Einzel- und Gruppenintervention bei depressiven Patienten mit KHK untersucht (Albus et al. 2011). Hierbei wurden der Interventionsgruppe zunächst drei expressiv-supportive Einzelgespräche angeboten (Fritzsche et al. 2010); bei persistierender Depressivität erfolgte das Angebot einer 20-stündigen psychodynamischen Gruppentherapie mit KVT-Elementen über 1 Jahr. Die Kontrollgruppe erhielt eine ca. 30-minütige psychosoziale Einzelberatung. In beiden Gruppen zeigte sich eine signifikante Reduktion der Depressivität, die jedoch entgegen der Erwartung in der Interventionsgruppe nicht ausgeprägter war als in der Kontrollgruppe. Erst eine Differenzierung der Teilnehmer hinsichtlich des Vorliegens oder Nichtvorliegens einer Typ-D-Persönlichkeit (Kap. 78.1PersönlichkeitsmerkmaleHerzinfarktTyp-D-PersönlichkeitHerzinfarktHerzinfarkt(patienten)Typ-D-Persönlichkeit) zeigte eine signifikant-bessere Wirkung der Intervention bei Patienten mit Typ-D-Persönlichkeit als bei denjenigen ohne dieses maladaptive Persönlichkeitsmuster (Herrmann-Lingen et al. 2016).
Evidenz
Die Metaanalyse von Rutledge et al. (2013) über 6 RCTs zu kognitiver Therapie hat aus den aggregierten Daten für die Gesamtmortalität und nichttödliche Ereignisse eine Number Needed to Treat (NNT) von 84 errechnet. Von daher ergibt sich eine zunehmende moderate Evidenz, dass antidepressive Psychotherapie auch die Prognose eines KHK-Patienten verbessern kann.
Resümee
Zusammenfassend sind psychotherapeutische Angebote wie Entspannungsverfahren und Einzel- und/oder Gruppengespräche geeignet, die Lebensqualität und die Prognose bei vielen KHK-Patienten zu verbessern. Dies hat zu ihrer Aufnahme in sog „multimodale InterventionenHerzinfarkt(patienten)multimodale Interventionen“ geführt, die heutzutage in allen Leitlinien empfohlen werden. Weiterhin steht außer Frage, dass psychische Symptome wie Depressivität oder Angst, sofern sie ein krankheitswertiges Ausmaß erreichen, fachgerecht behandelt werden müssen. Dazu mehren sich Hinweise, welche Verfahren am besten geeignet sind und dass sich bei erfolgreicher Behandlung auch günstige Effekte für die Prognose ergeben. Wesentlich ist eine optimale Vernetzung aller Behandler im Sinne von „Collaborative Care“.
78.2.4
Psychosomatische Grundversorgung
Allgemeines zum praktischen Vorgehen
-
•
„Was haben Sie eigentlich selber gespürt?“
-
•
„Was, denken Sie, ist in dem Moment passiert?“
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•
„Was haben Sie gemacht? Wen haben Sie um Hilfe gebeten?“
-
•
„Wie wollen Sie wieder in den Alltag zurückkehren?“
-
•
„Was spüren Sie denn jetzt?“
Häufige Fehler
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Nichtbeachtung des „unauffälligen“ Kranken: Der Herzinfarkt(patienten)unauffälliger Krankerstille, „unauffällige“, für Ärzte und Schwestern oft angenehme Patient bleibt nicht selten unbeachtet. Dieses Verhalten schließt jedoch nicht aus, dass bedeutsame Ängste oder depressive Affekte vorliegen können. Ärzte und Schwestern sollten nicht nur sorgfältig auf Signale achten, durch die der verängstigte Patient seinen Wunsch nach einem Gespräch mitteilt, sondern auch immer wieder selbst Gesprächsangebote unterbreiten.
Hintergrund für den Mangel an Gesprächsangeboten können neben unzureichender Sensibilität für diskrete Zeichen seelischer Belastung auch emotionale Belastungen des Personals selbst sein, vor allem im Rahmen der Intensivstation. Dies führt nicht selten zu der Notwendigkeit, eigene emotionale Reaktionen und die der Patienten weitgehend abzuwehren.
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•
Unnötige Frustration der Patienten: Den bereits aufs Herzinfarkt(patienten)Frustration, unnötigeÄußerste belasteten Kranken sollten noch verbleibende Befriedigungsmöglichkeiten nicht ohne zwingende Notwendigkeit genommen werden. So raten wir davon ab, z. B. bei Übergewicht bereits in den ersten Krankheitstagen eine Gewichtsreduktion einzuleiten.
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Einseitiges Verlassen auf apparative Überwachung: Eine kritische Herzinfarkt(patienten)Verlassen auf apparative ÜberwachungSituation entsteht nicht selten nach Anschluss des Patienten an den Monitor. Aus der Sicht des Personals ist er nun versorgt und kann allein gelassen werden. Die Patienten fühlen sich jedoch oft verlassen, ja vereinsamt. Es ist wichtig, dass ein Teammitglied, evtl. auch ein Angehöriger, zunächst beim Patienten bleibt oder wenigstens immer wieder nach ihm sieht. In jedem Fall sollte zusätzlich eine verständliche Erläuterung der Monitorfunktion sowie der Möglichkeit eines „falschen Alarms“ bei den verschiedenen Geräten rund um das Krankenbett erfolgen.
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•
Unvorbereitete Verlegung von der Intensivstation: Für die meisten Herzinfarkt(patienten)Verlegung, unvorbereitete, von der IntensivstationPatienten dürfte die Verlegung von der Intensivstation mit ihren vielfältigen, potenziell ängstigenden Reizen (z. B. Fehlalarme, Reanimation von Mitpatienten) auf die Allgemeinstation eine Entlastung darstellen. Die Verlegung kann aber auch als Verlust der ständigen Verfügbarkeit von Ärzten und Schwestern sowie der Monitorüberwachung erlebt werden. Dies kann zu schmerzlichen Trennungsreaktionen und zu einer Reaktivierung von Ängsten führen. Ein „Verlegungsgespräch“, in dem die eingetretene Besserung oder der Wegfall der unmittelbaren Bedrohung betont und die Angst des Patienten vor der Verlegung besprochen wird, kann den Kranken beruhigen und dazu beitragen, die Zahl der Rückverlegungen auf die Intensivstation zu reduzieren. Entsprechendes gilt auch für die Entlassung aus dem Krankenhaus.
Screening auf psychosoziale Risikofaktoren
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Was sind Sie von Beruf? (Positiver Hinweis auf erhöhtes Risiko: Hauptschulabschluss, ungelernter Arbeiter, Handwerker)
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•
Haben Sie Personen, auf deren Unterstützung Sie zählen können? (Positiver Hinweis: nein)
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•
Fühlen Sie sich den Anforderungen Ihrer Arbeit gewachsen? Haben Sie ernsthafte Probleme mit Ihrem Partner oder in der Familie? (Positiver Hinweis: ja)
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Fühlen Sie sich häufig ärgerlich oder angespannt? (Positiver Hinweis: ja)
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Fühlen Sie sich häufiger niedergeschlagen und hoffnungslos? (Positiver Hinweis: ja)
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Haben Sie das Interesse und Freude am Leben verloren? (Positiver Hinweis: ja)
Positive Antworten vor allem auf die beiden letzten Fragen – sog. Zwei-Fragen-TestHerzinfarkt(patienten)Zwei-Fragen-Test – weisen bei einer Spezifität von 80 % eine Sensitivität von 80 % für das Vorliegen einer depressiven Störung auf und sollten auf jeden Fall Anlass zu einer fachpsychotherapeutischen Validierung der Diagnose geben. Der positive Hinweis auf das Vorliegen der anderen Risikofaktoren sollte Anlass zu einer vertiefenden Erörterung sein, um weitere Anhaltspunkte zur Differenzialindikation weitergehender Angebote zu erhalten (Kap. 78.2.3).
Empfehlungen zur Förderung des Gesundheitsverhaltens
Spezielle Empfehlungen bei psychischen Symptomen und pathologischer Verleugnung
Angstmindernd wirken kompetente ärztliche und pflegerische Versorgung und das Angebot tragfähiger Beziehungen, die auch die Äußerung von Emotionen zulassen. Hilfreich sind Informationen über das Krankheitsbild, die rasche Abnahme des Mortalitätsrisikos bei unkompliziertem Verlauf und den Plan für die weitere Behandlung bzw. spätere Rehabilitation. Hierbei ist besonders wichtig, unrealistische Vorstellungen über das Wesen der Erkrankung zu eruieren und zu korrigieren.
78.2.5
Analgetika und Psychopharmaka
Dessen ungeachtet ist eine antidepressive Pharmakotherapie bei sorgfältiger Beachtung der Indikation, Behandlungspräferenzen des Patienten und möglicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) allein zur Verbesserung der Lebensqualität indiziert.
Tri- und tetrazyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Opipramol, Doxepin) sollten wegen des erhöhten Risikos kardialer UAW nicht oder nur nach sorgfältiger Nutzen-/Risikoabwägung eingesetzt werden.
78.2.6
Schlussfolgerungen
Literaturauswahl
Albus et al., 2014
Baumeister et al., 2011
Bjarnason-Wehrens et al., 2007
Clark et al., 2005
Gohlke et al., 2013
Huffman et al., 2014a
Ladwig et al., 2014
Lichtman et al., 2014
Perk et al., 2012
Rutledge et al., 2013