Die klinische Relevanz dieser holistischen Herangehensweise stelle ich anhand von drei Konzepten dar. Unter den Bezeichnungen „Passung“, „Responsivität“ und „Mentalisierung“ tragen sie in unterschiedlicher Ausrichtung zur Ergänzung unserer Verständnisansätze und zur Weiterentwicklung von Therapieverfahren bei.
8.2.1
„Passung“ – Funktionsprinzip lebender Systeme
„… Organismus und Umwelt bilden ein ‚Ganzes‘, eine ‚Einheit des Überlebens‘ (Bateson) oder ein ‚lebendes System‘, dessen Teile bildlich gesprochen wie Schlüssel und Schloss bzw. Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung zueinander passen müssen, wenn das Leben nicht in Gefahr geraten soll. Dieses Modell erlaubt uns, für Gesundheit und Krankheit die Begriffe Passung und Passungsverlust einzuführen.“
von Uexküll und Wesiack (2003: 8)
Biopsychosoziales ModellPassungskonzeptMit „PassungPassung(skonzept)“ wählten von Uexküll und Wesiack einen einprägsamen Begriff, der wohl aufgrund seiner Nähe zum alltagssprachlichen „passen“ rasch akzeptiert wurde. Sie bezeichnenmit diesem Begriff zugleich das Ziel des Zusammenwirkens von Individuum und Umwelt und den interaktiven Abstimmungsprozess, der auf dieses Ziel ausgerichtet ist. Das Ergebnis dieses Prozesses, sein Gelingen oder Scheitern, ist sowohl der Beobachtung von außen als auch unserer Selbstwahrnehmung zugänglich. Mit der Wahrnehmung zureichender Selbstwirksamkeit und genügend guter sozialer Akzeptanz verbessert sich unser Selbstgefühl.
Das Passungskonzept schärft zunächst unsere Aufmerksamkeit für das ständige, von uns überwiegend nicht bewusst wahrgenommene Bemühen des psychischen Subsystems, Beeinträchtigungen von Gleichgewichtszuständen auszugleichen, die auf Schwankungen eigener Bedürfnisse und/oder von Leistungsanforderungen der Umwelt zurückgehen. Gelingt dieser Ausgleich nicht ausreichend, nehmen wir „Symptome“ als Hinweise auf Störungen wahr, die wir als AnpassungsstörungenAnpassungsstörungen klassifizieren. Diese zählen in Anträgen für die Kassenfinanzierung von Psychotherapie zu den am häufigsten gestellten Diagnosen.
Von Uexküll und Wesiack haben mit dem Passungskonzept ihr Ziel weiter gesteckt. Indem sie „für Gesundheit und Krankheit die Begriffe Passung und Passungsverlust“ als Kurzformel, als eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner für das Verständnis allen Gesundbleibens und Krankwerdens einführten, steigerten sie die Relevanz des biopsychosozialen Modells für die ärztliche Praxis erheblich.
Bei der Formulierung dieses gemeinsamen Nenners griff von Uexküll wohl auf einen bereits 1956 publizierten Befund zurück, den er zusammen mit Manfred Pflanz an Patienten erhoben hatte, die wegen „Magengeschwüren“ in die Klinik gekommen waren: „Bei der großen Mehrzahl unserer Patienten hatte sich unmittelbar vor dem Beginn des Magenleidens ein Bruch in ihrer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ereignet, in der sie Anerkennung genossen und sich geborgen erlebt hatten …“ Isoliert und auf sich selbst gestellt, „empfanden [alle] dieses Isoliertsein mehr oder minder deutlich als beängstigend“ (von Uexküll 1963: 65).
Die Kurzformel „Passung“ erweitert die klinische Perspektive, von der Betrachtung einzelner Krankheitsbilder zur Beobachtung gemeinsamer Bedingungen allgemeinen Krankwerdens. Sie lenkt unseren Blick auf die soziale Situation von Patienten, auf die Qualität ihrer Beziehungen, die Qualität des Zusammenwirkens von Organismus und Umwelt. Die Formel wirkt aber zunächst abstrakt, eher auf „Systeme“ bezogen, sie klingt nach technischer Präzision und könnte als Aufforderung zu bereitwilliger, die eigene Entwicklung behindernder (Fehl-)Anpassung missverstanden werden.
An anderer Stelle wird der Bezug dieser einprägsamen Kurzformel einer „Integrierten Medizin“ zu zwischenmenschlicher Interaktion deutlicher
Integrierte MedizinPassungsverlust: „Passungsverlust
Passungsverlust“ droht in Situationen, die Merkmale gemeinsam haben, die man als
„Gefährdung des Dialogs mit der Umgebung oder als Unmöglichkeit bezeichnen kann, den Dialog fortzusetzen, in dem unsere individuelle Wirklichkeit entsteht und die unerlässliche Kontinuität findet“ (1989: 253 und 255).
1
Der Begriff „Dialog“ entspricht von Uexkülls häufiger Erwähnung von George H. Meads Konzept der Reziprozität „intelligenter Gesten“ (1934) und der Beschreibung des komplexen kommunikativen Austauschs subsymbolischer und symbolischer Zeichen in der „Vis-à-vis-Situation“ durch Berger und Luckmann (1969). Die Hervorhebung der Bedeutung einer dialogischen Abstimmung der Beziehung zwischen dem Individuum und seiner sozialen Umwelt korrespondiert mit seiner Auffassung vom semiotischen Charakter ärztlichen Handelns (vgl. Kap. 27.3) und damit Gadamers Formulierung, dass „der Arzt in gewissem Sinne der symbolische Beruf“ ist (1996: 117).
Das Gelingen von „Passung“ als dialogartigem Abstimmungsprozess zwischen Individuum und Umwelt setzt eine grundlegende Fähigkeit von Lebewesen voraus, ihre Ansprechbarkeit für zeichenvermittelte interaktive Prozesse überhaupt. Louis R. R. Grote hatte diese Fähigkeit mit „Responsivität“ bezeichnet (1921).
8.2.2
Responsivität – Grundlage der Medizin als „dialogischer Handlungswissenschaft“2
Der Neurologe Kurt Goldstein übernahm in seinem Buch Der Aufbau des Organismus (1934/2015) den Begriff „ResponsivitätResponsivität(sfähigkeit)“ als Bezeichnung für ein charakteristisches Merkmal erfolgreicher organismischer Anpassungsprozesse. Grote hatte GesundheitGesundheitResponsivität als einen Zustand des Organismus beschrieben, in dem „die Lebensäußerungen eines Individuums völlig seinen biologischen Notwendigkeiten (entsprechen), die ihm aus dem Zusammentreffen seiner äußeren Lebenslage und seiner physiologischen Leistungsmöglichkeit erwachsen.“ (nach Goldstein 2015: 334). Krankheit entspreche dagegen mangelnder Responsivität und dadurch bedingter Beeinträchtigung von Leistungsfähigkeit und LeistungsdauerKrankheitResponsivitätsdefizite.
Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels beschreibt Responsivität als primäre
Form von Bezogenheit, als einen Grundzug unseres gesamten leibgebundenen Verhaltens (1994, 2015). „Responsivität“ eignet unserem
„Hinsehen, Hinhören, Phantasieren, Lächeln oder Fühlen ebenso wie unserem Reden, Tun, Machen oder Herstellen“ (2015: 19). Responsives Verhalten
Verhaltenresponsives orientiert sich nicht repetitiv oder stereotyp an äußeren Normen oder Regeln; seine Wirkung hängt davon ab, ob es den Bedürfnissen, Wünschen oder Erwartungen des jeweiligen Individuums „adäquat“ ist, seinem „Wesen“ entspricht (
Goldstein 1934/2015: 334). Responsivität setzt die Fähigkeit voraus, die Bedürfnisse und Erwartungen anderer wahrzunehmen, Zeichen hiervon zutreffend zu interpretieren, Zugang zur individuellen Wirklichkeit anderer zu finden.
Als bedürfnisadäquate, kreative Antwort trägt Responsivität zum Erleben von KohärenzKohärenzerleben/-gefühlResponsivität bei und motiviert dazu, den intersubjektiven Austausch fortzusetzen. Inadäquates „Antworten“ hat Enttäuschung und weitere negative Erlebnisqualitäten zur Folge, kann zu Rückzug und Dissoziation des Individuums von seiner Mitwelt, zum Scheitern von Anpassung oder zu Formen pathologischer Fehlanpassung und damit zu weiteren Störungen im Organismus des Individuums führen.
Eine Episode aus einer Behandlungsgeschichte soll veranschaulichen, wie ungenügend responsives Verhalten bedeutsamer anderer die „Anpassungs“-Fähigkeit einer entsprechend vulnerablen Patientin überfordern und zur Manifestation eines Rezidivs auch einer Organerkrankung beitragen kann.
Kasuistik
Colitis-ulcerosa-Rezidiv – Responsivitätsdefizit oder: Kann eine Weihnachtskarte pathogen wirken?
Colitis ulcerosaResponsivitätsdefizitDie 64-jährige Frau G. leidet seit vielen Jahren an einer Colitis ulcerosa. Während eines therapieresistent erscheinenden Krankheitsschubs hatte ihr Gastroenterologe sie mir zur psychotherapeutischen Mitbehandlung überwiesen. Die alleinlebende Patientin war zur Sommerpause nach 40-jähriger Tätigkeit als Grundschullehrerin pensioniert worden. Die Beendigung ihrer gewohnten Tätigkeit und die Lösung aus der vertrauten Umgebung waren ihr nicht leichtgefallen, schienen ihr aber zu gelingen. Die Colitis-Symptomatik und durch sie bedingte Einschränkungen bildeten sich während der folgenden Monate weitgehend zurück.
In der ersten Dezemberwoche erhielt Frau G. „Weihnachtsgrüße“ ihrer Schule. Eine Woche später entwickelten sich „schwere Durchfälle“: „Selbst das Sitzen im Sessel war schmerzhaft. Es waren im wahrsten Sinne des Wortes ‚Scheiß-Weihnachten‘ für mich. Alles, was ich mir vorgenommen hatte, konnte ich nicht ausführen.“
Frau G. konsultierte ihren Gastroenterologen und befolgte die Modifikation der medikamentösen Therapie. Als Erklärung für das Auftreten des Rezidivs habe sich die „Wiederholung des bisherigen Winterrhythmus“ der Erkrankung angeboten: „Damit war ich zufrieden.“
Anfang Februar kam sie zum vereinbarten vierteljährlichen Termin zu mir. Sie erzählte, wie sie den „Weihnachtsgruß“ erlebt hatte: „Freudig öffnete ich den Brief, dann traf mich fast der Schlag. (…) Ich war stinksauer, habe die (ohne persönliche Anrede und Unterschrift vorgedruckte) Karte zerrissen. Damit war das Thema für mich erledigt.“
Im Verlauf unseres Gesprächs fand Frau G. eine spezifischere Erklärung für die Intensität ihres emotionalen Betroffenseins: „Diese lieblose Karte hat mich an die lieblose Art meines Vaters erinnert. Ich bin geprügelt worden, obwohl ich immer seine Alkoholsucht vertuscht habe, ihn aus Kneipen abgeholt habe, in denen er randaliert hatte, ihn versorgt habe, als meine Mutter gestorben war. Auch als ich Abitur gemacht hatte, bekam ich keine Anerkennung. Auch dass ich mein Studium allein finanziert hatte, fand keine Anerkennung seinerseits. Auch dass ich nicht gut genug war, um mit B. A. und Z. meinen Lebensweg zu gehen.“ (Ihr Vater hatte auch ihre Partnerwahl behindert.) Zudem habe ihr der Vater schon früh vermittelt, dass sie als Kind unerwünscht gewesen war und schuldig an seiner Alkoholkrankheit sei: Wäre sie nicht gekommen, hätte die Mutter sich mehr um ihn kümmern können.
„Und jetzt war ich noch nicht einmal einen persönlichen Weihnachtsgruß wert, obwohl ich so viel für meine Chefin getan hatte. Ich bin mir sicher, dass diese Erinnerungen der Auslöser für den Schub waren und nicht die Winterzeit. Der Schub hat sich nach dem Gespräch sehr schnell verabschiedet.“
Der Internist Paul Christian (1910–1996), Mitarbeiter und Nachfolger Viktor von Weizsäckers in Heidelberg, machte unsere Fähigkeit zu responsivem Verhalten
Responsivität(sfähigkeit) am Modell der Zusammenarbeit zweier Partner an einer Laborversion der zweigriffigen Baumsäge
empirischer Untersuchung zugänglich (
Christian und Haas 1949;
Christian 1989;
Orange 2014). Die teils reziproke, teils antizipatorische Bezogenheit von Leistung und Gegenleistung in der gemeinsamen Arbeitssituation wird in einem Kooperationsmodus möglich, den er als
„bipersonal“ bezeichnet (vgl.
Eich 2014). Die klare Unterscheidbarkeit dieses Handlungsmodus von Handeln nach dem Reiz-Reaktions-Modell erleben wir u. a. beim Paartanz, im Tennisspiel, beim „blinden Sich-Verstehen“ von Mannschaftsspielern oder auch beim Abstimmungsverhalten im Straßenverkehr.
Das Responsivitätskonzept hat mit dem Aufblühen entwicklungspsychologischer Forschung, insbesondere der Bindungsforschung enorm an Bedeutung gewonnen. Das Neugeborene ist von Anfang an auf einen virtuellen anderen ausgerichtet (Bråten) und auf dessen Verfügbarkeit angewiesen (Bowlby). Die Entwicklung von Vertrauen zu anderen und zur eigenen Gestaltungsfähigkeit sowie die Ausbildung von Resilienz gegenüber lebensgeschichtlichen Belastungen hängen in hohem Maße von der Qualität der frühen sozialen Beziehungen ab, die sich systemtheoretisch konzipiert untersuchen lässt (
Tronick 2007;
Beebe und Lachmann 2015;
Fonagy 2015;
Kap. 11,
Kap. 14,
Kap. 15,
Kap. 16,
Kap. 17,
Kap. 19,
Kap. 20).
Das
Responsivitätskonzept spezifiziert das Verständnis
ärztlichen Handelns in „Integrierter Medizin
Integrierte MedizinResponsivitätskonzept“ als einer auch
„dialogischen Handlungswissenschaft“ (
Lolas Stepke 2014) (vgl.
Kap. 28). In der Fachpsychotherapie hat es zur ergänzenden Entwicklung neuer Interventionsformen („Prinzip Antwort“) und zu veränderten Modi der Einstellung gegenüber Patienten („antizipatorische Position“) beigetragen (
Rudolf 2006; vgl.
Kap. 32 und
Kap. 33), darüber hinaus in Verbindung mit Ansätzen der philosophischen Anthropologie (vgl.
Kap. 1) auch zur Entwicklung neuer, intersubjektiv orientierter psychoanalytischer Therapieverfahren (
Brandschaft et al. 2015;
Fonagy 2015;
Orange 2014;
Kap. 9 und
Kap. 33), implizit in Verbindung mit dem „Achtsamkeits“-Konzept auch zu einem Entwicklungsschritt der Verhaltenstherapie (
Kap. 10).
Responsivität(sfähigkeit)Die Fähigkeit zu responsivem Verhalten in interpersonellen Beziehungen bedarf nach außen einer Dialogizität, nach innen einer „Mentalisierung“ als FähigkeitMentalisierung(sfähigkeit), eigenes und fremdes Erleben und Verhalten durch Zuschreibung mentaler Prozesse interpretieren zu können.
8.2.3
Mentalisieren – Förderung von „Besonnenheit“
MentalisierenMentalisierung(sfähigkeit)Besonnenheit bezeichnet eine Fähigkeit, die dem schon von Platon formulierten Ziel gilt, Besonnenheit (sophrosyne) zu vermitteln.
Als
besonnen wurde seit Homer der seiner Sinne mächtige, selbstbeherrschte und sich seiner selbst bewusste Mensch bezeichnet. Wer sich „zu besinnen“ vermag, gewinnt Distanz zur äußeren und zu seiner inneren Natur. Der Besonnene vermag aus der Zwangsläufigkeit fest programmierter Funktionskreise herauszutreten; er bleibt nicht starr an den zyklischen Verlauf von bedürfnisgeleiteter Wahrnehmung zu bedürfnisbefriedigendem Handlungsvollzug fixiert. Er gewinnt an Sicherheit, Autonomie und Wahlfreiheit: Fantasie, Vorstellung und Reflexion erleichtern es ihm, seine Umwelt für sich „viabel“ zu machen oder sich der äußeren Realität „anzupassen“, neue Lösungsansätze für Probleme und innere Spannungen zu entwickeln und sein Verhaltensrepertoire auf die Angebote und Forderungen seiner Mitwelt abzustimmen.
3
„Mentalisieren“ ist eine seelische Grundfunktion. Sie ermöglicht es, uns über den eigenen Zustand und den unserer Mit- bzw. Umwelt zu orientieren, uns eigene und fremde Gefühle und Gedanken zu vergegenwärtigen und sie zu reflektieren und orientiert am Ergebnis dieses metakognitiven Prozesses zu handeln.
Biopsychosoziales ModellMentalisierungskonzeptDas
Mentalisierungskonzept entstand aus der langjährigen Zusammenarbeit von Psychoanalytikern und Entwicklungspsychologen. Ziel der Kliniker war es, die Verständnis- und Therapiemöglichkeiten für bis dahin schwer behandelbare Patienten zu verbessern, insbesondere für Kranke, die an Autismus oder – aufgrund früher Traumatisierung – an einer Form von sog. Borderline-Störungen leiden, oder solchen Patienten, bei denen ein erschwerter Zugang zu Gefühlen (sog. Alexithymie
Alexithymie) zur Genese von Störungen beiträgt. Die Entwicklungsforscher begannen sich von einem reduktionistisch biologischen Verständnis der Bindungsentwicklung zu lösen und die Entwicklung der sozialen Beziehungen von Kindern im Zusammenhang mit der stufenweisen Entwicklung ihrer auch im leiblichen Erleben fundierten emotionalen und kognitiven Fähigkeiten zu untersuchen (
Fonagy 2015;
Beebe und Lachmann 2015;
Kap. 11,
Kap. 13,
Kap. 14,
Kap. 17,
Kap. 18).
Im Laufe dieser Zusammenarbeit gelang es, manualisierbare Interventionsverfahren zu entwickeln und ihren Einsatz sowohl in der Behandlung von Patienten mit Störungen in den genannten Bereichen als auch zur Förderung der Mentalisierungskompetenz während der kindlichen Entwicklung zu erproben (
Fonagy 2015;
Luyten et al. 2012;
Kap. 13). Das Konzept eignet sich dafür, Mentalisieren als eine gemeinsame Grundhaltung in allen psychotherapeutischen Schulen und auch an Ärzte zu vermitteln, die generalistisch nach dem Ansatz „Integrierter Medizin“ praktizieren.
Ein Zugewinn an Fähigkeit zu mentalisieren steigert mithilfe kognitiver Prozesse die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren (Piagets Prinzip der „Regulation von Regulationen“); er vermittelt dadurch Sicherheit und ermutigt zu neuen Initiativen.
Kasuistik (Forts.)
Ihre Erfahrung mit der Weihnachtskarte hat Frau G. ermutigt, beim Auftreten körperlicher Beschwerden auf mögliche Zusammenhänge mit Beziehungserfahrungen zu achten.
Später im Jahr „begann meine Haut zu jucken. Ich musste mich ständig kratzen. Der Juckreiz war furchtbar. Es blieb keine Stelle verschont. Erst dachte ich, ich hätte Flöhe von der Katze.“ Ihre Hautärztin habe an altersbedingte körperliche Ursachen gedacht: „Sie sagte, dass es hormonell bedingt sei. Da könne man nichts machen. Sie verschrieb mir eine Kortisonsalbe.“
Frau G. dachte an eine, diesmal positiv erlebte Beziehungsepisode: ihre Begegnung mit der neuen, für sie jetzt zuständigen Schulrätin. Zu ihrer Überraschung habe sich diese bei ihr für Versäumnisse ihrer Vorgängerin entschuldigt, die ihr bei der Durchsicht der übernommenen Akten aufgefallen waren. Zudem habe sich die Schulrätin sehr anerkennend über ihre Leistung während ihrer langen Dienstzeit geäußert. „Ich habe von der Schulrätin Anerkennung bekommen, einmal Anerkennung für das, was ich gemacht habe. Die Worte waren Streicheleinheiten für meine Haut und meine Seele.“ Sie nahm an: „Da ich Streicheleinheiten nicht kannte, reagierte die Haut mit Jucken. Mir fiel da der Satz ein: Jemand ist ‚dünnhäutig‘. Eine andere Erklärung wäre aber auch, dass ich mehr von diesen Streicheleinheiten haben möchte: nicht nur von der Schulrätin, sondern auch von anderen. Die erste Erklärung kann ich gut nachvollziehen. Die zweite geistert noch in meinem Kopf herum, weil ich noch nicht genau weiß, wie ich mehr von den Streicheleinheiten bekommen kann und ob ich das wirklich möchte. Das Jucken ist nach dem Gespräch darüber weniger geworden. Das Kortison nehme ich nicht mehr.“
Im nächsten Schritt vermochte sie in Worte und symbolisches Handeln zu überführen, was sie bisher nur zugleich dumpf und bedrohlich gefühlt hatte (vgl. Schopenhauer-Zitat): „Im Frühjahr habe ich meinen Speicher ausgemistet.“ Sie habe sich entschieden, 40 Jahre gelagerte Kisten, u. a. solche mit Büchern und Christbaumkugeln, „die meinem Vater gehört haben“, wegzuwerfen. Schon beim Anblick der Bücher, die ihr Vater während seiner Wutanfälle nach ihr geworfen habe, seien ihr unangenehme Erinnerungen gekommen. Unverzüglich sei sie zur Müllkippe gefahren und habe jedes Buch einzeln „mit aller Kraft in den Müll geworfen. Diese Bücher sollten niemandem mehr Schaden zufügen.“
„Beim Betrachten der Christbaumkugeln fielen mir unsere Heiligen Abende wieder ein. Meistens war mein Vater schon vor dem Abendessen betrunken. Er pöbelte, randalierte und schlug zu, wenn er nicht schnell genug etwas zu essen und zu trinken bekam. In der Regel fiel er sturzbetrunken in den Weihnachtsbaum, sodass alle Kugeln zerbrachen. Deshalb hatten wir ja auch rund 100 Kugeln, damit wir den Weihnachtsbaum wieder neu schmücken konnten. (…) Ich habe sie alle in eine große Plastiktüte geschüttet, die Tüte zugebunden und mit einem Hammer die Kugeln zerschlagen. Danach habe ich die Tüte zur Müllkippe gefahren. (…) Jetzt habe ich die Sachen und meinen Vater gequält.“
Danach, erzählte sie später, habe sie erstmals wieder auch mit positivem Gefühl an ihren Vater zu denken vermocht und sich dann in der Lage gefühlt, sein lange weggestecktes Bild auf ihren Schreibtisch zu stellen.