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Die verschiedenen familientherapeutischen SchulenFamilientherapieSchulen/Modelle
[L106]

GenogrammGenogramm
[L106]

Leitfaden für ein familientherapeutisches Erstgespräch (Geigges 2014)
Familientherapie Erstgespräch, Leitfaden
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1.
Joining-Phase: Kontaktaufnahme zu allen Familienmitgliedern und Erklären des therapeutischen Settings
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2.
Kontextklärung: Überweisungskontext, Anlass aufseiten der Familie, Kontext auf Therapeutenseite
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3.
Problemdefinition – Wirklichkeitsbeschreibungen der einzelnen Familienmitglieder – Multiperspektivität
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4.
Beziehungsmuster – Interaktionszirkel – Regeln der Kommunikation
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5.
Auftragsklärung
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6.
Zukunftsfragen – Möglichkeitskonstruktionen – Lösungsvisionen
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7.
Reflexionsphase – Therapiepause
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8.
Abschlusskommentare – Abschlussinterventionen – Therapievereinbarungen
Systemische Therapie und Familiendynamik
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37.1
Definition433
-
37.2
Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive434
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37.3
Allgemeine Indikationen für eine systemische Therapie/Familientherapie435
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37.4
Wirksamkeit der systemischen Therapie/Familientherapie436
-
37.5
Biopsychosoziales Modell und Konsequenzen für eine systemische Perspektive der Paar-/Familientherapie436
-
37.6
Grundhaltungen438
-
37.7
Therapeutische Techniken439
37.7.1
Die Erstellung eines Genogramms439
37.7.2
Hypothesengeleitetes Vorgehen440
37.7.3
Fragen als therapeutische Interventionen440
37.7.4
Kontext und Auftragsklärung441
37.7.5
Co-Therapie – reflektierendes Team441
37.7.6
Arbeit mit Familienskulpturen441
37.7.7
Abschlussintervention442
37.7.8
Multifamilientherapie442
37.1
Definition
Systemische Systemische TherapieTherapie meint im Wesentlichen systemische FamilientherapieFamilientherapie und hat sich in den Jahren 1970–1980 als eigenständiges Therapieverfahren aus der klassischen Familientherapie entwickelt (Reiter et al. 1997). Zwischenzeitlich findet Systemische Therapie, über den Paar- und Familienkontext hinaus, auch in anderen psychotherapeutischen Settings wie Einzel- und Gruppentherapie Anwendung.
Familientherapie bedeutet ganz allgemein z. T. sehr heterogene psychotherapeutische Methoden, die in der Theoriebildung und Behandlungsmethodik am interpersonellen Kontext der Patienten ansetzen. Familientherapie konzentriert sich explizit auf eine Veränderung der Interaktionen zwischen Partnern, innerhalb einer Kernfamilie, innerhalb einer erweiterten Familie oder zwischen einer Familie und anderen interpersonellen Systemen, mit dem Ziel, Probleme einzelner Familienmitglieder, von Familiensubsystemen oder der gesamten Familie zu lösen bzw. zu verbessern.
37.2
Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive
Es zeigt sich, dass die systemorientierte Konzeptualisierung der Behandlung entscheidender ist als die konkrete Anwesenheit von Familienmitgliedern in der Therapie (Lebow und Gurmann 1995).
-
•
Förderung einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung
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•
Aktive und strukturierende Gesprächsführung
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•
Klärung des Überweisungs-/Erwartungskontextes und des Behandlungsauftrags
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•
Stärkung der Ressourcen in der Familie bzw. des Paares
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•
Anregung von Problemlösungen
-
•
Transparente Kooperation
Von Interesse sind somit gleichermaßen die Auswirkungen der Interaktion innerhalb (und außerhalb) der Familie auf die Symptome eines Familienmitglieds wie auch umgekehrt die Auswirkungen von Symptomen auf („andere“) Familienmitglieder und deren Interaktionsmuster.
37.3
Allgemeine Indikationen für eine systemische Therapie/Familientherapie
-
•
Enge Kooperation mit Patientenfamilien und ihre routinemäßige Einbeziehung bei der Krankenversorgung
-
•
Patientenbezogene Kooperation von Experten aus dem medizinischen, psychosozialen und nichtmedizinischen Bereich durch Bildung interdisziplinärer Behandlungsteams
Patientengeschichte 1
Frau A. (33), verheiratet mit Herrn A. (36) und Mutter einer Tochter (9) und eines Sohnes (11), erhält die Erstdiagnose eines Morbus Hodgkin im Stadium CS IV. Zu Beginn der Erkrankung von Frau A. rückt die Familie eng zusammen: Der Ehemann bricht alle Vereins- und Freizeitaktivitäten ab, engagiert sich sehr für seine Kinder und besucht seine Frau regelmäßig während der stationären Aufenthalte. Das familiäre Gefüge der Familie wird vor allem durch die Betonung komplementärer Beziehungsformen stabilisiert. Zeichen der Schwäche bei Frau A. führen zu ausgesprochener Stärkedemonstration bei Herrn A., der offenbar ganz problemlos mit seiner neuen Aufgabe als Haupterziehungsperson zurechtkommt. Zeigt sich Frau A. entmutigt, verhalten sich vor allem die Kinder betont optimistisch und versorgen ihre Mutter z. B. mit froh stimmenden Zeichnungen. Um das familiäre System zu stabilisieren, versuchen die Familienmitglieder, Konflikte abzuschwächen und zu verbergen, und regulieren aufkommende negative Gefühle zugunsten von Harmonie und Stabilität. Mit einem hohen Anspruch an Durchhaltevermögen und Sachlichkeit sorgen alle für ein ruhiges Miteinander. Frau A. sucht religiösen Rat und Zuspruch und betreibt ein intensives Literaturstudium zum Thema Krebs und Psyche.
In einem Familiengespräch ca. 10 Monate nach der Krebsdiagnose zeigen sich deutliche Veränderungen dieses initialen familiären Interaktionsmusters: Die Familie reagiert sehr besorgt auf diese Veränderungen: Der 11-jährige Sohn wird zunehmend aggressiv, erlebt einen schulischen Leistungseinbruch und wird seither durch eine Familienberatungsstelle zusätzlich betreut. Das geplante Familiengespräch findet in der Hausarztpraxis statt.
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•
das klinische Problem eines Patienten eng verknüpft ist mit Problemen in seinen Paar- oder Familienbeziehungen und diese Beziehungsprobleme ohne Familientherapie nicht oder nur sehr viel langwieriger zu lösen sind;
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•
mehrere Mitglieder zugleich psychotherapeutischer Behandlung bedürfen oder die individuelle psychotherapeutische Behandlung eines Mitglieds gesundheitsgefährdende Beziehungskrisen bei dessen Angehörigen ausgelöst hat;
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•
chronische oder sehr belastende akute Krankheitsprozesse eines Patienten die Bewältigungsressourcen seiner Angehörigen erschöpft haben, sodass bei diesen Dekompensation droht;
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•
familiäre RessourcenRessourcenFamilieFamilieRessourcen für das Weiterleben eines kranken Mitglieds in der Familie alternativ zu langfristiger Hospitalisierung oder Heimunterbringung aktiviert werden sollen;
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•
andere Familienmitglieder einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung oder Milderung der klinischen Problematik des Patienten leisten können und dieser Beitrag ohne die Einbeziehung dieser Familienmitglieder in die Therapie nicht oder nur unzureichend aktivierbar ist.
37.4
Wirksamkeit der systemischen Therapie/Familientherapie
-
•
Die kritische Inanspruchnahme durch Familien wegen problematischer Attribuierung der Familientherapie: Familienangehörige befürchten, dass sie neben einer schweren körperlichen Erkrankung mit deren Bewältigungsproblemen nun zusätzlich psychiatrische „stigmatisiert“ werden könnten.
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•
Die hohe Komplexität des Behandlungsansatzes im Hinblick auf Multiperspektivität.
-
•
Der notwendige biopsychosoziale Systembezug.
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•
Die notwendige Kooperation im Helfersystem.
-
•
Aufwendige Settingbedingungen für Interventionen mit Mehrpersonen-Konstellationen (Familienkonferenz, Einbeziehung von Angehörigen in Diagnostik- und Therapieentscheidungen).
-
•
Zunehmende Standardisierung und Leitlinienorientierung der Medizin (Beispiel Diabetesversorgung in der Pädiatrie).
37.5
Biopsychosoziales Modell und Konsequenzen für eine systemische Perspektive der Paar-/Familientherapie
„Dies bedeutet für die psychotherapeutische Arbeit unter anderem, die richtigen Zeitpunkte für Veränderungen zu nutzen, Ressourcen auszukundschaften und eine behutsame Anregung des Energieniveaus zu betreiben, indem man dem Patienten behilflich ist, seine eigene Kraft zu fühlen und zu mobilisieren, anstelle Lösungen von außen vorzugeben. Fehlerfreundlichkeit im Sinne eines gelassenen Umgangs mit Umwegen, Rückschlägen und Stagnation erscheint als Merkmal einer genesungsförderlichen therapeutischen Interaktion.“
Empt und Schiepek (2000)
37.5.1
Die konstruktivistische Betrachtungsebene
-
•
Eine Wirklichkeit, die vom Paar bzw. von der Familie im Sinne einer gemeinsamen Wirklichkeit konstruiert wird: In dieser Wirklichkeit wird das Kranksein des (Index-)Patienten als drohender PassungsverlustPassungsverlustdrohender erlebt und dem Therapeuten in dem Bemühen, die Passungsstörung zu überwinden, die Rolle eines Helfers zugeschrieben. In familientherapeutischen Sitzungen ergeben sich daraus folgende konkrete Fragestellungen:
-
–
Wie konstruieren die einzelnen Familienmitglieder ihre unterschiedlichen subjektiven Wirklichkeiten?
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–
Mit welchen familiären Interaktions- und Kommunikationsmustern sind diese Wirklichkeitskonstruktionen verbunden?
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–
Wie bestätigt jeder durch sein Verhalten die Wirklichkeitskonstruktionen aller anderen?
-
–
Wie verändern sich solche Weltbilder, und wie verändern sich Interaktionsmuster?
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–
Wie entstehen aus den unterschiedlichen subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen gemeinsame familiäre Wirklichkeiten?
Die konstruktivistische Sicht des therapeutischen Prozesses bedeutet auch Abschiednehmen von der Annahme, man könne irgendwelche, von den Bedingungen der Beobachtung unabhängige, d. h. sog. objektive Aussagen über Patienten bzw. Familien machen und dementsprechend auch „objektiv richtige“ Therapiestrategien für „objektiv definierte“ Störungen entwickeln.
-
-
•
Eine Wirklichkeit, in welcher der Arzt (Therapeut) lebt und die Beschwerden bzw. Probleme der Patienten und ihrer Familien in seine Krankheits- bzw. Störungsnosologie einordnet und hieraus diagnostische und therapeutische Schritte plant, geprägt auch durch die beruflich-institutionellen Kontexte, sein methodisches Vorgehen und seinen biografischen Lebens- und Erfahrungshintergrund des Therapeuten: Als Konsequenz ergibt sich die Notwendigkeit, dass Therapeut und Familie bzw. Paar eine gemeinsame Wirklichkeit konstruieren, einen gemeinsamen Code entwickeln müssen. Voraussetzung hierfür sind auch eine gute „affektive Rahmung“ (Welter-Enderlin 1998) zur Förderung einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung zu jedem Einzelnen und zur Gesamtfamilie und eine gründliche Klärung des Überweisungs- und Erwartungskontextes sowie des Behandlungsauftrags.
Der Therapeut sagt z. B.: „Angenommen, Ihre bulimische Essstörung wäre plötzlich verschwunden, wer in der Familie würde die Veränderung als Erster bemerken? Wie würde sich der Alltag in der Familie verändern?“
Als Konsequenz konstruktivistischer Sichtweisen entwickelte sich auch der SystembegriffFamilientherapieSystembegriffPaartherapieSystembegriff: „Der Begriff „System“ steht für eine Abstraktion, er kann letztlich jeder Menge von Relationen zugeschrieben werden. Der Beobachter entscheidet, was er als System betrachten und wo er dessen Grenze sehen will. Wird über System gesprochen, so ist immer diese vom Beobachter vorgenommene Definition vorausgesetzt.“ (Simon und Stierlin 1984)
37.5.2
Krankengeschichte als Lebenserzählung (Narrativ)
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•
Welche familiären Lebenserzählungen durchziehen wie ein „roter Faden“ die Schilderungen der Familienmitglieder?
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•
Welche Wirklichkeitskonstruktionen im HinblickPaartherapieWirklichkeitskonstruktionenFamilientherapieWirklichkeitskonstruktionen auf Ätiologie, Verlauf und Bewältigung von Krankheiten bzw. von erfolgreichen Heilungsstrategien sind in diesen Erzählungen enthalten?
Patientengeschichte 2
Eine 41-jährige Pat. im fortgeschrittenen Stadium einer chronisch myeloischen Leukämie suchte ca. 3 Monate vor ihrem Tod die ambulante psychoonkologische Sprechstunde auf. In ihrer Herkunftsfamilie starben die meisten Mitglieder über Generationen hinweg an Schlaganfällen, meist mitten aus einem arbeitsreichen Leben heraus. Vor dem Hintergrund dieser Familientradition und dieser Familienerzählungen wurden die starken Ängste der Pat. verständlich, die sich vor allem darauf bezogen, anderen zur Last zu fallen und pflegebedürftig zu werden. Bis zu ihrem Tod versuchte sie konsequent, ihre große innere Not und Verzweiflung vor ihrem Ehemann und ihren Kindern geheim zu halten. Ein offenes Gespräch, eine Vorbereitung des Abschieds, waren in der Familien nicht möglich; bis zuletzt versuchte sie, ihre Rolle als Ehefrau und Mutter von vier noch recht kleinen Kindern verzweifelt durchzuhalten. In einem Brief kurz nach dem Tod seiner Frau schrieb mir der Ehemann: „Sie sind wohl der einzige, dem gegenüber meine Frau nicht nur ihre Hoffnung, sondern auch ihre Verzweiflung geäußert hat. Ein Gespräch mit Ihnen wäre mir daher sehr wertvoll.“
Im einmaligen Familiengespräch 6 Wochen nach dem Tod der Pat. mit den vier Kindern (3, 5, 7 und 9 Jahre) und ihrem Vater wurde das Angebot des Therapeuten dankbar aufgegriffen, über die vergangenen Wochen und Monate aus der Perspektive jedes einzelnen Familienmitglieds zu sprechen. Der Therapeut würdigte die Leistung der Gesamtfamilie zusammenzuhalten, die Mutter zu unterstützen, aber auch den Kontakt zu Freundinnen und Freunden aufrechtzuerhalten. Außerdem versuchte er das Verhalten der Mutter aus dem Lebenskontext ihrer Ursprungsfamilie verständlich zu machen.
In einem kleinen Ritual mit einem leeren Stuhl, stellvertretend für die verstorbene Mutter und Ehefrau, formulierte jedes Kind und der Vater, was sie der Mutter noch gern gesagt hätte und abschließend, wo sie in ihrem jeweiligen Erleben einen guten Platz finden könnte, um an sie zu denken und zu trauern.
37.5.3
Die Gliederung lebender Systeme in Subsysteme
Ein weitgehend lineares Ursache-Wirkungs-Denken führt vor allem auch therapeutisch in eine Sackgasse. Die Notwendigkeit zur tieferen Einsicht in die Dialektik von krankheitsbegünstigenden und protektiven (salutogenen) Faktoren bietet sich sowohl für den Therapeuten als auch für den Forscher als fruchtbare Perspektive an. Die vorschnelle psychische Stigmatisierung von Schwerkranken oder chronisch Kranken und ihren Familien führt lediglich zum raschen Abbruch therapeutischer Gespräche und nicht zu einem hilfreichen Zugang.
37.6
Grundhaltungen
37.6.1
Neutralität
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•
Soziale Neutralität NeutralitätsozialeTherapeutische Haltungsoziale Neutralitätgegenüber den Personen des Klientensystems, d. h. vor allem Einladungen zu moralischen Unterscheidungen im Sinne von „Opfer – Täter“, „Starke – Schwache“, „Recht – Unrecht“ nicht zu folgen
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•
Konstruktneutralität, d. hKonstruktneutralitätTherapeutische HaltungKonstruktneutralität. Enthaltsamkeit gegenüber Erklärungen, Lösungsideen und Meinungen, die innerhalb der Familie geäußert werden
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•
Veränderungsneutralität, d. hVeränderungsneutralitätTherapeutische HaltungVeränderungsneutralität. Einnehmen einer Metaposition gegenüber der Einladung zur positiven oder negativen Bewertung der Verhaltensweisen, die von der Familie als Problem angeboten werden
37.6.2
Ressourcen- und Lösungsorientierung
Patientengeschichte 3
Frau S. (40), Mutter des 6-jährigen Paul, wendet sich telefonisch auf Empfehlung einer Kinderklinik an die familientherapeutische Praxis. Frau S. schildert, dass bei Paul vor 2 Monaten die Diagnose eines Typ-1-Diabetes gestellt wurde. Seither sei die Familie in eine schwere Verunsicherungskrise geraten, obwohl Paul im stationären Rahmen im Umgang mit dem Diabetes gut geschult worden sei und die Familie den Diabetes ganz gut „im Griff“ habe. Erschwerend hinzu kämen zunehmende Spannungen zwischen Frau S. und dem Ehepartner im Umgang mit dem Diabetes. Auch der 42-jährige Vater von Paul leidet seit seinem 6. Lj. an einem insulinpflichtigen Typ-1-Diabetes.
Zum vereinbarten Termin erscheinen die Mutter (Sozialpädagogin, derzeit als Hausfrau und Mutter zu Hause), der Vater (Jurist), der Paul und seine 9-jährige Schwester Anna. Die Familie wirkt freundlich und fröhlich, gleichzeitig angespannt. Die Kinder steuern das Praxissofa an, nehmen nach Rücksprache mit den Eltern Platz und begutachten die Spielsachen.
Im Gespräch begegnet uns eine offene, freundliche Familie, die Kinder überwinden sehr rasch eine erste Scheu und bringen sich aktiv, interessiert und aufmerksam ins Gespräch ein. Dabei wird deutlich, dass der kleine Paul sehr im Mittelpunkt steht. Er unterstreicht seine Sonderposition, indem er sich stolz mit „Herrn Diabetes“ an seiner Seite präsentiert, verbunden mit „dem Papa, der auch noch einen ‚Herrn Diabetes‘ dabei hat, den aber schon länger kennt“. Anna, zunächst ein wenig zurückhaltend, erhofft sich vom Gespräch, dass sie wieder Freundinnen zur Übernachtung mitbringen kann; der Vater wünscht seinem Sohn einen „zwanglosen“ Umgang mit der Erkrankung; die Mutter erhofft sich ein neues familiäres Gleichgewicht.
Die Eltern berichten von Pauls „schockartig“ erlebten ersten hypoglykämischen Zustand, Anna von ihrer Betroffenheit, da zu dem Zeitpunkt, als Paul mit dem Notarzt in die Klinik gebracht wurde, gerade eine Freundin bei ihr übernachtete. Paul berichtet vom Klinikaufenthalt, dem regelmäßigen Übernachtungsbesuch eines Elternteils. Er lenkt während des Gesprächs den Aufmerksamkeitsfokus auf seine Erkrankung, fordert die mitgebrachten Gummibärchen ein und demonstriert, wie er selbstständig sein Insulin injizieren kann.
Im Gespräch wird rasch deutlich, dass vor uns eine sehr kompetente, einfühlsame und kommunikationsoffene Familie sitzt. Die Verunsicherung und Angst der Eltern, dass Paul, die Erfahrungen des Vaters mit familiärer Ausgrenzungstendenz und Unverständnis wiederholen muss, kann im systemisch geführten Familiengespräch thematisiert und durch die Fokussierung der sichtbar gewordenen familiären Ressourcen verringert werden. Auch Annas anfangs geäußerter Wunsch, wieder Freundinnen mit nach Hause zu bringen, wird als ihr hilfreicher Impuls aufgegriffen, der verhindern hilft, den Aufmerksamkeitsfokus der Eltern nur auf den erkrankten Bruder zu richten. Auch Anna will mit ihren Wünschen gesehen werden.
Es folgen zwei Paargespräche in mehrwöchigen zeitlichen Abständen, in denen die Eltern zum einen über den Umgang und die Bedeutung des väterlichen Diabetes in der vergangenen Paardynamik reflektieren. Zum anderen wird die aktuell veränderte und verunsicherte elterliche Rollenaufteilung im Umgang mit Pauls Diabetes thematisiert und neu abgestimmt: Herr S., bisher „Experte“ im Umgang mit dem Diabetes, jedoch tagsüber beruflich außer Haus, beginnt, seiner Frau Verantwortung zu überlassen und Vertrauen in ihren Umgangsstil mit Paul und seinem Diabetes zu entwickeln.
In einem größeren zeitlichen Abstand folgt ein weiteres Familiengespräch als „Prophylaxe“, damit jeder in der Familie einen guten Platz einnehmen kann. Anna berichtet als erste ganz zufrieden von ihren Freundinnenbesuchen, Paul von gemischten Erlebnissen mit seinem „Herrn Diabetes“, der ihn manchmal auch nervt, die Eltern von einer neu gefundenen Sicherheit im Umgang mit Pauls Erkrankung und seiner Sonderrolle. Sie berichten ein wenig stolz, dass Anna wieder mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt ist und die Familie wieder zu einer Alltagsnormalität zurückgefunden hat.
37.7
Therapeutische Techniken
37.7.1
Die Erstellung eines Genogramms
„Wir haben uns jetzt ausführlich über Ihr Problem unterhalten. Ich würde mir jetzt gern noch ein Bild darüber machen, welche Krankheiten in Ihrer Familie vorgekommen sind und welche Menschen zu Ihrer Familie gehören. Während Sie erzählen, zeichne ich diese Informationen gern gemeinsam mit Ihnen auf, nach Art eines Familienstammbaums, sodass ich mich dann auch später wieder daran erinnern kann, wer wer ist.“
-
•
„In Ihrer Familie befinden sich viele Menschen mit chronischen Kopf- und Bauchschmerzen. Wie denken Sie darüber?“
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•
„Sie waren damals 6 Jahre alt, als Ihr Vater starb … erinnern Sie sich noch an diese Zeit?“
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•
Hypothesengeleitetes Vorgehen
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Fragen als therapeutische Intervention
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Kontext- und Auftragsklärung
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Positive Konnotation
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•
Co-Therapie und reflektierendes Team
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Arbeit mit Familienskulpturen und Familienaufstellungen
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Therapiepausen und Abschlussinterventionen
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•
MultifamilientherapieMultifamilientherapie
37.7.2
Hypothesengeleitetes Vorgehen
Eine wichtige Arbeitsgrundlage zur Hypothesenbildung bildet das Genogramm, eine grafische Zusammenschau wichtiger biografischer Ereignisse sowie Angaben zu Beruf, Wohnort, Krankheiten usw. über drei oder mehr Generationen (Abb. 37.2).
37.7.3
Fragen als therapeutische Interventionen
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ErklärungsfragenErklärungsfragen: „Wie werden es sich Ihre Kinder erklären, wenn Sie, Frau A., ein halbes Jahr überhaupt keine depressiven Symptome mehr zeigen?“
-
•
Fragen, die gegenseitiges Sich-Bedingen nahelegen: „Was tut der Vater, wenn die Mutter sich depressiv zeigt, wie reagiert der jüngere Bruder, wie der ältere?“
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•
Hypothetische FragenFragenhypothetische: „Angenommen, Sie könnten sich jetzt endgültig von Ihrer Depression verabschieden, wer wäre am meisten überrascht davon? Welche konkreten Auswirkungen könnte das auf Lebensentscheidungen Ihres Mannes haben?“
37.7.4
Kontext und Auftragsklärung
-
•
Wie definiert der Überweiser das Problem?
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•
Welche Folgen hätten Veränderungen für die Beziehung des Überweisenden zu den Familienmitgliedern?
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•
Warum sucht die Familie gerade jetzt therapeutische Hilfe?
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•
Warum gerade in dieser Institution?
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•
Bestehen gleichzeitige Kontakte zu anderen Helfern und Institutionen?
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•
Worin bestehen die Vorerfahrungen der Klienten?
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•
Was verstehen die Familienmitglieder unter Therapie?
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•
Woran würden die Klienten erkennen, dass die Therapie erfolgreich verläuft?
37.7.5
Co-Therapie – reflektierendes Team
37.7.6
Arbeit mit Familienskulpturen
37.7.7
Abschlussintervention
Patientengeschichte 1 (Forts.)
In der Patientengeschichte 1 (Kap. 37.3) entfaltet sich folgendes Interaktionsmuster zwischen den Ehepartnern: Während bei Frau A. ein vorwurfsvoll forderndes Verhalten mit verdeckten symbiotischen Wünschen dominiert, wehrt Herr A. eigene Ängste ab, in die depressive Welt seiner Frau einbezogen zu werden, indem er Distanz sucht, anschließend jedoch wieder Schuldgefühle bekommt und seine Frau zu positivem Denken auffordert. Das aggressive Verhalten und die Leistungsverweigerung des ältesten Sohnes wird von den Therapeuten positiv konnotiert im Sinne eines Versuchs, der emotionalen Spannung in der Familie Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig wurde hervorgehoben, dass er durch seine Verhaltensauffälligkeiten indirekt auch einen wichtigen neuen Außenkontakt („Außenperspektive“) in Form einer therapeutischen Beziehung für die Familie schafft (und dadurch zugleich Unterstützung für seine anstehenden Individuationsschritte).
Familientherapiepositive KonnotationPaartherapiepositive KonnotationDie Veränderungen in der Paarbeziehung werden positiv konnotiert als notwendige Veränderungs- und Anpassungsprozesse im Sinne einer dynamischeren Beziehungsregulation, die nach der initialen, fast symbiotischen Nähe auch neue Distanzierungsmöglichkeiten erfordert. Die Verstärkung von beruflichen und Vereinsaktivitäten durch Herrn A. und das Engagement von Frau A. für andere betroffene Krebspatienten im Rahmen einer Selbsthilfegruppe werden so umgedeutet. Die intensive Suche nach symbiotischer Nähe zur Mutter beim jüngsten Sohn wird ebenfalls positiv konnotiert als Versuch, die Mutter zu unterstützen und ihre unausgesprochenen Ängste in seinem Verhalten auszudrücken.
37.7.8
Multifamilientherapie
Literaturauswahl
Geigges, 2014
Hendrischke and Altmeyer, 2012
Kröger and Altmeyer, 2000
McDaniel et al., 1997
Pinquart et al., 2014
Schweitzer et al., 2007
Von Schlippe and Schweitzer, 2006
Von Sydow et al., 2007
Von Sydow et al., 2010
Weinhold et al., 2014