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Entwicklungswege von Late-Talkern
Eine Late-Talkerverzögerte expressive Sprachentwicklung zählt zu den häufigsten Gründen, aus denen KleinkinderKleinkinder zur Untersuchung überwiesen werden (Rescorla 2013; Rescorla & Lee 2000; Whitehurst & Fischel 1994). Eine frühe expressive Sprachentwicklungsverzögerung ist oft Folge einer globaleren primären Störung (Rescorla & Lee 2000; Whitehurst & Fischel 1994), wie einer geistigen geistige BehinderungBehinderung/IntelligenzminderungIntelligenzminderung oder einer Autismus-Spektrum-Autismus-Spektrum-StörungStörung. Auch aufgrund von HörstörungenHörstörungen, neurologischen neurologische StörungenStörungen oder starker VernachlässigungVernachlässigung beginnen Kinder oft später zu sprechen. Wenn keine anderen Ursachen vorliegen, werden Kinder, die erst im Alter von 18–36 Monaten zu sprechen beginnen, oft als „Late-Talker“ bezeichnet. Bei einigen ist lediglich die expressive, bei anderen auch die rezeptive Sprachentwicklung verzögert.
Obwohl sich differenzialdiagnostisch leicht verschiedene Gruppen mit expressiver Sprachentwicklungsverzögerung (Kleinkinder mit Intelligenzminderung, Autismus-Spektrum-, Hörstörungen etc.) abgrenzen lassen, ist ihr Prozentanteil an der Gesamtbevölkerung weniger gut dokumentiert. In Deutschland ging eine Studie von Buschmann et al. (2008) dieser Frage nach; sie untersuchten 100 Zweijährige, bei denen niedergelassene Kinderärzte eine expressive Sprachentwicklungsverzögerung festgestellt hatten (65 % Jungen): 78 der 100 Kinder waren Late-Talker, bei 18 ging die Sprachentwicklungsverzögerung mit einer kognitiven kognitive StörungenStörung einher, bei 4 Kindern lag ein Autismus vor. Bezüglich der Geschlechterverteilung, der Stellung in der Geschwisterreihe und des Bildungsgrads der Mutter bestanden keine Unterschiede zwischen den drei Gruppen. Für 40 % der Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung, aber nur für 4 % der Kinder mit typischem Erwerb wurde eine familiäre Sprachstörung in der Anamnese angegeben. Von den 78 Late-Talkern hatten 61 eine rein expressive und 17 eine kombinierte rezeptiv-expressive Entwicklungsverzögerung. Nur bei Late-Talkern mit einer rezeptiv-expressiven Verzögerung lag der nonverbale IQ:nonverbalerIQ unter dem von typisch entwickelten Kindern, nicht hingegen bei Late-Talkern mit rein expressiver Verzögerung.
Kinder mit sekundärer Sprachentwicklungsverzögerung infolge einer Autismus-Spektrum-Störung bzw. Intelligenzminderung machen tendenziell nur langsame Fortschritte und erreichen mitunter nie ein normales Sprachniveau. Dagegen haben Late-Talker trotz variabler Entwicklungsverläufe im Allgemeinen prognostisch bessere Aussichten. In diesem Kapitel werden die Ergebnisse unterschiedlicher Studien:epidemiologischeStudiendesigns zusammengefasst:
•
kleinformatige LängsschnittstudienLängsschnittstudien mit Late-Studien:LängsschnittstudienTalkern und
•
groß angelegte epidemiologische epidemiologische StudienStudien mit Kleinkindern. Late-Talker:Studien
Typische Ausschlusskriterien für die kleineren Studien waren Hörstörungen, neurologische Störungen, Autismus-Spektrum-Störungen und Intelligenzminderung. In einigen Stichproben wurden auch Kinder mit rezeptiver Sprachentwicklungsverzögerung ausgeschlossen, so etwa in der Kohortenstudie von Rescorla (2013). Wie unten erläutert, liegen zwar aus mehreren kleineren Late-Talker-Studien Studien:Late-TalkerDaten für Siebenjährige vor, doch für höhere Altersgruppen hat bisher nur Rescorla (2002, 2005, 2009) erste Untersuchungsergebnisse veröffentlicht. In den groß angelegten epidemiologischen Studien sind möglicherweise Kinder mit einer sekundären Sprachentwicklungsverzögerung (infolge einer primären Störung) nicht ausgeschlossen worden. Meines Wissens erstreckt sich der längste Nachbeobachtungszeitraum (Follow-up) dieser epidemiologischen Studien derzeit bis zu einem Alter von 7 Jahren.
4.1
Ergebnisse kleiner Late-Talker-Studien
4.1.1
Ergebnisse (Outcomes) bei Kindern im Vorschulalter
1
und damit innerhalb des Normalbereichs (Anm. d. Hrsg.)
2
Ein Wert <70 zeigt eine kognitive Entwicklungsstörung an; dies entspricht 2 Standardabweichungen (Anm. d. Hrsg.)
4.1.2
Ergebnisse für Kinder im Schulalter
•
Im Alter von 6 Jahren betrugen die Unterschiede (d) zwischen Late-Talker- und Vergleichsgruppe: d=0,85 für den WortschatzWortschatz (Aggregat aus TOLD Oral Vocabulary and Picture Vocabulary), d=0,64 für die GrammatikGrammatik (Aggregat aus TOLD Grammatic Completion and Grammatic Understanding), d=0,91 für die PhonologiePhonologie (Aggregat aus TOLD Word Discrimination plus Aufgaben wie Phonem-Auslassung und Angleichen initialer Konsonanten) sowie d=1,26 für das Imitieren von Sätzen (TOLD Sentence Imitation). Keine Unterschiede zeigten sich beim RedeflussRedefluss, bei Schnellbenennungs-Schnellbenennung oder LeseaufgabenLeseaufgaben.
•
Im Alter von 7 Jahren unterschieden sich Late-Talker- und Vergleichsgruppe signifikant (d=1,53) im WortschatzWortschatz, einem Aggregat aus dem Vokabular-Subtest der Wechsler Intelligence Scale for Children-Revised (WISC-R; Wechsler 1974) und dem Boston Naming Test (Kaplan, Goodglass & Weintraub 1983). Keine Unterschiede zwischen den Gruppen zeigten sich in Bezug auf die GrammatikGrammatik, wobei das Aggregat die Subtests Formulieren von Sätzen3
, Wortstruktur43
Vorgabe eines Bildes und eines Zielwortes, zu denen ein Satz formuliert werden soll (Anm. d. Hrsg.)
und Satzstruktur54
Satzergänzungsaufgabe, bei der ein Wort mit passender morphologischer Endung ergänzt werden soll (Anm. d. Hrsg.)
der Clinical Evaluation of Language Fundamentals-Revised (CELF-R; Semel, Wiig, Secord & Sabers 1987) beinhaltete, sowie in Bezug auf PhonologiePhonologie- oder Lese-Aggregate. Dass sich auch keine Gruppenunterschiede in den drei WISC-R-Subtests Block-Design, Bildanordnung und Arithmetik fanden, weist auf vergleichbar gute nonverbale Fähigkeitennonverbale und mathematische mathematische FähigkeitenFähigkeiten der Siebenjährigen hin.5
Satz-Bild-Zuordnungsaufgabe (Anm. d. Hrsg.)
•
Im Alter von 8 Jahren schnitten die Kinder der Late-Talker-Gruppe in allen vier „Test-Aggregaten“ deutlich schlechter ab: In Bezug auf den WortschatzWortschatz (CELF-R Wörter assoziieren6
und Wortarten76
Wortflüssigkeitsaufgabe (Anm. d. Hrsg.)
) betrug der Unterschied zur Vergleichsgruppe d=1,05, in Bezug auf die GrammatikGrammatik (CELF-R Linguistische Konzepte87
Nach Vorgabe von 3 oder 4 Wörtern soll das inhaltlich assoziierte Wortpaar genannt werden (Anm. d. Hrsg.)
, Formulieren von Sätzen98
Verständnis von Funktionswörtern wie Konjunktionen, Quantoren etc. (Anm. d. Hrsg.)
, Anordnung von Sätzen109
Zu einem vorgegebenen Wort soll ein Satz formuliert werden (Anm. d. Hrsg.)
) d=0,94, in Bezug auf das HörverständnisHörverständnis (CELF-R Semantische Relationen1110
Vorgabe von Sätzen mit falscher Wortstellung, die korrigiert werden sollen (Anm. d. Hrsg.)
und Hören von Textabschnitten1211
Vorgabe eines oder mehrerer Sätze, danach soll eine Frage dazu beantwortet werden (Anm. d. Hrsg.)
) d=1,24 und in Bezug auf das LesenLesen, gemessen mit den Subtests Buchstaben-Wort-Erkennen und Verstehen von Textpassagen der Woodcock-Johnson Psychoeducational Battery-Revised (WJ-R; Woodcock & Johnson 1989), d=0,84.12
Vorgabe eines Textes, danach sollen Fragen dazu beantwortet werden (Anm. d. Hrsg.)
•
Im Alter von 9 Jahren war zwischen beiden Gruppen ein signifikanter Unterschied von d=0,72 hinsichtlich der Subtests Basales Lesen und Leseverständnis des Wechsler Individual Achievement Test (WIAT; Wechsler 1992) sowie der Subtests DiktatDiktat und SchreibenSchreibproben der WJ-R festzustellen.
4.1.3
Ergebnisse bei Jugendlichen
13
Zu einem schriftlich vorgegebenen Wort sollen aus einer Auswahl mehrerer weiterer Wörter zwei zum Stimuluswort passende Wörter gefunden werden (Anm. d. Hrsg.)
14
Aus drei auditiv präsentierten Sätzen sollen die beiden Sätze mit identischer Bedeutung ausgewählt werden (Anm. d. Hrsg.)
15
Aus fünf schriftlich präsentierten Sätzen sollen die beiden Sätze mit identischer Bedeutung ausgewählt werden (Anm. d. Hrsg.)
16
Nach Vorgabe eines ambigen Satzes sollen die beiden möglichen Bedeutungen paraphrasiert werden (Anm. d. Hrsg.)
4.2
Ergebnisse epidemiologischer Studien
4.2.1
Sprachtestergebnisse bis zum Alter von 18–24 Monaten
4.2.2
Sprachtestergebnisse von Kindern ab 16–18 Monaten
4.2.3
Sprachtestergebnisse über 24 Monate alter Kinder
4.3
Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
4.3.1
Sprachbegabungsspektrum – ein (mehr)dimensionaler Erklärungsansatz
4.3.2
Sprachbegabung und sprachliche Leistungen
4.4
Fazit und Ausblick
•
Eine Untergruppe könnte z. B. aus Jungen der Mittelschicht (aus Familien mit mittlerem sozioökonomischem Status und mit Fällen von Sprach- bzw. Leseschwierigkeiten) bestehen, die als Late-Talker diagnostiziert wurden und normale kognitive Fähigkeiten haben, die jedoch bei anspruchsvolleren Aufgaben gewisse Schwächen (in Bezug auf verbales ArbeitsgedächtnisArbeitsgedächtnis/SprachverarbeitungSprachverarbeitung, höhere Grammatikebenen:höhereGrammatikebenen, LeseverständnisLeseverständnis) erkennen lassen – was in etwa den von Rescorla, Thal, Marchman, Tomblin, Paul und Ellis Weismer beschriebenen „recovered late talkers“ entsprechen würde, die ihren Rückstand aufgeholt haben.
•
Eine andere Untergruppe könnten Kinder aus der UnterschichtsfamilienUnterschicht (Familien mit niedrigem sozioökonomischer Statussozioökonomischem oder MinderheitenstatusMinderheitenstatus, in denen noch keine Sprachverzögerung vorkam, das BildungsniveauBildungsniveau der Eltern aber generell niedrig ist) bilden, die nicht als Late-Talker eingestuft wurden und durchschnittliche phonologische phonologische FähigkeitenFähigkeiten haben, während ihre nonverbalen nonverbale FähigkeitenFähigkeiten im unteren Normalbereich liegen. Wenn sie älter werden, bleiben ihre lexikalischen, grammatischen und diskursiven diskursive FähigkeitenFähigkeiten jedoch zunehmend hinter den Altersanforderungen zurück.
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