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978-3-437-44536-1
Elsevier GmbH
Medialer Schnitt der linken Hemisphäre
[V492]

Diagnostische Betrachtung des Polterns in den Bereichen Sprechtempo und Phonetik
[V492]

Unflüssigkeiten und sprachliche Auffälligkeiten bei Poltern
[V492]

Differenzierung von Poltern und Stottern in Anlehnung an Friedrich (2005)
Merkmal | Poltern | Stottern |
Störungsbewusstsein | besteht teilweise nicht | besteht |
Beginn | mindestens 7. Lj., teilweise zusätzlich Sprachentwicklungsstörung | meist vor dem 7. Lj. (d. h. in der Kindheit) |
Verlauf | kontinuierlich, häufig keine Begleitsymptome | spontane Remission, fluktuierend, häufig Begleitsymptomatik |
Verbindung mit anderen Kommunikationsstörungen | möglich: Artikulationsstörung, LRS, spezifische Sprachentwicklungsstörung | meist keine |
Psychomotorik | teilweise dysrhythmisch | emotional gehemmt |
Symptomatik | erhöhte und irreguläre Artikulationsrate, Auslassungen, Umstellungen u. v. a. | Wiederholungen, Dehnungen, Blockierungen |
Schriftsprache betroffen | möglich | nein |
Aufmerksamkeit | verbessert Symptomatik | verschlechtert Symptomatik |
Alkohol | verschlechtert Symptomatik | verbessert Symptomatik |
verzögerte auditive Rückkopplung (Lee-Effekt) | verschlechtert Symptomatik | verbessert Symptomatik |
Informelles Bewertungsverfahren für Poltern – Kombination aus dem modifizierten Diagnostikverfahren nach Sick (2004) und dem Polterkontinuum nach WardPolterkontinuum nach WardPolterkontinuum nach Ward (2007)PolterspektrumPolterspektrumPolternPolternPoltern:schweresPoltern:schweres
Bewertung einer Poltersymptomatik zur Einordnung in das Polterkontinuum | |
Symptome | Punktwert |
Sprechtempo | |
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/2 |
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/2 |
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/4 |
Phonetik | |
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/2 |
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/1 |
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/1 |
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/1 |
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/1 |
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/6 |
Unflüssigkeiten | |
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/1 |
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/2 |
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/3 |
Sprache | |
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/1 |
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/1 |
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/1 |
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/6 |
Redundante Symptome | |
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/2 |
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/2 |
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/14 |
Intrinsische Parameter | |
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/1 |
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/1 |
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/2 |
Gesamtpunktzahl | /35 |
Bewertung einer Poltersymptomatik zur Einordnung in das Polterkontinuum | |
Bewertung Schweres Poltern: 28–35 Punkte Poltern: 18–28 Punkte Polterspektrum: 8–18 Punkte Normales Sprechen: 0–8 Punkte |
Poltern im Jugend- und Erwachsenenalter
Fallbeispiele
Herr K. (34 Jahre)
Daniela (16 Jahre)
Die Fallbeispiele von Herrn K. und Daniela zeigen, dass Poltern trotz seiner geringen Prävalenz von 0,4 % (Neumann & Sick 2004) in der Logopädie als Störungsbild wahrgenommen und differenziert betrachtet werden muss. Herr K. weist das typische Bild einer PoltersymptomatikPoltersymptomatik auf. Er spricht mit stark erhöhter Artikulationsrate, geringer Pausensetzung und wenig Betonung. Dass sein eigenes Kommunikationsmuster inadäquat ist, nimmt er jedoch kaum wahr (St. Louis & Schulte 2011; Sick 2004). Von vielen Zuhörern wird Poltern als ein sehr störendes Phänomen empfunden, das häufig negative Assoziationen hervorruft. Mit Poltern werden oftmals geringe Intelligenz und Unaufmerksamkeit in Verbindung gebracht (Halevy et al. 2007). Das Symptombild von Herrn K. ist aber nur eine von vielen Formen, wie sich Poltern abbildet. Häufig fallen polternde Menschen im Alltag viel weniger auf, wie das Beispiel von Daniela zeigt. Bei den meisten Patienten mit einer Poltersymptomatik besteht jedoch ein hoher Leidensdruck mit schwerwiegenden Folgen, wie etwa Sprechangst, Vermeidungsverhalten und sozialer Rückzug.
Poltern tritt mit sehr unterschiedlichen Symptomen und unterschiedlichen Schweregraden auf. Aus diesem Grund fällt es selbst Experten schwer, sich bezüglich der Kernsymptomatik und der Definition von Poltern zu einigen (vgl. St. Louis & Schulte 2011; Van Zaalen et al. 2011a; Ward 2011a). Durch die geringe Prävalenz von Poltern werden wissenschaftliche Untersuchungen zur Ausprägung und Abgrenzung der Störung zusätzlich erschwert.
Für viele behandelnde Therapeuten ergeben sich demnach diagnostische Unsicherheiten in Bezug auf die Entscheidung, ob überhaupt Poltern vorliegt, wie die Symptome miteinander in Beziehung stehen und welche Aspekte des Polterns im Zentrum der Behandlung stehen sollten. Unsystematische und kaum evidenzbasierte Darstellungen des Störungsbildes erschweren sowohl die Diagnostik als auch die Behandlung polternder Patienten.
Im folgenden Kapitel wird anhand der Literatur und aktueller Studienergebnisse das Störungsbild Poltern (Definition, Prävalenz, Ursachen, Symptome und Begleitstörungen) dezidiert für die logopädische Diagnostik beschrieben. Dies soll eine differenzierte Betrachtung und Zuordnung der Symptome zu verschiedenen Parametern der Sprache und des Sprechens ermöglichen sowie die Notwendigkeit einer Differenzialdiagnostik verdeutlichen. Abschließend wird mit dem Polterkontinuum nach Ward (2007a)Polterkontinuum nach Ward eine Möglichkeit für die Beurteilung von Art und Ausmaß einer vorliegenden Störung vorgestellt und diskutiert.
11.1
Definition
•
Laut Definition der World Health Organization (WHO) kommen stottertypische Symptome wie Wiederholungen nicht vor, stattdessen wird hauptsächlich der schwankende, schnelle und dysrhythmische RedeflussRedeflussstörung betont (WHO 1992: 227).
•
Die American Speech-Language-Hearing Association (ASHA) bezieht UnflüssigkeitenUnflüssigkeiten, sprachliche und phonologische Störungen sowie Aufmerksamkeitsdefizite in ihre Definition mit ein (ASHA 1999: 10).
•
Die American Psychiatric Association (APA) hebt neben den sprachlichen Defiziten das fehlende Störungsbewusstsein hervor (APA 1987: 10).
•
Ward (2006: 152) hingegen führt lediglich die mit Poltern assoziierten Sprach- und Sprechsymptome auf.
a.
hochfrequentes Auftreten von ‚normalen‘ Unflüssigkeiten;
b.
exzessives ‚Zusammenbrechen‘ oder Elisionen von Silben; und/oder
c.
abnormale Pausen, Silbenbetonung oder Sprechrhythmus.“
11.2
Prävalenz
11.3
Ursachenhypothesen
11.3.1 Genetische Disposition
11.3.2 Zentrale Beeinträchtigung
Mit dem ACC werden die bewusste Steuerung des Sprechablaufs, die gerichtete Aufmerksamkeit sowie das höchste Level der Fehlerkorrektur assoziiert. So lenkt der ACC die Aufmerksamkeit auf die Handlungsdurchführung.
Den pre-SMA werden Funktionen wie Satzbau und Auswahl der Wortformen zugeordnet, während die SMA-proper für die Artikulation und die Artikulationsrate verantwortlich sind. Gemeinsam mit dem ACC bilden diese supplementär-motorischen Areale das Zentrum der Spontansprache, in dem alle linguistischen Komponenten der links-lateralen Kortexregion verknüpft werden.
Die Basalganglien sind als letzte Instanz für die Auswahl jedes einzelnen Wortes zuständig.
•
Motivation und Ausführung einer Handlung
•
Inhibition von Impulsen
•
Aufmerksamkeit, Kontrolle und Korrektur einer sequenziellen Handlung
•
Planung von sequenziellen Handlungen
•
Selektion von Worten und Wortformen
•
Ausführung und Steuerung von sequenziellen Handlungen (Alm 2011: 6)
11.3.3 Kognitive Defizite
•
sprachliche Prozesse
•
Aufmerksamkeit
•
zentral auditive Aufmerksamkeit
•
sprechmotorische Funktionen und
•
multiple kognitive systemverbundene Erklärungsmodelle
Zusammenfassend ist anzunehmen, dass Poltern Poltern:Ursachenaus einem multifaktoriellen Ursachengefüge heraus entsteht. So können sämtliche Defizite in den genannten Bereichen ursächlich für das Poltern sein. Häufig sind bei den Betroffenen das Sprachsystem, die Aufmerksamkeit, die motorische Sprechkontrolle und die auditive Aufmerksamkeit betroffen.
Eine multikausale Annahme erleichtert einerseits die Frage nach der Ursache, erschwert andererseits aber die diagnostischen Möglichkeiten, da es dann viele Parameter für die Diagnosestellung zu betrachten gilt (Daly & Burnett 1996: 239).
Ferner sind die bisher veröffentlichten Theorien nicht zufriedenstellend mit Evidenzen belegt; daher besteht weiterer Forschungsbedarf, um die Ursachen des Polterns definitiv zu klären.
11.4
Mögliche Begleitstörungen
•
Bei Kindern, die poltern, zeigen sich mehr Probleme im Sprechfluss; besonders in Situationen, in denen es ihnen nicht gelingt, die Sprechrate an die linguistischen bzw. die motorischen Anforderungen anzupassen.
•
Bei Kindern mit einer Lernbehinderung hingegen zeigen sich Probleme in der Konzeptualisierung und dem lexikalischen Abruf. Dadurch verlangsamt sich ihre Sprechrate beim Nacherzählen von Geschichten, ohne jedoch Ausdruck eines zugrundeliegenden Polterns zu sein.
Begleitstörungen des Polterns
•
Poltern:BegleitstörungenBegleitstörungen:PolternStottern
•
Störungen der Sprache und Schriftsprache
•
Artikulationsstörung
•
Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung
•
Lernbehinderung
•
Störungen der Aufmerksamkeit
•
Pragmatische Störungen
•
Motorische Auffälligkeiten
•
Autismus-Spektrum-Störung
•
Persönlichkeitsmerkmale
11.5
Symptome
1.
Sprechtempo
2.
Phonetik
3.
Unflüssigkeiten
1
Das Ziel dieser Untersuchung lag in der Identifikation derjenigen Poltersymptome, die es ermöglichen, Poltern tatsächlich von normalen Sprechunflüssigkeiten zu unterscheiden. Anhand einer Spontansprachanalyse von drei Personengruppen: Personen, die poltern (n=8), Personen, die normal sprechen (n=31), und Personen, deren Sprechen im Polterspektrum liegt (n=11), konnten relevante Symptome ermittelt werden (vgl. Kunz 2012).
11.5.1 Sprechtempo
Sprechgeschwindigkeit/Artikulationsrate
•
im Verhältnis zur vorgegebenen Norm(al)geschwindigkeit,
•
hinsichtlich der Fähigkeit, Sprechbewegungen zu sequenzieren,
•
und der Fähigkeit, Aussagen zu formulieren und zu enkodieren.
Für die Beurteilung des Polterns in Diagnostik und Forschung ergibt sich daraus die Forderung, die Sprechgeschwindigkeit mehrdimensional zu verstehen und sie nicht allein nach der Anzahl der Silben pro Minute zu definieren.
Schwankungen der Sprechgeschwindigkeit/Artikulationsrate
11.5.2 Phonetik
11.5.3 Unflüssigkeiten
In der Studie von Kunz (2012) zeigten sich nur für zwei der als poltertypisch beschriebenen Unflüssigkeiten signifikante Ergebnisse, sodass man Poltern damit klar vom Normalsprechen abgrenzen kann: zum einen Wortwiederholungen und zum anderen Wortabbrüche.
Interessanterweise ergab die Studie aber auch für Dehnungen, die zu den stottertypischen Unflüssigkeiten zählen, signifikante Werte.
11.5.4 Sprachliche Defizite
•
Die morphologisch-syntaktischen Symptome morphologisch-syntaktische Symptometreten insbesondere bei komplexen Satzgefügen auf (vgl. Van Zaalen et al. 2011a; Sick 2004; Hirsch 1974). Schwierigkeiten scheint vor allem die Subjekt-Verb-Kongruenz und der Gebrauch von Konjunktionen und Präpositionen zu bereiten.
•
Die semantisch-lexikalischen Symptome semantisch-lexikalische Symptometreten im Rahmen eines eingeschränkten Wortschatzes bzw. von Wortfindungsstörungen auf. Letztere können auch Interjektionen bedingen bzw. ungünstig beeinflussen (vgl. Sick 2004).
•
Störungen der sprachlichen Strukturierung sprachliche Strukturierung, Störungenführen zu Defiziten in der Kohärenz und der Kohäsion (vgl. Sick 2004; Myers 1996).
11.5.5 Pausen
Die Poltern:Pausensetzunginadäquate PausensetzungPausensetzung variiert in ihrer Ausprägung und lässt sich anhand des äußeren Erscheinungsbildes (Form), der Lokalisation (Ort) und als auffällige bzw. unauffällige Pausensetzung (Art) beschreiben.
•
Erstere nutzt der Sprecher, um Aussagen zu betonen oder sich in der Rede neu zu strukturieren. Diese Pausen Pausen:konventionelle/idiosynkratischewerden in der Regel nach einer phonologischen Phrase gesetzt.
•
Idiosynkratischen Pausen hingegen entstehen durch syntaktische und/oder lexikalische Unsicherheiten. Sie werden häufig in phonologischen Phrasen gesetzt und folglich als auffällig bewertet (Sick 2004).
Pragmatik und Sprachplanung sind die Schlüsselfunktionen der Pausen:FunktionenPausen.
11.5.6 Selbstwahrnehmung
11.6
Betrachtung von Poltersymptomen im diagnostischen Prozess
11.7
Das Polterkontinuum nach Ward
Fallbeispiel
Obwohl sich bei Frau G. (33 Jahre) in der Diagnostik nur wenig Unflüssigkeiten zeigen, ist ihr Störungsbewusstsein hoch. Dies wird insbesondere in ihrem Beruf noch dadurch verstärkt, dass sie vor allem von ihrer Vorgesetzen nur schwer verstanden und vermehrt darauf hingewiesen wird, sich diesbezüglich behandeln zu lassen. Frau G. nimmt zwar ihre Symptome wahr, kann ihr Sprechen jedoch kaum kontrollieren. Die Logopädin steht nun vor dem Dilemma, dass angesichts der geringen Symptomatik eine klare Polterdiagnose zu schwerwiegend wäre, Frau G. sich aber dringend Hilfe wünscht. Ohne klare Diagnose ist dies jedoch kaum möglich.
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