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Kommunikative und sozial-kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs
Für jeden aufmerksamen Beobachter steht außer Frage, dass Kinder schon kommunizieren, bevor sie sprechen können. Viele Tierarten kommunizieren miteinander, allerdings hat sich nur bei Menschen ein sprachliches Kommunikationssystem entwickelt, das es ihnen ermöglicht, neue Bedeutungen zu schaffen, Informationen über Generationen zu erhalten, zu vermitteln und symbolisch (z. B. in Schriftform) zu speichern. Umso erstaunlicher ist, dass sich die Mehrheit der Menschen untereinander sprachlich nicht verständigen kann, da weltweit über 6.000 verschiedene Sprachen mit unterschiedlichen symbolischen Codes benutzt werden. Worauf basiert diese außergewöhnliche Form der Kommunikation? Das vorliegende Kapitel geht von der Hypothese aus, dass die sprachliche Kommunikationsfähigkeit ihren Ursprung in einzigartigen Formen vorsprachlicher Kommunikation:vorsprachlicheKommunikation und nonverbaler Interaktion hat, die auf einem nonverbalen Verstehen beruhen und der Sprache kausal vorausgehen.
3.1
Sozial-pragmatische Ursprünge menschlicher Kommunikation
3.2
Wie kommunizieren Kleinkinder?
1.
eine deutliche Absicht (Intentionalität) im kommunikativen Verhalten, d. h. dass mit dem kommunikativen Verhalten eine klare Erwartung an das Verhalten des anderen verbunden ist bzw. dass Kinder mit ihrer Kommunikation:IntentionalitätKommunikation bestimmte Ziele verfolgen (kommunikative Absicht) und
2.
eine Bezugnahme auf Dinge außerhalb der dyadischen Situation (referentielle Absicht), durch die sich die Kommunikation zu einer sog. triadischen Interaktionen:triadischeInteraktion erweitert (Tomasello 2002).
3.2.1
Kommunikative Absicht
Beispiel 1
In einer Versuchsanordnung saßen 12 Monate alte Kinder in einiger Entfernung vor einer Bettlakenwand, hinter der von Zeit zu Zeit eine Puppe hervorlugte, ein Licht blinkte oder Ähnliches passierte (Liszkowski et al. 2004). Die einjährigen Kinder deuteten jeweils spontan auf diese Ereignisse. Die Versuchsleiterin reagierte unterschiedlich darauf, um zu testen, welche Absicht die Kinder mit dem Zeigen verfolgten.
•
Wenn die Versuchsleiterin nicht reagierte, versuchten die Kinder ihr kommunikatives Ziel mit mehr Nachdruck zu erreichen, indem sie ihr Signal durch wiederholtes Zeigen und Vokalisationen verstärkten.
•
Wenn die Versuchsleiterin nie reagierte, sank die Zeigerate über mehrere Durchgänge hinweg signifikant im Vergleich zu einer Versuchsbedingung, in der die Versuchsleiterin kommunikativ auf das Zeigen reagierte.
3.2.2
Referentielle Absicht
Die zitierten Studien belegen eine Veränderung in der Art, wie Säuglinge kommunizieren. Nachdem sie zunächst in ProtokonversationenProtokonversationen eine Sensitivität gegenüber kontingenten Handlungen entwickeln, hegen die Kinder gegen Ende des ersten Lebensjahres die Erwartung, dass (1.) kommunikatives Verhalten ein Verhalten des Gegenübers bedingt (kommunikative kommunikative AbsichtAbsicht) und dass sich (2.) das kommunikative Verhalten auf etwas außerhalb der dyadischen Interaktion bezieht (referentielle referentielle AbsichtAbsicht). Dies gilt sowohl für die Produktion als auch das Verständnis kommunikativer Signale. Damit eröffnet sich dem Kleinkind die Möglichkeit, sich mit anderen zielgerichtet über Dinge auszutauschen und so in die soziokulturellen Gepflogenheiten der Gemeinschaft hineinzuwachsen – insbesondere in Bezug auf den Sprachgebrauch (Tomasello 2003) und den Erwerb kulturell akkumulierten Wissens (Csibra & Gergeley 2009).
3.3
Warum kommunizieren Kleinkinder?
•
um von anderen Hilfe einzufordern (Motiv des Forderns; „imperatives Zeigenimperatives Zeigen“, Bates et al. 1975);
•
um anderen Hilfe anzubieten (Motiv des Helfens; „informatives Zeigeninformatives Zeigen“, Liszkowski et al. 2006);
•
um ihr Interesse mitzuteilen (Motiv des Teilen-Wollens; „expressives Zeigenexpressives Zeigen“, Camaioni 1993; Liszkowski et al. 2004).
3.3.1
Expressives Zeigen
3.3.2
Informierendes Zeigen
3.3.3
Imperatives Zeigen
Für Kleinkinder ist das imperative Zeigen ein kommunikatives Signal, mit dem sie aus einer Distanz heraus anderen verdeutlichen können, dass und was sie haben wollen. Sie wählen eine kooperative Strategie und fordern andere auf, ihnen zu helfen, selbst wenn ihnen eine individuelle Lösung möglich wäre. Schimpansen hingegen verfügen nur über eine individuelle Handlungsstrategie: Sie verdeutlichen ihre Absicht durch einen individuellen Handlungsversuch, nicht durch kooperative Kommunikation:kooperatives FordernKommunikation.
Beim fordernden Zeigen von Kleinkindern, das natürlich immer auch selbstbezogen ist, handelt Zeigen:forderndes Motiv (s. imperatives Zeigen)es sich also eher um ein „kooperatives Fordern“ in dem Sinne, dass es in einen vollständigen kommunikativen Akt eingebettet ist, der auf einem kooperativen Prozess beruht (Van der Goot, Tomasello & Liszkowski 2013).
3.4
Was verstehen Kleinkinder von den Handlungen ihrer Interaktionspartner?
Beispiel 2 und 3
In einer Verständnisaufgabe (Southgate et al. 2010) wurden 17 Monate alte Kleinkinder mit einer Versuchsleiterin vertraut gemacht, die von ihnen wiederholt ein Objekt aus je einer von zwei Kisten haben wollte. Als die Versuchsleiterin kurz das Zimmer verließ, kam eine zweite Versuchsleiterin und vertauschte die beiden Objekte in den Kisten. Dann kehrte die erste Versuchsleiterin zurück und zeigte wie zuvor auf eine der beiden Kisten, um das gewünschte Objekt zu bekommen. Nun öffneten die Kinder allerdings mehrheitlich die andere Kiste, um ihr das darin befindliche Objekt zu geben. Nach ihrem Verständnis musste die Versuchsleiterin das Objekt meinen, das jetzt in der anderen Kiste lag – weil sie nicht dabei war, als die beiden Objekte vertauscht wurden, und demzufolge eine falsche Vorstellung von der Wirklichkeit hatte. Wenn die Versuchsleiterin allerdings im Raum blieb und wusste, welches Objekt nach dem Tausch in der Kiste lag, auf die sie zeigte, öffneten die Kinder genau diese Kiste.
In einem ganz ähnlichen Experiment (Buttelmann, Carpenter & Tomasello 2009) sahen 18 Monate alte Kleinkinder, dass der Versuchsleiter in einer von zwei Kisten ein Objekt aufbewahrte.
Während des Tests sollten die Kinder ihm helfen, eine der Kisten zu öffnen. Wenn der Versuchsleiter nicht wusste, dass das Objekt in seiner Abwesenheit in die andere Kiste gesteckt worden war, nahmen die Kinder an, er suche das Objekt, und öffneten für ihn die andere Kiste, in der sich das Objekt nun befand. Wenn der Versuchsleiter den Ortswechsel jedoch gesehen hatte, nahmen die Kinder offenbar an, er wolle einfach die leere Kiste öffnen, und halfen ihm entsprechend dabei.
Beispiel 4
In einem neuen „Interventionsparadigma“ sahen 18 und 24 Monate alte Kinder zu, wie eine Versuchsleiterin ein Objekt suchte und es in einer von mehreren Kisten fand (Knudsen & Liszkowski 2012a). Während sie kurz den Raum verließ, versteckte eine zweite Versuchsleiterin das Objekt in einer anderen Kiste. Als die erste Versuchsleiterin zurückkam, zeigten die Kinder spontan und ohne Aufforderung auf den neuen Fundort des Objekts – offenbar in Erwartung, dass die Versuchsleiterin sonst einen Fehler begehen würde.
In Kontrollversuchen hatte die Versuchsleiterin entweder eine andere Absicht (eigentlich wollte sie nur die Kisten putzen und stieß zufällig auf das Objekt) oder wusste, wo sich das Objekt befand (weil sie gesehen hatte, dass es in eine andere Kiste gesteckt worden war). In diesen Situationen gab es keinen Grund anzunehmen, der Versuchsleiterin könnte ein Fehler unterlaufen – daher intervenierten die Kinder signifikant seltener.
In einer Nachfolgestudie zeigte sich, dass die Kinder nicht nur annahmen, die Versuchsleiterin wüsste nicht, wo das Objekt war, sondern hätte auch eine falsche Vorstellung, an welchem Ort es sich befände. Die Kinder erwarteten also eine spezifische falsche Handlung von ihr (Knudsen & Liszkowski 2012b).
3.5
Ontogenetische Ursprünge, Modalität und weitere Entwicklung vorsprachlicher Kommunikation
Kleinkinder benutzen schon ein gutes Jahr, bevor sie repräsentationale Gesten anderer verstehen oder produzieren, symbolische LautäußerungenLautäußerungen (Worte). Die Wortproduktion entwickelt sich nach der Zeigegeste und wird zunächst häufig mit ihr gekoppelt (Iverson & Goldin-Meadow 2005). In der Entwicklung von deiktischer zu repräsentationaler Kommunikation findet also ein Wechsel in der Gewichtung der Modalitäten statt.
•
Deiktische Kommunikation:deiktischeKommunikation ist zunächst gestisch, vermutlich weil deiktische Gesten das visuelle System leichter lenken können als Laute.
•
Repräsentationale Kommunikation:repräsentationaleKommunikation hingegen wird zunächst hauptsächlich in der Lautsprache benutzt (Iverson et al. 1994). Dies liegt sicherlich mit daran, dass der Input hauptsächlich aus gesprochener Sprache besteht.
•
Zum einen konkurriert ein visuelles repräsentationales Zeichen mit der visuellen Aufmerksamkeit für den Referenten, d. h. es ist schwieriger, auf das Zeichen und den Referenten zu achten, als wenn das Zeichen auditiv dargeboten wird (Puccini & Liszkowski 2012).
•
Zum anderen werden manuelle Bewegungen zunächst meist an Objekten ausgeführt und vermutlich bevorzugt als objektbezogene Handlungen Handlungen:objektbezogeneinterpretiert. Um als symbolische Handlungen Handlungen:symbolischeverstanden zu werden, müssen sie von dieser Voreinstellung entkoppelt werden. Für Vokalisationen ist dieser Schritt hingegen nicht erforderlich.
•
Letztendlich erfolgt der sprachliche Input Inputin der typischen Entwicklung hörender Kinder in gesprochener Form. Bei einer Verschiebung dieser Gewichtung erwerben hörende Kinder von gebärdenden Eltern ebenfalls Gebärdensprache.
3.6
Zusammenfassung
Literatur
Adamson and Frick, 2003
Asendorpf and Baudonnière, 1993
Bakeman and Adamson, 1984
Baldwin and Moses, 1996
Bates, 1979
Bates et al., 1975
Bateson, 1975
Behne et al., 2005
Behne et al., 2011
Brooks and Meltzoff, 2002
Bruner, 1975
Bruner, 1983
Bullinger et al., 2011
Buttelmann et al., 2009
Butterworth et al., 2002
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Camaioni et al., 2004
Carpendale and Carpendale, 2010
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Csibra, 2010
Csibra and Gergely, 2009
Csibra and Volein, 2008
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Liebal et al., 2009
Liszkowski, 2005
Liszkowski, 2014
Liszkowski et al., 2008
Liszkowski et al., 2012
Liszkowski et al., 2004
Liszkowski et al., 2006
Liszkowski et al., 2007a
Liszkowski et al., 2007b
Liszkowski et al., 2008
Liszkowski et al., 2009
Liszkowski and Tomasello, 2011
Moore and D'Entremont, 2001
Namy, 2008
Puccini and Liszkowski, 2012
Salomo and Liszkowski, 2013
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Senju and Csibra, 2008
Shatz and O'Reilly, 1990
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Tomasello, 2003
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