© 2021 by Elsevier GmbH
Bitte nutzen Sie das untenstehende Formular um uns Kritik, Fragen oder Anregungen zukommen zu lassen.
Willkommen
Mehr InformationenB978-3-437-47784-3.00001-0
10.1016/B978-3-437-47784-3.00001-0
978-3-437-47784-3
Elsevier GmbH
Abb. 1.1

[S007-21]
Die Zahlen bezeichnen Brodmann-Brodmann-ArealeAreale
Abb. 1.2

[L157]
Relevante Areale des Sprachverständnisses. dunkelgrau = rezeptives Areal, hellgrau = perzeptives Areal, dunkelgrün = semantisches Assoziationsareal, hellgrün = syntaktisches Assoziationsareal
Abb. 1.3

[L157]
Periphere Sprechwerkzeuge, periphereSprechwerkzeuge: AtmungAtmung
Abb. 1.4

[S007-21]
Periphere Sprechwerkzeuge: KehlkopfSprechwerkzeuge, periphereKehlkopf
Abb. 1.5

[L157]
Periphere Sprechwerkzeuge: VokaltraktVokaltraktSprechwerkzeuge, periphere
Abb. 1.6

[L157, S007-21]
Algorithmus der Phonation:AlgorithmusPhonation
Abb. 1.7a

[M861]
Stimmlippe, Reinke-Raum (a)
Abb. 1.7b

[M861]
Stimmlippe, Reinke-Raum (b)
Abb. 1.8

[L157]
Altersspezifische ontogenetische Adaptationen und ihre Konsequenz. Die linke Seite symbolisiert die normale Entwicklung, die rechte Seite die abnormale oder pathologische (Prechtl 2001).
Läsionen bei Störungen der SprechmotorikstörungenSprechmotorikstörungenSprechmotorik
Läsionsort | Ursache (z. B.) | Auswirkung auf das Sprechen |
|
|
Lähmung der zur Artikulation notwendigen Muskeln:
|
Kortex oder kortikubulbärer Trakt (pseudobulbär) | beidseitige Hirninfarkte |
|
Basalganglien | bei Parkinson-Syndrom | hypokinetische Dysarthrie (schnelle, undeutliche, monotone, hypophone Sprache) |
Chorea | hyperkinetische Dysarthrie (laute, raue, falsch betonte und mit der Atmung schlecht koordinierte Sprache) | |
Kleinhirn |
|
ataktische Dysarthrie (langsame, undeutliche, monotone Sprache mit unnatürlicher Silbentrennung) |
Anatomische Terminologie, anatomischeTerminologie, anatomischeanatomische Terminologieanatomische TerminologieTerminologie
Deutsch | Latein | Medizin | Adjektiv |
Lippe | labium | Lippe | labial |
Zähne | dentes | Inzisiven oder Schneidezähne | dental |
Zahndamm | juga alveolaria | Alveolarkamm | alveolär |
Zunge | lingua | Zunge | lingual |
harter Gaumen | palatum durum | knöcherner Gaumen | palatal |
weicher Gaumen | palatum mollum | Velum palatinum | |
Zäpfchen | uvula palatina | Uvula | uvulär |
Rachen | pharynx | Pharynx | pharyngeal |
Kehlkopf | larynx | Larynx | laryngeal |
Stimmlippen | plica vocalis | Glottis | glottisch |
Stimmritze | glottis | Glottis | glottisch |
Luftröhre | trachea | Trachea | tracheal |
Bifurkation | bifurcatio tracheae | Trachealbifurkation | carinal |
Lunge | pulmo | Lunge | pulmonal |
Brustkorb | thorax | Thorax | thoraco-, thorakal |
Atemfrequenz in Ruhe, abhängig vom Atemfrequenz:NormwerteAlter
Altersgruppe | Mittlere Normwerte (Atemzüge/min.) |
Neugeborene | 40–60 |
1–3 Jahre | 19–26 |
7–9 Jahre | 18–22 |
10–12 Jahre | 16–22 |
> 13. Lj. | 16–20 |
Anatomie, funktionelle Morphologie und biochemische Eigenschaften der Stimmlippe (Kahane 1988; Hirano et al. 1989)Stimmlippe:Aufbau/MorphologieMusculus vocalis
Anatomie | Histologische Struktur | Funktionelle Morphologie | Biomechanische Steifheit | Eigenschaften | |
Schleimhaut | Epithel | Plattenepithel | Hülle | wenig | sehr stark beweglich |
Lamina propria | oberflächliche Schicht (Reinke-Raum), Mukopolysaccharide | Hülle | wenig | stark beweglich | |
Lamina propria | intermediäre Schicht, elastische Fasern | Übergang | mäßig | mäßig beweglich | |
Lamina propria | tiefe Schicht, Kollagenfasern Lig. vocale | Übergang | mäßig | mäßig beweglich | |
M. vocalis | Fasern des M. thyroarytaenoideus | Körper | groß | geringste Beweglichkeit |
Anatomie und Physiologie
-
1.1
Anatomische Grundlagen der Sprache und des Sprechens Michaela Nagel, Andreas Ferbert2
-
1.2
Periphere Sprechwerkzeuge Markus Jungehülsing8
-
1.3
Die Entwicklung des Nervensystems: Überlegungen, Implikationen und Konsequenzen Peter B. Marschik und Christa Einspieler17
1.1
Anatomische Grundlagen der Sprache und des Sprechens
1.1.1
Erste anatomische Zuordnungen
•
Paracelsus (1493–1541): beschrieb u. a. eine „Kammer der Sprache“ ohne nähere Lokalisation. Bekannt war der Zusammenhang von Sprachstörungen und Lähmungen bei Hirnerkrankungen
•
Giovanni Battista Morgagni (1682–1771): diagnostizierte im Rahmen von Autopsien bei Patienten mit rechtsseitiger Lähmung und Aphasie linkshirnige Läsionen (Huber et al. 2000)
•
Pierre P. Broca (1824–1880): ordnete einer expressiven Sprachstörung eine Läsion am Fuß der 3. Stirnwindung zu (Broca 1861)
•
Carl Wernicke (1948–1905): ordnete einer Sprachverständnisstörung eine Läsion im linken Temporallappen zu. Einteilung und Lokalisierung von motorischer Aphasie, Leitungsaphasie und totaler Aphasie (Wernicke 1874)
1.1.2
Techniken zur Lokalisation sprachrelevanter Hirnareale
-
•
historisch (bis Mitte des 20. Jh.): Korrelation von klinisch beobachteten Sprachdefiziten mit hirnanatomischen Läsionen in der Autopsie
-
•
aktuell: Lokalisation sprachrelevanter Areale am lebenden Patienten mittels bildgebender morphologischer und funktioneller sowie intraoperativ-neuropsychologischer Verfahren
Computertomografie (CT)
-
•
Abschwächung eines Röntgenstrahls beim Durchgang durch den Körper
-
•
verschiedene Körperstrukturen schwächen den Röntgenstrahl unterschiedlich
-
•
Messung der abgeschwächten Röntgenstrahlung von hochempfindlichen Detektoren
-
•
Übermittlung der Absorptionswerte an einen sprachrelevante Hirnareale:ComputertomografieComputertomografie:sprachrelevante HirnarealeRechner
-
•
Erzeugung verschiedener Projektionen derselben Schicht durch Drehung des Systems Röhre-Detektor
-
•
Errechnung von Schichten variabler Dicke der interessierenden Körperregion und Bildverarbeitung
-
•
v. a. Notfalldiagnostik (Hirnblutungen, Hirninfarkte, Schädel-Hirn-Traumata)
-
•
Tumore
-
•
degenerative Erkrankungen
Magnetresonanztomografie (MRT)
-
•
magnetische Kernspinresonanz: Atomkerne mit ungerader Nukleonenzahl haben ein sie umgebendes Magnetfeld und einen Drehimpuls (Spin)
-
•
Messung der aus dem Körper austretenden Energie in Form elektromagnetischer Wellen, hervorgerufen durch ein von außen angelegtes Magnetfeld und durch kurze sprachrelevante Hirnareale:MagnetresonanztomografieMagnetresonanztomografie:sprachrelevante HirnarealeHochfrequenzimpulse
-
•
Zeitkonstanten bestimmen gemessene Signalintensität
-
•
Zeitkonstanten sind abhängig von magnetischer Kopplung der Wasserstoffatome mit der Umgebung (Spin-Gitter-Relaxationszeit T1) und magnetischer Wechselwirkung der H2-Atome untereinander (Spin-Spin-Relaxationszeit T2)
-
•
keine Röntgenbelastung
-
•
bessere Darstellung der Gewebestrukturen in verschiedenen Wichtungen
-
•
Tumore, insbesondere auch des Hirnstammbereichs
-
•
entzündliche ZNS-Erkrankungen (z. B. Multiple Sklerose)
-
•
Hirninfarkte
-
•
degenerative Erkrankungen
-
•
spinale Erkrankungen
Funktionelles MRT (fMRI): BOLD-Technik (Blood Oxygenation Level Dependent)
-
•
Hirnareale haben höheren Sauerstoffbedarf, wobei die Mehrdurchblutung den Bedarf Magnetresonanztomografie:funktionelleübersteigt
-
•
sauerstoffreiches BOLD-Technik:sprachrelevante Hirnarealeund sauerstoffarmes Blut haben unterschiedliche magnetische Eigenschaften
-
•
Nachweis aktivierter Areale durch wiederholten Wechsel zwischen Ausführung eines Paradigma (Aufgabe) und Kontrollparadigma (Ruhe oder Aufgabe mit anderem Aktivierungsmuster)
-
•
Farbkodierung und Überlagerung mit entsprechenden morphologischen Bildern
-
•
direkte Darstellung von Partialfunktionen der Sprache
-
•
Erfassung der Hierarchie im Netzwerk der Sprachfunktion
-
•
Dokumentation von Erholung bzw. Kompensation gestörter Areale
-
•
keine klinische Routineuntersuchung
-
•
gezielte individuelle Lokalisation von Hirnarealen
-
•
Dokumentation von Erholung bzw. Kompensation gestörter Areale z. B. zur präoperativen Planung und Diagnostik eloquenter Hirnareale
-
•
wissenschaftliche Fragestellungen: Plastizität des Gehirns
Intraoperativ-neuropsychologische Methoden (Brain Mapping)
-
•
Darstellung regionaler hirnelektrischer Aktivität mit verschiedenen Techniken, wie EEG, evozierten Potenzialen und elektrischer Stimulation kleiner Areale der operativ freigelegten Hirnoberfläche
-
•
elektrische Reizung kleiner Areale der freigelegten Hirnoberfläche (brain mapping) führt in funktionell einmaligen Arealen zu passageren Sprachstörungen bis hin zum Spracharrest
Nuklearmedizinische Methoden: Positronenemissionstomografie (PET)
-
•
funktionelles bildgebendes Positronenemissionstomografie (PET)Verfahren
-
•
Messung der Aktivitätsverteilung von Positronenstrahlung emittierender Radiopharmaka
-
•
Beurteilung des zerebralen Blutflusses, des Sauerstoffverbrauchs und des Glukosestoffwechsels
-
•
dreidimensionale Darstellung sprachrelevanter Areale als Regionen mit gesteigertem Stoffwechsel
1.1.3
Anatomie der Sprachfunktionen
-
•
klassisches Modell: Sprachfunktionen, AnatomieZuordnung spezifischer Sprachleistungen zu spezifischen Hirnarealen („Sprachzentren“)Sprachzentren durch vergleichend klinisch-anatomische Untersuchungen
-
•
aktuelle Modellvorstellungen: synchronisierte Aktivität in einem ausgedehnten neuronalen Netzwerk im Kortex und den subkortikalen Kerngebieten durch funktionelle Untersuchungsverfahren
Synonyme
-
•
rezeptives Areal = Heschl-Heschl-GyrusGyrus
-
•
perzeptives Areal = auditorischer auditorischer AssoziationskortexAssoziationskortex
-
•
semantisches semantisches InterpretationsarealInterpretationsareal = Gyrus angularis
-
•
syntaktisches syntaktisches InterpretationsarealInterpretationsareal = Broca-Broca-ArealAreal – Brodmann Area 44/45
Lokalisation der Funktion Sprachproduktion (Abb. 1.1)
-
•
hinterer Teil Gyrus frontalis Gyrus:frontalis inferiorinferior (Broca-Areal; Area 44/45) Sprachproduktion:Anatomie
-
•
tiefe weiße Substanz zwischen Broca-Areal und motorischem Kortex
-
•
vordere Insel
-
•
frontoparietales frontoparietales OperculumOperculum
-
•
im Broca-Areal wird der motorische Plan entworfen und zum primären motorischen Kortex (Area 4) geleitet
Lokalisation der Funktion Sprachverständnis (Abb. 1.2)
-
•
Sprachverständnis:Anatomiehintere perisylvische Region (posterosuperior temporaler, operculärer, supramarginaler, angulärer und posterior insulärer Gyrus eingeschlossen)
-
•
akustische Information erreicht zunächst den primären akustischen Kortex (Heschl-Heschl-GyrusGyrus)
-
•
Leitung zum auditorischen Assoziationskortex und Dekodierung
-
•
Wernicke-Areal (Brodmann Area 22) im hinteren Drittel des Gyrus temporalis superior
-
•
Weiterverarbeitung im semantischen Interpretationsareal
Lokalisation der Funktionen Lesen und Schreiben
-
•
Eingehen der Schreiben:FunktionslokalisationLesen:Funktionslokalisationvisuellen Stimuli im primären visuellen Kortex (Brodmann Area 17; Abb. 1.1)
-
•
Transfer zum visuellen und semantischen Assoziationskortex
-
•
bei lautem Lesen direkter Transfer vom visuellen Assoziationskortex zu Broca-Areal über den Fasciculus arcuatus
-
•
beim Schreiben Transfer zum motorischen Assoziationskortex und danach zum Broca Areal und primär motorischem Kortex
Lokalisation von affektiven Elementen der Sprache
-
•
rechter unterer Sprache:affektive ElementeFrontallappen (Pars opercularis): emotionaler Sprachgehalt, Gesichtsausdruck und Gesten
-
•
hintere Hirnregionen der rechten Hemisphäre: Verstehen der affektiven Komponenten
Limbische und subkortikale Strukturen
-
•
Striatum: beteiligt an Sprachproduktion:limbische/subkortikale StrukturenSprachproduktion und ProsodieProsodie
-
•
Thalamus: SprachverständnisSprachverständnis und Reagibilität des Kortex
-
•
subkortikale weiße Substanz: enthält Leitungsbahnen
-
•
andere Hirnregionen als die perisylvischen können Sprache sekundär beeinflussen:
–
Aufmerksamkeitsdefizite bei tiefen zerebralen Läsionen
–
akinetischer Mutismus:akinetischerakinetischer MutismusMutismus bei frontalen Läsionen
Verbindungen der sprachrelevanten Areale
•
Fasciculus arcuatus: Temporallappen und motorischer Assoziationskortex (inkl. Broca-Areal)
•
zu kortikalen sensorischen Assoziationsarealen im oberen Temporal- und unteren Parietallappen
•
zu medialen Anteilen des Temporallappens und des Dienzephalons (Gedächtnisbildung)Gedächtnisbildung
•
zu korrespondierenden Arealen der Gegenseite über das Corpus callosum (Goetz 2003)
Hemisphärendominanz und Sprache
-
•
ca. 90 % der Bevölkerung sind Rechtshänder
-
•
Sprache:Hemisphärendominanzca. 99 % der HemisphärendominanzRechtshänder haben eine linkshemisphärische Sprachdominanz (Mayeux 1991)
-
•
gemeinsame Entwicklung von Sprachlokalisation, Bevorzugung von Hand, Fuß und Auge einer Körperseite (wohl genetisch determiniert, Vererbungsmodus?)
-
•
Herausbildung der Dominanz linkskortikaler Sprachzentren mitbedingt durch kollaterale Hemmung
-
•
Gegensatz zwischen ausgeprägter funktioneller Asymmetrie und geringen morphologischen Unterschieden (auffälligste Differenz im Bereich des Planum temporale, welches bei Rechtshändern links größer als rechts ist)
-
•
Ausmaß der Hemisphärendominanz interindividuell unterschiedlich, Ausmaß des klinischen Defizits variiert entsprechend (bei ausgeprägter Dominanz stärker und umgekehrt; Adams et al. 1999)
1.1.4
Anatomie des Sprechens
•
der Sprechakt erfordert eine exakte Koordination der respiratorischen Muskulatur von Larynx, Pharynx, Gaumen, Zunge und Lippen
•
die Phonation ist eine Funktion des Larynx, insbesondere der Stimmbänder
•
die Artikulation erfolgt durch die Kontraktion des Pharynx, des Gaumens, der Zunge und der Lippen
Innervation der Sprechbewegungen
•
Motorkortex bds. steuert über kortikobulbäre Bahnen die Hirnnervenkerne an. Am Sprechen beteiligte Hirnnerven: N. facialis (VII. Hirnnerv), N. vagus (X. Hirnnerv), N. hypoglossus (XII. Hirnnerv), N. phrenicus
•
Sprechbewegungen unterliegen dem Einfluss von Basalganglien und Kleinhirn
Störungen der Sprechmotorik (Dysarthrie und Anarthrie)
Störungen der Phonation (Dysphonie und Aphonie)
•
als Begleitsymptom bei einigen der in Tab. 1.1 genannten ArtikulationsstörungenArtikulationsstörungen (z. B. bei Extrapyramidal- und neuromuskulären Erkrankungen)
•
bei Erkrankungen von Atemmuskulatur (z. B. bei Myasthenie) und Lunge
•
bei Stimmbandlähmung durch Läsion des N. laryngeus recurrens (Ast des N. vagus), z. B. nach Schilddrüsen-OP
1.2
Periphere Sprechwerkzeuge
1.2.1
Definitionen
•
Brustkorb mit Lunge, Bronchien und Luftröhre (Abb. 1.3): Erzeugung des Luftstroms durch die knöchernen, knorpeligen und muskulären Anteile
•
Kehlkopf mit Stimmlippen (Abb. 1.4): erzeugt primären Glottiston, eine hörbare akustische Energie, dient zur Phonation (Erzeugung eines Tones)
•
oberer Anteil des Kehlkopfes mit Supraglottis und Epiglottis, unterer, mittlerer und oberer Schlund, Nasenhaupthöhlen (die Nasennebenhöhlen spielen als Resonanzräume eine Rolle) und Mundhöhle (Abb. 1.5): Resonanzraum (Phonetik) oder Vokaltrakt (Linguistik, Phoniatrie)
•
Artikulatoren (in Phonetik und Linguistik): Muskel- und Knochengruppen, welche die Resonanzräume begrenzen, tragen zur Klangmodulation Artikulatoren, aktive/passivebei
–
aktive Artikulatoren: Unterlippe, Zunge (Spitze, Rücken, Wurzel), Stimmritze (Glottis)
–
passive Artikulatoren: Oberlippe, Zähne, harter und weicher Gaumen, Zäpfchen, Schlund (Pharynx) und Kehlkopf (Larynx)
1.2.2
Atemorgane, Atemdruck, Anblasdruck
Physiologie
-
•
AtmungAtemsteuerung durch Atmung:SteuerungAtemzentrumAtemzentrum der Formatio reticularis, Beteiligung von Afferenzen aus Hirnrinde, Hypothalamus, Kälterezeptoren der Haut, Dehnungsrezeptoren der Lunge und Chemorezeptoren
-
•
Thoraxvolumen wird Thoraxvolumenbei Respiration durch Zusammenwirken von Rippen- und Zwerchfellatmung abwechselnd vergrößert und verkleinert. Wirkungsvollster Inspirationsmuskel ist das Zwerchfell (Diaphragma). Während der Inspiration erweitert sich der Thorax nach kranial und kaudal, lateral und ventral-dorsal
-
•
Phonation und Sprechvorgang durch atemmechanische Vorgänge und subglottischen AnblasedruckAnblasedruck möglich (Abb. 1.7). KehlkopfKehlkopf ist Atemhilfsorgan. Bei Respiration wechselnd starke Abduktionen der Stimmlippen. Offene Glottis während Inspiration durch Kontraktion des M. cricoarytaenoideus posterior
-
•
Steuerung von Frequenz, Rhythmus und Amplitude der Atembewegungen durch Atemzentrum und propriozeptive Lungenreflexe. AtemfrequenzAtemfrequenz abhängig von Alter (Tab. 1.3), Geschlecht, Psyche, Körpergewicht, Training und Belastung
-
•
Atemtiefe (Atemzugvolumen) AtemzugvolumenAtemtiefeabhängig von Aktivitäten und Alter. Ruhenormwert für Erwachsene 500 ml. Abweichungen bei flacher, frequenter oder tiefer, verlangsamter Atmung
-
•
Exspiration bei ExspirationRuheatmung passiver Vorgang
-
•
Sprechatmung/SprechatmungPhonationsatmung ist Phonationsatmungdie Verlängerung der Ausatmungsphase gegenüber der Einatmungsphase
-
•
Atemstütze ist das Atemstützeaktive Führen der Ausatmung
-
•
totale Lungenkapazität, totaleLungenkapazität, VitalkapazitätVitalkapazität und ResidualvolumenResidualvolumen sind stark von Körperbau und Lebensalter abhängig
Erst eine reproduzierbare Abnahme der Vitalkapazität auf ¾ des Sollwerts lässt auf eine respiratorische Funktionsstörung schließen.
Brust- und Bauchatmung
•
Atmungsarbeit Thorakalatmunghauptsächlich durch Interkostalmuskulatur
•
als alleinige Atemform Hochatmungunphysiologisch
•
kann zu Stimmstörungen führen
•
Zwerchfellatmungstarke Kontraktion der Zwerchfellmuskulatur bewirkt Abflachen und Tiefertreten des Diaphragmas
•
physiologische Atemform
•
fördert in Ruhe etwa ⅔ des Atemvolumens
•
physiologische Atmung
Atemtypen nach Wendler et al. (1996):
•
KlavikularatmungKlavikularatmung: Schulter- oder Schlüsselbeinatmung
•
KostalatmungKostalatmung: Brust- oder Rippenatmung
•
AbdominalatmungAbdominalatmung: Bauch- oder ZwerchfellatmungZwerchfellatmung
•
RückenatmungRückenatmungRückenatmung
•
Hochatmung: Kombination von Brust- und SchulteratmungBrustatmungSchulteratmung
•
Tiefatmung: Kombination Tiefatmungvon Brust- und Bauch-/Flankenatmung
1.2.3
Kehlkopf (Larynx), Phonation
Anatomie (Abb. 1.7)
-
•
StimmlippeStimmlippe: von Kehlkopf:AnatomiePlattenepithel bedeckt, bildet mit superfizialer Schicht der Lamina propria die Schleimhaut
-
•
Reinke-Raum: Reinke-Raumoberflächliche Schicht der Lamina propria – das subepitheliale lockere Bindegewebe
-
•
Propriabindegewebe: schließt an Plattenepithel der Stimmlippe an, kann in drei Schichten gegliedert werden (Hirano et al. 1986):
–
obere Schicht: lockeres gefäß- und nervenreiches Bindegewebe
–
mittlere Schicht: viel elastisches Material
–
tiefe Schicht: vorwiegend kollagene Fibrillen und elastische Fasern
-
•
Stimmband (Lig. vocale) Stimmbandund Ligamentum vocaleConus elasticus werden Conus elasticusaus der intermediären und der tiefen Schicht der Lamina propria gebildet. Das Lig. vocale bildet den oberen freien Rand des Conus elasticus
Von der Stimmlippe sollte das Lig. vocale als eigentliches „Stimmband“ abgegrenzt werden. Der Begriff „Stimmband“ sollte dann vermieden werden, wenn die gesamte Stimmlippe oder ihre Schleimhautanteile gemeint sind.
-
•
Mukosa (Epithel und sublottisches Gewebe) bildet eine lockere, gut bewegliche Schicht, stroboskopisch als Randkantenverschiebung erkennbar
-
•
Lig. vocale und M. vocalis bilden starres System
-
•
anteriore Glottis: intermembranöser Anteil der Glottis
-
•
Glottis, anteriore/posterioreposteriore Glottis: interkartilaginärer Anteil der Glottis
-
•
Grenze: Spitze des Processus vocalis des Processus vocalisAryknorpels
-
•
Längenverhältnis des intermembranösen zum interkartilaginären Anteil beim Erwachsenen 3 : 2 (nicht 2 : 1), Verhältnis der Fläche des intermembranösen Anteils zu der des interkartilaginären 2 : 3
-
•
vorderer Ansatz der Stimmlippen ist als vordere Kommissur gegen die zwischen den Arytenoidknorpeln gelegene Interarytenoidregion abzugrenzen (es gibt keine „hintere Kommissur“; Eckel)
Subglottischer Druck
-
•
20 cm H2O: Sprechstimme von bis zu 60 dB Schalldruckpegel möglich
-
•
3 cm H2O: leise Phonation
-
•
2–50 cm H2O: Singen (Proctor 1980) subglottischer Druck
Phonation
•
sensorische Rezeptoren in Larynxgewebe: Chemorezeptoren, Mechanorezeptoren (Merkel-Tastscheiben, Meissner-Tastkörper, Vater-Paccini-Lamellenkörper für Vibration etc.)
•
propriozeptive Rezeptoren in Kehlkopfmukosa, Muskeln (Muskelspindeln), Gelenken und Sehnen von Larynx, Lippen, Zunge und Gaumensegel
1.2.4
Klangmodulation, Resonanzräume und Artikulatoren
Vokaltrakt
•
alle lufthaltigen Räume oberhalb der Glottis außer den Nasennebenhöhlen: Mundhöhle, Nasenhaupthöhle, Schlund mit Naso-, Oro- und Hypopharynx sowie supraglottische Bezirke
•
vorderer Abschluss: Lippen und Frontzähne
•
Funktionen: Atmung, phonatorische Glottisfunktion, Bildung der Vokale und Konsonanten (Stimmklang)
•
Für die VokaltraktakustikVokaltraktakustik ist die Einheit von Glottisfunktion und Vokaltrakt von grundlegender Bedeutung. Der primäre Kehlkopfton (Kehlkopfton, primärerSchwingungen der Stimmlippen) wird in den supraglottischen Bezirken, im gesamten Pharynx sowie im Bereich der Mundhöhle und Nasenhaupthöhle zu Vokalen und stimmhaften Konsonanten moduliert. Alle genannten Hohlräume wirken als Resonanzräume.
Artikulatoren
•
aktive Artikulatoren, aktive/passiveArtikulatoren der peripheren Sprechwerkzeuge werden beim Sprechen zur Modulation aktiv bewegt: Unterlippe, Zungenspitze, Zungenrücken, Zungenwurzel
•
passive Artikulatoren: Oberlippe, Zähne, Zahndämme des Kiefers, harter und weicher Gaumen, Zäpfchen und Schlund
Bewegungen der Pharynxwände beim Sprechen
•
NasopharynxNasopharynx beteiligt sich mit Gaumensegel (Velum): M. levator veli palatini ist an der Einengung des Nasopharynx und an der Hebung des Gaumensegels beteiligt
•
OropharynxOropharynx beteiligt sich an Vokalbildung: M. constrictor engt Oropharynx ein. Transnasale flexible Endoskopie zeigt bei hoher „Hi“-Phonation Kontraktion der lateralen Pharynxwände
1.3
Die Entwicklung des Nervensystems: Überlegungen, Implikationen und Konsequenzen
•
Das Phänomen der Altersspezifität ist essenziell für die Überlegungen zu entstehenden Systemen.
•
Das pathologische Nervensystem des Erwachsenen ist nicht das Modell zur Beschreibung von neuronalen Phänomenen bei Kindern.
•
Gleichartige Läsionen des Nervensystems können in unterschiedlichem Alter zu unterschiedlichen klinischen Erscheinungen führen.
•
Bestimmte neurologische Dysfunktionen sind charakteristisch für gewisse Entwicklungsphasen. Sie können in einem bestimmten Alter präsent sein, anschließend verschwinden und nach einer latenten Periode in Form anderer Dysfunktionen wieder manifest werden (vgl. Entwicklungsmöglichkeiten von Late Talkers; Kap. 3.2.1)
1.3.1
Die ontogenetische Adaptation
-
•
ontogenetische AdaptationAdaptation, ontogenetischeKomplexe Verhaltensmuster sind transiente Phänomene und somit altersspezifische Adaptationen des sich entwickelnden Organismus auf spezielle interne und externe Anforderungen.
-
•
Das Nervensystem kann als stets integriertes Wirkungsgefüge gesehen werden, das im Rahmen der Entwicklung eine Sequenz irreversibler Änderungen durchläuft, und somit eine Entwicklung von einfacher zu sehr komplexer Organisation vollzieht.
-
•
Die unterschiedlichen Entwicklungsstufen weisen vom Erwachsenen abweichende transiente biochemische, physiologische und morphologische Strukturen auf, die sich auch in funktionellen Repräsentationen widerspiegeln.
-
•
Das „unreife“ Nervensystem als solches existiert nicht. Es handelt sich vielmehr um ein altersspezifisches Struktur-Funktionssystem, das sich ständig ändert und den internen und externen Gegebenheiten anpasst.
-
•
Für die Erforschung der Entwicklung bedeutet dies, dass jede Entwicklungsphase für sich selbst zu betrachten ist und ein direkter Vergleich zu späteren Entwicklungsschritten in diesem Kontext gesehen werden muss.
1.3.2
Die Variabilität der Normalität und die normative Stabilität
•
Die normative Stabilität verliert gerade in Bereichen der Suboptimalität an Stärke.
•
Im Laufe der Entwicklung können sich gewisse Defizite scheinbar bessern, während andere Funktionen weiterhin suboptimal bleiben. Ein frühes Defizit in einem neuronalen Bereich kann somit subtile Effekte auf andere (Funktions-)Bereiche des sich entwickelnden Gehirns haben und dies auch, wenn auf den ersten Blick eine scheinbar unauffällige Entwicklung vorliegt.
1.3.3
Das Sowohl-als-auch-Prinzip
•
Ein interessanter Aspekt ist die unterschiedliche Beanspruchung des Sprach-erwerbssystems einerseits für den primären Erwerb der Muttersprache, sowie für bilingualen oder frühen Zweitspracherwerb:früherZweitspracherwerb:bilingualerZweitspracherwerb (z. B. bei Kindern mit Migrationshintergrund), und andererseits, wenn wir uns als Erwachsene entschließen, eine neue Sprache zu erlernen (biologische Adaptation, Altersspezifität).
•
Gewisse Grundvoraussetzungen sind zweifelsohne angeboren, der Spezifizierungsgrad und das Ausmaß dieser Strukturen jedoch sind nach wie vor Spekulationsbereich.
•
Ein wesentliches Phänomen der Entwicklung ist, dass eine minimale neuronale Struktur bereits funktionell ist, und diese erste Funktion zur Ausdifferenzierung der Struktur notwendig ist, was seinerseits eine Funktionsadaptierung oder -erweiterung ermöglicht. Dieses Modell trägt einerseits das Konzept des sich gegenseitig bedingenden Struktur-Funktionsgefüges in sich und andererseits erklärt es, wie sich dieses System als bereits funktionsfähig erweist, während es entsteht.
•
Essenziell ist somit eine Sichtweise, welche die Funktion als integralen Bestandteil der normalen Entwicklung und als Notwendigkeit für deren Kontinuität und einen normalen Verlauf derselben darstellt.
Weiterführende Literatur
Einspieler et al., 2011
Karmiloff-Smith, 2007
Karmiloff-Smith, 2010
Oppenheim, 1984
Prechtl, 1980
Prechtl, 1988
Wass and Karmiloff-Smith, 2010