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10.1016/B978-3-437-47784-3.00016-2
978-3-437-47784-3
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Abb. 16.1

[L157]
Modell des Clinical Reasoning in der Sprachtherapie
Übersicht über die einzelnen Reasoning-Formen
Reasoning-Form | Therapeutisch genutzt durch |
Prozedurales Reasoning | Anwendung von Fach- und beruflichem Erfahrungswissen (Expertise) auf den klinischen Fall, Einbezug von Studien, Leitlinien, Standards (evidenzbasierte Praxis) |
Interaktives Reasoning | Beobachtung der Interaktionen zwischen Therapeut und Patient, Patient und Angehörigen |
Prognostisches Reasoning | zukunftsgerichtete Analyse eines möglichen Behandlungsergebnisses |
Ethisches Reasoning/Pragmatisches Reasoning | ethisches Reasoning: Analyse der inneren Haltungen, Einstellungen, Normen, Werte (z. B. auch Interkulturalität und Genderaspekte) pragmatisches Reasoning: Beeinflussung der Entscheidung durch Kontextfaktoren wie Ressourcen (z. B. Therapieräume, -materialien), Settings (z. B. Therapiezeiten), Organisationsstrukturen |
Didaktisches Reasoning | Reflexion von Lehr- und Lernsituationen mit Patientinnen, Kollegen, Seminarteilnehmerinnen etc. |
Narratives Reasoning | Berücksichtigung der (Kranken-)Geschichte des Patienten, Erfassen und Verstehen der Beeinträchtigung in ihrer Bedeutung für den Patienten |
Clinical Reasoning
16.1
Definition
16.2
Geschichte
•
Forschungsphase der präkognitiven Ära der Verhaltensforschung (Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts). Ganz im Sinne der vorherrschenden behavioristischen Haltung beobachtete man das Verhalten von Experten – den Output der Denkprozesse –, ohne den eigentlichen Entscheidungsprozess näher zu betrachten. Es stellte sich heraus, dass viele Experten effizienter Probleme lösen als Anfänger. In dieser Zeit suchte man v. a. nach geeigneten Messinstrumenten, um das Clinical Reasoning näher zu erforschen. So wurden z. B. Simulationsmethoden entwickelt, um Therapiesituationen nachzustellen (PC-gestützte Falldatenbanken). Anhand von simulierten Patienten versuchte man, den Entscheidungsprozess zu rekonstruieren und zu erforschen.
•
Forschungsphase nach der kognitiven Wende der Verhaltensforschung (zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts). Nun stand die Frage im Vordergrund, welche Denk- und Speicherungsprozesse der Experten den therapeutischen Entscheidungen zugrunde liegen. Derart motivierte Studien ergaben, dass Experten über eine besser organisierte und breitere Wissensbasis verfügen als Anfänger. Zudem treffen sie viele ihrer Entscheidungen mittels Mustererkennung.
•
„Concept learning school“ (21. Jahrhundert). Diese, aus der kognitiven Psychologie entwickelte Forschungsrichtung hinterfragt, wie mentale Konzepte entstehen und wie diese im menschlichen Gedächtnis organisiert sind. In verschiedenen Kontexten wie der Medizin, der Pflege, der Ergo- und Physiotherapie und der amerikanischen Sprachtherapie, wurden interpretative, kognitive Funktionen untersucht. Neben hypothesengesteuertem Clinical Reasoning zeigten sich auch andere Formen von Reasoning, die insbesondere bei direkten Interaktionen mit Menschen von Bedeutung sind. Die Betrachtung des Prozesses der Therapeut-Patienten-Interaktion rückte damit in den Mittelpunkt. Die Rolle der persönlichen Wissensbasis, Gefühle und Aspekte der Intuition werden vermehrt beachtet. Derzeit steht die Erforschung des sog. impliziten Clinical Reasoning im Vordergrund, da zunehmend anerkannt wird, dass Personen, die eine praktische Tätigkeit ausüben – wie eben Therapeuten –, neben einer theoretischen auch eine (Erfahrungs-)Wissensbasis nutzen.
16.3
Strategien beim Clinical Reasoning
•
Hypothetisch-deduktives Vorgehen. Das hypothetisch-deduktive Vorgehen in der Sprachtherapie stellt Annahmen zu einem Patienten und seinen Kommunikationsbeeinträchtigungen in den Mittelpunkt: Der Therapeut setzt persönliche Gespräche, gezielte Beobachtungen des Patienten sowie informelle und standardisierte Untersuchungen ein, um aus diesen Schlüsselinformationen (cues) Annahmen (Hypothesen) zu generieren. Hierauf folgt die Deduktion (Hypothesentestung), die Ableitung vom Allgemeinen zum Besonderen: Die Theorie eines Störungsbildes wird auf den spezifischen Fall angewandt. Nachdem eine individuelle Diagnose erstellt ist, folgt die daran orientierte Behandlungsplanung. Allerdings ist der Reflexionsprozess mit der Diagnosestellung und Behandlungsplanung nicht abgeschlossen, sondern wirkt als zirkulärer Prozess im Therapieverlauf weiter: Auch während der Behandlung nimmt der Therapeut ständig weitere Schlüsselinformationen auf, gleicht diese mit früheren Hypothesen ab oder bildet neue Hypothesen und evaluiert sie.
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Mustererkennung (Pattern Recognition). Die Mustererkennung kann als eine komprimierte, v. a. zeitsparende Form des hypothetisch-deduktiven Vorgehens angesehen werden. Ebenfalls aufgrund von Anamnese und Diagnostik und allen damit verbundenen Möglichkeiten der Informationssammlung werden bei der Mustererkennung die Muster bekannter, typischer Symptome des Klienten vom Therapeuten erfasst. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass der Therapeut, wenn er Mustererkennung anwendet, nicht jedes Detail der Anamnese und der Diagnostik analysieren muss, um eine passende Diagnose stellen zu können. So erfassen und interpretieren berufserfahrene Therapeuten mittels Mustererkennung ein klinisches Problem rascher als beim hypothetisch-deduktiven Vorgehen, sofern es sich um unproblematische Situationen handelt. Dies erfordert eine Bandbreite klinischer Muster und Kenntnisse über typische bzw. prototypische klinische Erscheinungsformen, die auf klinischen Erfahrungen und einer gut strukturierten Wissensbasis (Skripte) aufgebaut sind. Diese Form des Clinical Reasoning wird selten von Berufsanfängern benutzt, da ihnen die klinische Erfahrung i. d. R. noch fehlt und sie sich deshalb noch keine abrufbaren Muster und elaborierte Krankheitsskripte aufbauen konnten. Der Ablauf der Mustererkennung erfolgt in fünf Schritten
–
Beobachtung: Aufnahme des Störungsbildes
–
Identifizierung der signifikantesten Symptome: Gewinnung von Merkmalen, Merkmalsreduktion
–
Erkennen von Zusammenhängen zwischen den beobachteten Symptomen
–
Klassifikation: Vergleichen der Konstellation mit bereits verinnerlichten Kategorien dieses Typs
–
Evaluation des Musters: Reflexion des Vorgehens
16.3.1
Formen des Clinical Reasoning
16.3.2
Faktorenmodell für Clinical Reasoning in der Sprachtherapie
•
im Patienten begründete Faktoren: persönliche Ziele und Bedürfnisse, Persönlichkeit, Alter, Geschlecht, Sozialstatus/ökonomische Situation, Motivation, Kooperationsbereitschaft, Eigenverantwortung, Wissensstand/Bildung des Patienten, Ängste, soziales Umfeld, Kommunikationsfähigkeit (-bereitschaft), Tagesform etc.
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im Therapeuten begründete Faktoren: Erfahrung, therapeutisches „Handwerkszeug“/fachliches Wissen (Leitlinien, Standards, Wissen aus der Forschung), Fähigkeiten und Fertigkeiten, Wissensstand/Fortbildungen, Empathie und Akzeptanz, soziale/emotionale Kompetenz/Intelligenz, Sympathie/Antipathie etc.
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in der Umwelt liegende Faktoren (Faktoren des Therapiemanagements): Therapieeinrichtung, Standort, Ausrüstung, Zeittakt der Behandlungen (Zeitmanagement), Ressourcen am Arbeitsplatz, fachliche Kompetenz der Kollegen, ärztliches Vorgehen/Anordnung (Abb. 16.1, Beushausen 2009)