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10.1016/B978-3-437-47784-3.00011-3
978-3-437-47784-3
Elsevier GmbH
Differenzierung von Sprach- und Sprechstörungen bei degenerativen Erkrankungen
Progressiv-aphasische Störungen | Progressiv-dysarthrische Störungen |
Alzheimer-Krankheit | Parkinson-Syndrom |
primär progressive Aphasie | Chorea Huntington |
Multiple Sklerose |
Erscheinungsbild der 3 Subtypen der primär progressiven Aphasie
Nicht-flüssige agrammatische Variante | Semantische Variante | Logopenische Variante |
Abk.: nfPPA, PPA-G | Abk.: svPPA, PPA-S | Abk.: lvPPA, PPA-L |
alte Nomenklatur: progressive nicht-flüssige Aphasie (PNFA) | alte Nomenklatur: semantische Demenz (SD) | alte Nomenklatur: logopenische progressive Aphasie (LPA) |
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Allgemeine Diagnosekriterien der PPA (Mesulam 2001)
Einschlusskriterien (Antwort mit „ja“) | Ausschlusskriterien (Antwort mit „nein“) |
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Spezifische klinische Diagnosekriterien der PPA-Varianten (Gorno-Tempini et al. 2011)
Nichtflüssige/agrammatische Variante (nfPPA) | Semantische Variante (svPPA) | Logopenische Variante (lvPPA) | |
Hauptmerkmale |
(mind. eines von beiden muss vorliegen)
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(beide Merkmale müssen vorliegen)
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(beide Merkmale müssen vorliegen)
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Unterstützende Merkmale |
(mind. 2 Merkmale müssen vorliegen)
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(mind. 3 Merkmale müssen vorliegen)
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(mind. 3 Merkmale müssen vorliegen)
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Unterstützende Diagnosemerkmale der Bildgebung (klinische Diagnose muss zuvor gesichert sein)
Nichtflüssige/agrammatische Variante (nfPPA) | Semantische Variante (svPPA) | Logopenische Variante (lvPPA) |
(mind. 1 der folgenden Befunde muss vorliegen)
|
(mind. 1 der folgenden Befunde muss vorliegen)
|
(mind. 1 der folgenden Befunde muss vorliegen)
|
Neurodegenerative Erkrankungen
-
11.1
Ursachen und Leitsymptome Bente von der Heide, Ralf Siedenberg304
11.1.1
Differenzierung304
-
11.2
Demenz Ralf Siedenberg305
-
11.3
Primär progressive Aphasie Christina Knels, Bente von der Heide308
-
11.4
Parkinson-Syndrom Anja Lowit312
-
11.5
Multiple Sklerose Anja Lowit319
11.1
Ursachen und Leitsymptome
11.1.1
Differenzierung
Tumoren
-
•
fortschreitende Symptomatik
-
•
keine Zuordnung zu einem sprachlichen Störungsbild möglich, da Tumorlokalisation variiert
-
•
Frühsymptome nicht auf sprachlicher Ebene, sondern im episodischen Gedächtnis (Poeck und Hartje 2006) Alzheimer-Demenz/-Krankheit
-
•
im Verlauf Gedächtnisstörung aller mnestischen Prozesse
-
•
aphasische Symptome (z. B. Störung der Wortfindung, semantische Paraphasien) können die Sprache von Krankheitsbeginn an beeinträchtigen
-
•
meist langsam beginnende und allmählich fortschreitende aphasische und dysarthrische Symptome
Primär progressive Aphasie (Kap. 11.3)
-
•
Aphasie:primär progressiveisolierte sprachliche Symptomatik mit progredientem Verlauf (Mesulam 1982)
-
•
nicht sprachliche kognitive Funktionen (z. B. episodisches Gedächtnis) sind dabei im Vergleich zu den sprachlichen Funktionen gut erhalten
Stammganglienerkrankungen
-
•
„StammganglienerkrankungenParkinson-Parkinson-SyndromTrias: Ruhetremor, Hypo- bzw. Akinese, Rigor als typische Veränderung des Muskeltonus
-
•
Krankheitsverlauf langsam progredient (Neher 1990)
-
•
im Verlauf dysarthrische Symptomatik mit verminderter Artikulationsschärfe sowie leiser, behauchter oder rauer Stimme
-
•
Krankheitsprozess Chorea Huntingtonchronisch fortschreitend, schubweise Verschlechterungen möglich
-
•
Erkrankung setzt i. d. R. mit psychischen Veränderungen wie Reizbarkeit und Aggressivität ein, im späteren Stadium Demenzsymptome
-
•
Sprache dysarthrisch
-
•
Sprechweise durch unkontrolliert einschießende Muskelkontraktion geprägt
-
•
häufig spontane Schwankungen bzgl. Tonhöhe und Stimmqualität
-
•
im Verlauf der Krankheit abnehmende Artikulationsschärfe, es kommt zu verkürzter Exspiration (Poeck und Hartje 2006; Ziegler et al. 1998)
Chronisch entzündliche Erkrankungen
-
•
Multiple SkleroseHypernasalität
-
•
behauchte Stimmqualität
-
•
progredienter Krankheitsverlauf
-
•
verminderte Artikulationsschärfe
-
•
Heterogenität des neurologischen Störungsbildes bedingt unspezifisches dysarthrisches Störungsprofil (Ziegler et al. 1998; Kap. 10.1)
11.2
Demenz
Unabhängig von Ursache und Reversibilität ein Syndrom und keine spezielle Erkrankung.
Ursachen
-
•
etwa 70 % beruhen auf einer Alzheimer-Krankheit (Kap. 11.2.1), der frühere Begriff der „Altersdemenz“ bezeichnete meist eine Alzheimer-Pick-Krankheitfrontotemporale DemenzAltersdemenzKrankheit
-
•
seltenere primär neurodegenerative Demenzursachen: Lewy-Körperchen-Lewy-Körperchen-KrankheitKrankheit, frontotemporale Demenz, Pick-Krankheit
-
•
fokale Atrophien: bzgl. aphasischer Symptome häufigste Formen, wie Primär Progressive Aphasie (PPA; Kap. 11.3) und Semantische Demenz (SD)
Erscheinungsbild
-
•
Störungen von Gedächtnisleistungen, Merkfähigkeit, Auffassung und Orientierung, Störungen des Denkens sowie Beeinträchtigung von Affektivität und Antrieb
-
•
isolierte Sprachstörungen im Rahmen der primären Demenzen sind eine Rarität
11.2.1
Alzheimer-Krankheit
Entstehung und Erscheinungsbild
-
•
Initialsymptom typischerweise progrediente Störung des episodischen oder autobiografischen Gedächtnisses (Fox et al. 1998)Gedächtnisstörungen:Alzheimer-Krankheit
-
•
weitere kognitive Störungen sind z. B. Störungen von Aufmerksamkeit und exekutiven Funktionen, Orientierungsstörungen, visuellen Wahrnehmungsstörungen, Halluzinationen
-
•
Störungen des Verhaltens und der Emotionalität
•
Leitsymptom WortfindungsstörungenWortfindungsstörungen:Alzheimer-Krankheit
•
Störung des lexikalischen und semantischen Systems
•
grammatische Sprachstruktur lange Zeit erhalten, zerfällt erst im Spätstadium der Erkrankung, d. h. wenn eine schwere Demenz vorliegt
•
semantische ParaphasienParaphasien:semantische ähnlich einer amnestischen Aphasie (Kap. 8.1) häufig im Verlauf der Erkrankung
•
Sprachverständnisstörungen:Alzheimer-KrankheitSprachverständnisstörung im weiteren Verlauf
•
Nachsprechleistung meist lange erhalten, sodass das klinische Bild einer transkortikalen sensorischen Aphasie entsprechen kann
•
Spontansprache bleibt lange Zeit flüssig
•
phonematische ParaphasienParaphasien:phonemische sind erst zu beobachten, wenn neben der Sprache auch andere kognitive Domänen betroffen sind
•
im weiteren Verlauf kommt progrediente Beeinträchtigung aller kognitiver Funktionen und aller Sprachdomänen, bis die Patienten mutistisch sind
Diagnostik
•
zusätzliche kognitive kognitive Störungen:Alzheimer-KrankheitStörungen müssen in der Anamnese sowie testpsychologisch gezielt gesucht werden, weil ihr Vorhandensein im Frühstadium eine primär progressive Aphasie ausschließt (Kap. 11.3)
•
Störungen des semantischen Systems können durch Wortgenerierungsaufgaben semantischer Kategorien (Semantic Fluency Test) erfasst Semantic Fluency Test:Alzheimer-KrankheitAlzheimer-Demenz/-Krankheit:Semantic Fluency Testwerden
Therapie
11.2.2
Therapie bei Demenz
Primäre Prävention
•
Bildung und geistige Beschäftigung
•
psychomotorische Aktivierung
•
Beeinflussung vaskulärer Risikofaktoren:
–
Abbau von Bluthochdruck, erhöhtem Blutfett
–
regelmäßiger Konsum von Obst, Gemüse, Fisch
–
cholesterinarme Ernährung
–
wenig Alkoholkonsum
–
nicht rauchen
–
ausreichende körperliche Bewegung
Medikamentöse Therapie
Kognitive Therapie
Logopädische Therapie
11.3
Primär progressive Aphasie
Maßgebliche statistische Fakten
•
Prävalenz: PPA zeigt sich deutlich seltener als die Alzheimer-Demenz. Schätzungsweise zeigen zwischen 1 und 6 Personen pro 100.000 eine PPA (Nickels und Croot 2014)
•
Krankheitsbeginn meist zwischen dem 60. und 70. Lj. (Hodges und Miller 2001), jedoch auch früher möglich (präsenile Demenzform)
11.3.1
Entstehung und Erscheinungsbild
Allgemeines Erscheinungsbild der PPA
-
•
isolierte, progrediente Störung der sprachlichen Funktionen
-
•
weitgehend erhaltene kognitive Funktionen wie Gedächtnisleistungen (episodisches Gedächtnis)
-
•
erhaltene räumliche und zeitliche Orientierung
-
•
erhaltene Alltagsfähigkeiten
Differenzierung zur Alzheimer-Demenz
•
isolierte aphasische Symptome (z. B. Störungen im Zugriff auf lexikalische Einheiten in der Sprachproduktion oder phonematische Paraphasien) auch bei Alzheimer-Demenz möglich
•
Erhalt von kognitiven Fähigkeiten bei der PPA, bei Alzheimer-Demenz allgemeine kognitive Beeinträchtigungen (Ermittlung in nonverbalen neuropsychologischen Untersuchungen)
•
Indikatoren für PPA: erhaltene räumliche (z. B. durch den Uhren-Test) und zeitliche Orientierung sowie erhaltenes episodisches Gedächtnis bei fortschreitendem sprachlichem Verlust
Erscheinungsbild der Subtypen (Tab. 11.2)
•
nichtflüssige/agrammatische Variante der PPAAphasie:primär progressive
•
semantische Variante der PPAAphasie:primär progressive
•
logopenische Variante der PPAAphasie:primär progressive
11.3.2
Diagnostik
Diagnostik der PPA (Tab. 11.3)
Klinische Diagnostik der PPA-Untertypen (Tab. 11.4)
Bildgebende Diagnostik der PPA-Untertypen (Tab. 11.5)
•
i. d. R. keine spezifischen Befunde (Hodges und Miller 2001) in der strukturellen Bildgebung (MRT)
•
Aktivitätsminderung im Sinne von Hypometabolismus (herabgesetzter Glukosestoffwechsel) und/oder Hypoperfusion (herabgesetzter Sauerstoffumsatz) in spezifischen Hirnregionen auch im frühen Stadium nachweisbar (z. B. mittels SPECT oder PET, Gorno-Tempini et al. 2011)
Neuropathologie
•
histopathologischer Nachweis einer neurodegenerativen Pathologie (z. B. FTLD-Tau, TDP, Amyloid oder andere)
•
Nachweis einer bekannten pathogenen Mutation
11.3.3
Therapie
•
obwohl Symptombild der PPA dem Bild einer vaskulär bedingten Aphasie ähneln kann, ist Therapie bei PPA unbedingt von der Therapie einer Aphasie nach Schlaganfall abzugrenzen (Khayum et al. 2012)
•
Ziel der Sprachtherapie ist nicht die Wiederherstellung gestörter Sprachfunktionen sondern der längstmögliche Erhalt der Kommunikation
•
sie sollte sich dabei an den erhaltenen Fähigkeiten orientieren (ressourcenorientierte Therapie), um kompensatorische Kommunikationsstrategien zu erarbeiten
•
mit Fortschreiten der Symptomatik erfolgt kontinuierliche Anpassung der Therapeutischen Inhalte an die Fähigkeiten des Patienten
•
nur im frühen Stadium ggf. sinnvoll: sprachtherapeutische Übungen (alltagsnahes Material), z. B. mit Fokus auf Benennen (Farrajota et al. 2012)
•
kommunikationsorientierte therapeutische Maßnahmen umfassen u. a. Strategien zur Selbstdeblockierung, Skripttraining, Angehörigenberatung zur Anpassung der Kommunikation, ggf. elektronische bzw. nichtelektronische Kommunikationshilfen (Khayum et al. 2012)
11.4
Parkinson-Syndrom
Maßgebliche statistische Fakten
•
Prävalenz des Parkinson-Syndroms in Deutschland 100–200 : 100.000 Einwohner. Bei den über 65-Jährigen Prävalenz von 1.800 : 100.000
•
Männer etwas häufiger betroffen als Frauen
•
Erkrankungsbeginn unterschiedlich:
–
idiopathisches Parkinson-Syndrom: meist jenseits des 60. Lj.
–
juveniles Parkinson-Syndrom (5 % aller Parkinson-Fälle) mit ersten Symptomen um das 30. Lj., selten auch vor dem 20. Lj.
11.4.1
Klassifikation und Ursachen
•
Erkrankungen: Atherosklerose, Wilson-Krankheit, multiple Systematrophie, olivopontozerebellare Atrophie, Shy-Drager-Syndrom, Gehirnverletzungen, Hirnhautenzündungen
•
Substanzen: Drogenmissbrauch (Ecstasy bereits nach einmaliger Einnahme)
Pathophysiologie
11.4.2
Erscheinungsbild
Allgemeine motorische Symptome
-
•
Tremor: Ruhetremor Tremor:Parkinson-Syndromüberwiegend von Gliedmaßen und Kopf, evtl. auch Kiefer, Zunge und Lippen, nimmt bei willkürlichen Bewegungen ab. Tremorfrequenz: 4–7 Hz
-
•
Rigor: Hauptgrund Rigor:Parkinson-Syndromfür die Verringerung der Bewegungsamplitude und Bewegungsverlangsamung, v. a. sichtbar bei passivem Dehnen der Muskulatur während des gesamten Bewegungsablaufes und in allen Bewegungsrichtungen
-
•
Akinese: Verlangsamung Akinese:Parkinson-Syndromund reduziertes Ausmaß (Amplitude) der Bewegungen (Hypokinese oder Bradykinese), maskenartiges Gesicht, progressiv reduziertes Ausmaß wiederholter Bewegungen (z. B. werden die Buchstaben beim Schreiben oder die Schritte beim Laufen immer kleiner). Probleme mit Initiierung und Unterbrechung von Bewegungsabläufen
-
•
Flexion des Kopfes, Oberkörpers und der Arme, Abwesenheit posturaler Reflexe
Sprechstörungen
-
•
reduziertes Lungenvolumen und somit kürzere max. Phonationsdauer
-
•
schlecht synchronisierte Atmungsbewegungen
-
•
Hyperphonation:Phonationsstörungen:Parkinson-Syndrom Luftverlust Hyperphonation:Parkinson-Syndromdurch verlangsamte oder reduzierte Ab- und Adduktion der Stimmbänder infolge einer Stimmbandatrophie oder gebogener Stimmbänder
-
•
behauchte, raue oder heisere Stimmqualität; evtl. Stimmtremor
-
•
unpräzise Artikulation aufgrund Artikulationsstörungen:Parkinson-Syndromverkürzter und verlangsamter Bewegungsabläufe
-
•
Plosive erhalten Friktionsmerkmale, bei Frikativen fehlen die Turbulenzen, stimmlose Konsonanten werden oft stimmhaft produziert; evtl. Störungen der Vokallänge
-
•
Ausprägung der Symptome nimmt oft bei längerem Sprechen zu und kann zum „Freezing“ (extrem geringe artikulatorische Bewegungen) führen
-
•
Tempo: im Gegensatz zu Prosodie:Parkinson-Syndromanderen Dysarthrophonien ist die Sprechgeschwindigkeit oft erhalten oder erhöht. Generell 3 Kategorien:
–
zu schnelles Tempo (ca. 10 % aller Sprecher), „gehetztes“ Sprechen in kurzen, schnellen Abschnitten
–
Tempo im Normalbereich (kann durch unpräzise Artikulation oder verringerte prosodische Variabilität trotzdem als zu schnell wahrgenommen werden)
–
zu langsames Tempo (evtl. als spontane kompensatorische Strategie, um unpräziser Artikulation entgegenzuwirken)
-
•
Pausensetzung: häufige Pausen, oft an unangebrachten Stellen
-
•
Lautstärke: reduzierte Lautstärke sowie Verringerung der Lautstärkenmodulation durch beeinträchtigte Atmungs- und Kehlkopfmuskulatur und Störung des Feedbacks (Sprecher schätzen ihre Lautstärke höher ein als sie tatsächlich ist)
-
•
Intonation und Akzentsetzung: Beschränkung der Grundfrequenzvariabilität führt zu flacheren Intonationsverläufen (monotones Sprechen), reduzierten Wort- und Satzakzentmustern, evtl. Probleme mit der Akzentsetzung und abweichende Intonationskonturen
Weitere Probleme der Sprech- und Mundmotorik
•
Stottern:Parkinson-SyndromStottern: schnelle und unpräzise artikulierte Wiederholungen einzelner Phoneme, meist am Satzanfang oder nach Pausen
•
Palilalie:Parkinson-SyndromPalilalie: Wiederholungen ganzer Wörter oder Aussagen (aber nicht einzelner Laute), die oft schneller und undeutlicher „Palilaliewerden
•
Hypernasalität:Parkinson-SyndromHypernasalität: kann bis zu ¼ der Patienten betreffen, ist aber meist nicht sehr stark ausgeprägt
•
Schluckstörungen:Parkinson-SyndromSchluckbeschwerden: treten v. a. im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit auf, evtl. Speichelausfluss durch mangelnden Lippenschluss, nach vorne gebeugte Kopfhaltung und reduzierte Schluckhäufigkeit
Nicht motorische Störungen
-
•
Affekt: häufig Depressionen (bei 30–60 % der Patienten)
-
•
Kognition: Demenz je nach Stadium des idiopathischen Parkinson-Syndroms und Alter der Person bei bis zu 93 % der Patienten. Andere kognitive Probleme: z. B. eine Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses, des Lernvermögens und des Problemlöseverhaltens, Bradyphrenie (Verlangsamung der Denkabläufe)„Bradyphrenie
-
•
Sprachprobleme: Beeinträchtigung des Sprachverständnisses, hauptsächlich in Bezug auf grammatikalische sowie auch affekt-prosodische Merkmale, reduzierte Wortflüssigkeit, Vereinfachung syntaktischer Strukturen
-
•
Störung vegetativer Funktionen (z. B. urologische Beschwerden, Schlafstörungen)
11.4.3
Diagnostik
Erfassen prosodischer Störungen
•
konstrastive Betonungsaufgaben, Akzentsetzung
•
emotionale Prosodie: z. B. Wut, Freude oder Trauer
•
grammatikalische/pragmatische Funktionen der Prosodie, z. B.
–
Du gehst jetzt? (Frage)
–
Ich gehe jetzt. (Antwort)
–
Du gehst jetzt! (Befehl)
•
verschiedene Pausensetzung, z. B.
–
„Mein Frisör“, sagte Peter, „ist der Beste“
–
Mein Frisör sagte: „Peter ist der Beste“
11.4.4
Therapie
Lee Silverman Voice Treatment (LSVT, z. B. Ramig et al. 2004)
-
•
Therapiemotto: „think loud“ („Denke laut“)
-
•
Therapieziel: Anhebung der Lautstärke, führt zur Verbesserung der Verständlichkeit und Stimmqualität sowie zur Reduzierung der monotonen Sprechweise, ohne dass sich der Patient auf mehrere Aspekte gleichzeitig konzentrieren muss (z. B. Artikulation, Lautstärke und Intonation)
-
•
es gibt auch Hinweise darauf, dass sich das LSVT positiv auf die Gestik, Mimik und Stimmbandpathologien eines Patienten auswirken kann
-
•
zur Durchführung der LSVT ist die Belegung zertifizierter Kurse erforderlich
-
•
die Therapie ist intensiv, sollte 4× wöchentlich für 4 Wochen ausgeführt werden
-
•
bislang ist unklar, inwieweit dieser Ansatz für alle Schweregrade effektiv ist (kaum Studien mit schwer betroffenen Patienten)
Allgemeine Dysarthrietherapie (Kap. 10.1.5)
-
•
bei respiratorischen Störungen: Haltungskorrektur, Vertiefung der Inspirationsphase, erhöhte Kontrolle der Exspirationsphase
-
•
bei Parkinson-Syndrom:Tonhöhen-/LautstärkemodulationSpannungsregulationsproblemen der Stimmlippen: Übungen mit lang gezogenen Vokalen (z. B. hoch – tief oder laut – leise Variationen auf /a/), affektive Äußerungen auf kurzen, vokalreichen Ausdrücken (z. B. Verwunderung, Freude auf „oho“, „ah“), konstrastive Intonationsmuster in kurzen Phrasen (z. B. Frage-Antwort-Paare), verschiedene Intonationsmuster in längeren Sätzen (z. B. Lesen eines Dialogs)
Andere therapeutische Mittel
-
•
elektroakustische Feedbackverfahren (z. B. Kay Elemetrics Real Time Pitch): zur visuellen Unterstützung der Tonhöhen- und Lautstärketherapie
-
•
prothetische Maßnahmen (z. B. externe Modulation mittels Stimmverstärker oder automatische, eigenständige Erhöhung der Lautstärke durch den Lombardeffekt mittels Edinburgh Masker): helfen Patienten, die selbst nicht in der Lage sind, die Lautstärke zu regulieren
Sprechtempo
Alphabetbrett
Metronom
-
•
vorgegebenes Tempo kann über den Verlauf der Therapie verändert werden (man arbeitet von einem sehr verlangsamten Tempo auf ein natürlicheres hin)
-
•
Patient muss die Geschwindigkeit nicht selbst kontrollieren (hat eine externe Hilfe zur Temporeduktion)
Tastbrett
-
•
das Tempo wird nicht so extrem verlangsamt wie beim Alphabetbrett
-
•
das vorgegebene Tempo kann wie beim Metronom über den Verlauf der Therapie verändert werden
-
•
der Patient muss sich die Sprechgeschwindigkeit selbst vorgeben und internalisiert das Tempo so in einem stärkeren Ausmaß
-
•
der Sprecher kann sich das Tempo gleichmäßig vorgeben oder den Finger im entsprechenden Sprechrhythmus weiterführen
-
•
vielen Patienten fehlt die kognitive Fähigkeit, zwei Aufgaben gleichzeitig auszuführen (sie schaffen es z. B. nicht, den Finger beim Sprechen mitzuführen oder das Sprechen und die Fingerbewegungen zu synchronisieren)
-
•
unnatürliches Sprechen, da die meisten Patienten es nicht schaffen, das Tempo rhythmisch zu verlangsamen
Rhythmische Tempokontrolle
Sprachverzögerer
Selbstständige Tempokontrolle
Pausensetzung
Akzentsetzung
•
kontrastive Betonungsübungen
–
Mein Vater heißt Walter.
–
Heißt Ihr Vater Thomas? Nein, mein Vater heißt Walter.
–
Heißt Ihr Onkel Walter? Nein, mein Vater heißt Walter. usw.
•
Üben von Sätzen mit vorgegebenen Betonungsmustern
•
Lesepassagen und spontane Konversation, bei denen der Patient versucht, die Wörter besonders hervorzuheben, die für die Vermittlung der Informationen am wichtigsten sind
Kommunikative Ansätze
•
Kontrolle des kommunikativen Umfelds, z. B. gute Beleuchtung oder niedriger Geräuschpegel im Hintergrund
•
guter Augenkontakt zwischen Sprecher und Zuhörer, um Missverständnisse schnell zu identifizieren
•
evtl. Anschaffung eines Hörgerätes für den Partner
•
klare Themeneinleitung, v. a. bei Themenwechsel
•
gezieltes Nachfragen des Zuhörers bei Missverständnissen
Technologische Hilfen
11.5
Multiple Sklerose
Maßgebliche statistische Fakten
•
Prävalenz in Deutschland bei 150 Patienten auf 100.000 Einwohner
•
Erkrankungsbeginn meist zwischen dem 20. und 40. Lj.
•
Frauen häufiger betroffen als Männer
11.5.1
Entstehung
Ursachen
Pathophysiologie
-
•
Entzündung der Mark- oder Myelinscheiden der Nervenfasern
-
•
Entzündungsherde können sich vollkommen zurückbilden, meist bleiben Schäden an der Markscheide, die zerfällt und durch Narbengewebe ersetzt wird
-
•
Weiterleitung der Nervensignale an diesen Stellen beeinträchtigt, mit motorischen und sensorischen Störungen
-
•
Entmarkungsherde an allen Stellen des ZNS möglich (z. B. weiße Substanz von Hirnstamm, Kleinhirn, Rückenmark), Sehnerven ebenfalls häufig betroffen (Optikusneuritis)
11.5.2
Erscheinungsbild
Verlauf
•
bei 30–50 % langsamer Verlauf mit leichteren Schüben: relativ gute Lebensqualität über längere Zeit
•
bei bis zu 20 % chronische Form mit kontinuierlicher Verschlechterung der Symptome
•
in schwersten Fällen schwere Behinderungen oder der Tod innerhalb weniger Jahre
Allgemeine Symptome
-
•
spastische Lähmungen der Muskulatur Multiple Sklerose:motorische Störungenmit Auswirkungen auf die Grob-, Fein- und Sprechmotorik
-
•
abgeschwächte Muskelreflexe
-
•
Kleinhirnschädigung: Gangunsicherheiten, Intentionstremor, Sprechstörungen
-
•
Entzündungen der Hirnnerven: Gesichtslähmungen, Gesichtsschmerzen, Geschmacksstörungen
-
•
rasche Ermüdbarkeit
-
•
Blasen- und Darmentleerungsstörungen
-
•
vereinzelt apraktische Symptome
-
•
Sehstörungen
–
durch Entzündung des Sehnervs Multiple Sklerose:sensorische Störungen(z. B. Schleiersehen, Störungen des Farbsehens) als wichtiges Frühsymptom
–
durch Lähmung der Augenmuskulatur (z. B. Doppelbilder)
-
•
Kribbeln, Missempfindungen, insbesondere in den Extremitäten
-
•
Spannungsgefühle
-
•
kognitive Probleme, z. B. Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen
-
•
Sprachstörungen und Sprachverständnisstörungen:Multiple SkleroseSprachstörungen:Multiple SkleroseSprachverständnisstörungen
-
•
psychische Erkrankungen: überwiegend depressive Symptome, z. T. auch Euphorie
Sprechstörungen
-
•
reduziertes Lungenvolumen
-
•
kürzere max. Phonationsdauer und Multiple Sklerose:AtmungSatzlänge
-
•
Multiple Sklerose:HyperphonationHyperphonation:Multiple SkleroseHyperphonationbehauchte, raue, heisere oder gepresste Stimmqualität
-
•
höhere Stimmfrequenz
-
•
unpräzise Prosodie:Multiple SkleroseArtikulationsstörungen:Multiple SkleroseArtikulation
-
•
Verlängerung der Phoneme
-
•
Hypernasalität:Multiple SkleroseHypernasalität
•
Tempo: schleppende, langsame Sprechgeschwindigkeit, häufige Pausen
•
Lautstärke: reduzierte Lautstärke, Verringerung der Lautstärkenmodulation
•
Akzentsetzung: verringerte Tonhöhenmodulation, abweichende Intonationskonturen, reduzierte, unangebrachte oder fehlende Akzentsetzung
11.5.3
Diagnostik
-
•
Multiple Sklerose:Diagnostikdetaillierte Untersuchung sprechmotorischer Fähigkeiten: aufgrund der hohen Variabilität des Symptomkomplexes umfassende Analyse der Patientenäußerungen wichtig (Kap. 11.4.3)
-
•
Untersuchung auf kognitive und depressive Symptome: können Auswirkungen auf die sprechmotorischen und sprachlichen Fähigkeiten und die Therapiefähigkeit haben
-
•
Erfassung von Schluckbeschwerden (Kap. 12.2.2): können zu Aspirationspneumonien führen
11.5.4
Therapie
Therapieziele (Yorkston et al. 2010)
-
•
Erweiterung bzw. effektive Nutzung des Luftvolumens
-
•
Verbesserung der Stimmqualität
-
•
Verringerung des Sprechtempos
-
•
Verkürzung der Phrasen durch entsprechende Pausensetzung
-
•
erhöhte Akzentuierung einzelner Wörter
-
•
Verbesserung der Tonhöhen- und Lautstärkemodulation
-
•
Anpassung einer Gaumensegelprothese bei ausgeprägter Hypernasalität:Multiple SkleroseHypernasalität