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Mehr InformationenB978-3-437-47784-3.00010-1
10.1016/B978-3-437-47784-3.00010-1
978-3-437-47784-3
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Dysarthriesyndrome und deren Leitsymptomatik (Duffy 2013; Ziegler und Vogel, 2010)Dysarthrie:spastischeDysarthrie:schlaffeDysarthrie:rigid-hypokinetischeDysarthrie:hyperkinetischeDysarthrie:ataktische
Sprechatmung | Sprechstimme | Artikulation/Resonanz | Prosodie | |
Schlaffe Dysarthrie (engl.: flaccid d.) |
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Spastische Dysarthrie (engl.: spastic d.) |
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Ataktische Dysarthrie (engl.: ataxic d.) |
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Rigid-hypokinetische Dysarthrie (engl.: hypokinetic d.) |
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Hyperkinetische1 Dysarthrie (engl.: hyperkinetic d.) |
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1
es wird nur der choreatische Typ beschrieben.
Diagnostische Möglichkeiten zur Überprüfung sprechmotorischer Sprechapraxie:sprechmotorische Fähigkeiten, ÜberprüfungSprechapraxie:sprechmotorische Fähigkeiten, ÜberprüfungSprechapraxie:sprechmotorische Fähigkeiten, ÜberprüfungSprechapraxie:sprechmotorische Fähigkeiten, ÜberprüfungFähigkeiten
Aufgabe | Vorteil | Nachteil |
Spontansprache |
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Benennen | systematische Kontrolle der sprechmotorischen Anforderungen möglich | Abgrenzungsproblem zwischen sprechmotorischen Problemen und Wortabrufproblemen |
lautes Lesen | systematische Kontrolle der sprechmotorischen Anforderungen möglich | Abgrenzungsproblem zwischen sprechmotorischen und schriftsprachlichen Defiziten |
Nachsprechen auf Einzelwortebene |
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Kriterien zur Abgrenzung der Sprechapraxie von aphasisch-phonologischer Störung und Dysarthrie
Symptom | Sprechapraxie | aphasisch-phonologisch | Dysarthrie |
Phonematische Fehler | + | + | - |
Phonetische Entstellungen | + | sporadisch | + |
Dehnung einzelner Laute und Lautübergänge | + | - | - |
Silbisches Sprechen | + | - | bei ataktischer Dysarthrie |
Fehlerinkonstanz/-inkonsistenz | + | + | - |
Inseln störungsfreier Produktion | + | + | - |
Artikulatorisches Suchverhalten | + | Abgrenzung zu Conduite d'approche Phänomen | - |
Selbstkorrekturen | + | + | - |
+= liegt vor, - = liegt nicht vor
Bekannte Verfahren zur Behandlung der Tastbrett/Pacingboard:SprechapraxieTastbrett/Pacingboard:SprechapraxieTastbrett/Pacingboard:SprechapraxieTAKTKIN®:SprechapraxieTAKTKIN®:SprechapraxieTAKTKIN®:SprechapraxieSprechapraxie:Tastbrett/PacingboardSprechapraxie:Tastbrett/PacingboardSprechapraxie:Tastbrett/PacingboardSprechapraxie:TAKTKIN®Sprechapraxie:TAKTKIN®Sprechapraxie:TAKTKIN®Sprechapraxie:PROMPT®Sprechapraxie:PROMPT®Sprechapraxie:PROMPT®Sprechapraxie:progressive AssimilationSprechapraxie:progressive AssimilationSprechapraxie:progressive AssimilationSprechapraxie:phonetische AbleitungSprechapraxie:phonetische AbleitungSprechapraxie:phonetische AbleitungSprechapraxie:Phonetic PlacementSprechapraxie:Phonetic PlacementSprechapraxie:Phonetic PlacementSprechapraxie:MinimalpaartherapieSprechapraxie:MinimalpaartherapieSprechapraxie:MinimalpaartherapieSprechapraxie:MetronomsprechenSprechapraxie:MetronomsprechenSprechapraxie:MetronomsprechenSprechapraxie:metrische StimulationSprechapraxie:metrische StimulationSprechapraxie:metrische StimulationSprechapraxie:metrischer AnsatzSprechapraxie:metrischer AnsatzSprechapraxie:metrischer AnsatzSprechapraxie:kontrastive AkzentuierungSprechapraxie:kontrastive AkzentuierungSprechapraxie:kontrastive AkzentuierungSprechapraxie:erweiterte Mediationstechnik (EMS)Sprechapraxie:erweiterte Mediationstechnik (EMS)Sprechapraxie:erweiterte Mediationstechnik (EMS)Sprechapraxie:ElektropalatographieSprechapraxie:ElektropalatographieSprechapraxie:ElektropalatographieSprechapraxie:Acht-Stufen-KontinuumSprechapraxie:Acht-Stufen-KontinuumSprechapraxie:Acht-Stufen-KontinuumPROMPT®:SprechapraxiePROMPT®:SprechapraxiePROMPT®:SprechapraxieProgressive Assimilation:SprechapraxieProgressive Assimilation:SprechapraxieProgressive Assimilation:Sprechapraxiephonetische Ableitung:Sprechapraxiephonetische Ableitung:Sprechapraxiephonetische Ableitung:SprechapraxiePhonetic Placement:SprechapraxiePhonetic Placement:SprechapraxiePhonetic Placement:SprechapraxieMinimalpaartherapie:SprechapraxieMinimalpaartherapie:SprechapraxieMinimalpaartherapie:SprechapraxieMetronomsprechen:SprechapraxieMetronomsprechen:SprechapraxieMetronomsprechen:Sprechapraxiemetrische Stimulation:Sprechapraxiemetrische Stimulation:Sprechapraxiemetrische Stimulation:SprechapraxieKontrastive Akzentuierung:SprechapraxieKontrastive Akzentuierung:SprechapraxieKontrastive Akzentuierung:SprechapraxieEMS (erweiterte Mediationstechnik für Sprechapraxie)EMS (erweiterte Mediationstechnik für Sprechapraxie)EMS (erweiterte Mediationstechnik für Sprechapraxie)Elektropalatographie:SprechapraxieElektropalatographie:SprechapraxieElektropalatographie:SprechapraxieSprechapraxie
Verfahren | Kurzbeschreibung | Voraussetzungen Kontraindikationen |
Phonetic Placement (z.B. Wertz et al. 1984) | artikulatorische Vorgänge werden mittels auditiver, visueller und taktiler Techniken vermittelt | Voraussetzung:
|
Phonetische Ableitung (z.B. Wertz et al. 1984) | Ableitung von Lauten aus nicht sprachlichen Mundbewegungen (z. B. /f/ aus „Kerze ausblasen“) | Kontraindikation: (ausgeprägte) bukkofaziale Apraxie |
Progressive Assimilation (z.B. Wertz et al. 1984) | phonetische Ableitung der zu übenden Laute aus bereits beherrschten Lauten, z. B. /d/ aus /n/ oder /y/ aus /i/ | Voraussetzung: stabile Produktion einzelner Laute |
Acht-Stufen-Kontinuum (Methode der integralen Stimulation, Rosenbek et al. 1973) | mehrstufige Aufgabenhierarchie:
|
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EMS – erweiterte Mediationstechnik für Sprechapraxie (Shell 2001) | basierend auf Konzept der intersystemischen Reorganisation: Kopplung bedeutungsloser Handgesten mit einzelnen Lauten |
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Minimalpaar-Technik/Sound Produktion Treatment (z.B. Wambaugh et al. 2004) | Festigung von phonetischen Kontrasten im Minimalpaar, (z. B. stimmhaft-stimmlos: Gasse – Kasse; Plosiv-Frikativ: Haus – Haut) | Voraussetzung:
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Metrischer Ansatz (Ziegler und Jaeger 1993) |
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Voraussetzungen:
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PROMPT® (z.B. Square-Storer und Hayden 1989) TAKTKIN® (deutsche Adaptation; Birner-Janusch 2001) |
dynamische taktil-kinästhetische Stimulation von Artikulationsbewegungen durch fazio-orale Berührungsreize (taktil-kinästhetisches Führen) bei gleichzeitiger visuell-auditiver Stimulation |
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Tastbrett/Pacingboard (z.B. Wertz et al. 1984) |
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Probleme:
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Metronomsprechen (z.B. Dworkin, Abkarian und Johns 1988) |
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Problem: Elizitieren einer silbischen, monotonen, unnatürlichen Sprechweise |
Metrische Stimulation (z.B. Metrical Pacing Therapy; Brendel und Ziegler 2008) | Patient spricht synchron zu einem Taktgeber, der dem natürlichen Rhythmus (Metrum) der geübten Zieläußerung angepasst ist – mittels instrumenteller Verfahren oder durch taktile oder auditive Vorgabe durch den Therapeuten | Voraussetzung: zumindest kurze Sätze und Phrasen müssen produziert werden können |
Kontrastive Akzentuierung (z.B. Wertz et al. 1984) |
|
Voraussetzung: zumindest kurze Sätze und Phrasen müssen produziert werden können |
Elektropalatographie (z.B. Howard und Varley 1995) |
|
Probleme:
|
Neurogene Sprechstörungen
10.1
Dysarthrie
10.1.1
Ursachen und Pathophysiologie
Ätiologien
•
zerebrovaskuläre Erkrankungen
•
Parkinson-Syndrome und andere Stammganglienerkrankungen
•
Schädel-Hirn-Trauma
•
Infantile Cerebralparese
•
Multiple Sklerose
•
Erkrankungen des motorischen Neurons, z. B. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
•
degenerative Kleinhirnerkrankungen
•
primärer motorischer Kortex, insbesondere dessen untere Abschnitte nahe der sylvischen Furche
•
die vom primären motorischen Kortex absteigenden kortiko-fugalen Bahnen
•
die im Hirnstamm gelegenen Kerne der Hirnnerven V, VII, IX, X und XII
•
für die Atmungskontrolle relevante motorische Kerne im zervikalen und thorakalen Rückenmark
•
eine „motorische Stammganglienschleife“, die von den motorischen Kortexarealen über das Striatum und den ventrolateralen Thalamus zurück auf die kortikal-motorischen Ausgangsareale projiziert
•
eine „Kleinhirnschleife“, die von den motorischen Kortexarealen über Brückenkerne auf zerebelläre Kortexareale und über die Kleinhirnkerne und den motorischen Thalamus zurück auf die kortikal-motorischen Ausgangasareale projiziert (Ziegler und Vogel, 2010)
Pathophysiologie
-
•
tritt v. a. bei Läsionen Dysarthrie:Parese, schlaffe/spastischeder Hirnnervenkerne und des peripheren Neurons oder bei einer Schädigung des neuromuskulären Übergangs Parese, schlaffe/spastische:Dysarthrieauf Sprechbewegungen sind durch eine schlaffe Lähmung gekennzeichnet, sie sind verlangsamt und in ihrer Amplitude eingeschränkt
-
•
tritt bei Läsionen des motorischen Gesichtskortex und der kortikonukleären Verbindungsbahnen auf
-
•
Sprechbewegungen sind durch eine Lähmung bei erhöhtem Tonus charakterisiert
-
•
Reflexe und emotionale Ausdrucksbewegungen sind erhalten
-
•
tritt bei Basalganglienläsionen auf, z. B. im Rahmen eines Parkinson-Syndroms
-
•
Sprechbewegungen sind durch eine rigide Tonuserhöhung und/oder eine Akinesie Dysarthrie:Akinesie/Rigorbeeinträchtigt
-
•
akinetische Störungen können auch bei bilateralen Läsionen der medialen präfrontalen Rinde (SMA, vorderer zingulärer Kortex) auftreten
-
•
sie können ebenfalls als Folge einer dyskinetische Störungen:DysarthrieStammganglienschädigung auftreten
-
•
dazu zählen verschiedene Formen unwillkürlicher Muskelaktivität, z. B. choreatische Störungen, Tics, Dystonien oder Myoklonien
-
•
tritt bei Läsionen des Ataxie:DysarthieKleinhirns und dessen afferenter und efferenter Projektionen auf
-
•
Sprechbewegungen sind durch Verlangsamung, Zielungenauigkeit (Dysmetrie), zeitliche und räumliche Koordinationsprobleme und Tremor gekennzeichnet
-
•
unwillkürliche Tremor:Dysartherhythmisch-oszillierende Bewegungen unterschiedlicher Frequenz (ca. 2–12 Hz) von Kehlkopf, Gaumensegel, Zunge, Unterkiefer oder Lippen
-
•
kann im Rahmen verschiedener Syndrome auftreten, z. B. beim Parkinson-Syndrom oder bei zerebellärer Ataxie, aber auch als essenzieller Tremor
10.1.2
Erscheinungsbild
Beeinträchtigte Funktionskreise
-
•
erhöhte Einatmungshäufigkeit, inadäquate Einatmungspausen
-
•
Überziehen der Sprechatmung:DysarthrieDysarthrie:SprechatmungAtemmittellage
-
•
(hörbar) angestrengte Einatmung
-
•
veränderte Tonhöhe oder Sprechstimme:DysarthrieDysarthrie:SprechstimmeLautstärke
-
•
veränderte Stimmqualität, z. B. behaucht, rau oder gepresst, bei schwerster Ausprägung stimmlose Phonation (Aphonie)
-
•
Instabilität der Stimme, z. B. Schwankungen von Tonhöhe oder Lautstärke, Stimmabbrüche, Stimmzittern, wechselnde Stimmqualität
-
•
veränderte Artikulationsstörungen:DysarthrieVokalartikulation, z. B. Zentralisierung, Entrundung
-
•
veränderte Konsonantenartikulation, z. B. Lenisierung, Fortisierung, Spirantisierung
-
•
Hypernasalität oder nasaler Resonanzstörungen:DysarthrieDurchschlag
-
•
Hyponasalität oder Denasalierung
-
•
Veränderungen im Artikulationstempo,Prosodie:Dysarthrie z. B. verlangsamt, beschleunigt
-
•
Unterbrechungen des Redeflusses, z. B. durch Sprechpausen, Lautdehnungen, Iterationen
-
•
Veränderungen von Akzent und Intonation, z. B. Fehlbetonungen, silbisches Sprechen, monotone oder übersteigerte Modulation
Interaktion der Symptome
•
infolge einer Schwäche der Inspirationsmuskulatur (primäres Symptom)
•
infolge eines erhöhten Luftverlusts an der Glottis bei laryngealer Dysfunktion (sekundäres Symptom)
•
infolge einer velopharyngealen Insuffizienz oder bei mangelnder Verschlusskraft der Artikulatoren (sekundäres Symptom)
Einschränkungen im Alltag
•
artikulatorische Artikulationsstörungen:DysarthrieSymptome (z. B. reduzierte Konsonantenartikulation, Hypernasalität) können Verständlichkeitseinbußen bedingen. In Abhängigkeit vom Schweregrad kann die Verständlichkeit beinahe vollständig aufgehoben, oder aber nur in spezifischen Situationen (z. B. in lauter Umgebung, am Telefon, im Gespräch mit Fremden) eingeschränkt sein
•
stimmliche und prosodische Symptome (z. B. Tonhöhenschwankungen, reduziertes Tempo, Monotonie) können darüber hinaus dazu führen, dass die Sprechweise dysarthrischer Patienten als unnatürlich, d. h. als ungewöhnlich, irritierend oder bizarr wahrgenommen wird. Selbst bei erhaltener Verständlichkeit können Einschränkungen der Sprechnatürlichkeit mit enormen kommunikativen Schwierigkeiten verbunden sein
•
diese kommunikativen Einschränkungen haben nicht selten Beeinträchtigungen der sozialen Teilhabe zur Folge. Für viele Patienten stellt eine Dysarthrie z. B. ein entscheidendes Hindernis im Berufsleben dar. Betroffene sind zudem mit den oft negativen Einstellungen der Gesellschaft gegenüber Menschen mit (Sprech-)Behinderungen konfrontiert, was zusätzliche soziale Hürden schaffen kann (Schölderle, Staiger, Heß und Ziegler, submitted)
Syndrome (Tab. 10.1)
10.1.3
Diagnostik
Auditive Verfahren
-
•
„Bogenhausener Dysarthrieskalen“ (BoDyS, Ziegler, Schölderle, Staiger und Vogel 2015):Bogenhausener Dysarthrieskalen (BoDyS) etabliertes, neurophonetisch begründetes Inventar systematischer Beschreibungskategorien für alle funktionalen Dimensionen des Sprechens
–
jede der 9 Subskalen (Sprechatmung, Stimmlage, Stimmqualität, Stimmstabilität, Artikulation, Resonanz, Artikulationstempo, Redefluss, Prosodische Modulation) wird durch repräsentative Störungsmerkmale beschrieben (z. B. Skala Resonanz: Merkmale hypernasal, hyponasal, intermettierend hypo-hypernasal)
–
Auswertung durch hörerfahrene Sprachtherapeuten
–
Ausprägung der Störungsdimensionen auf 5 Stufen (0 = schwere Störung, 4 = keine Störung), Bewertung orientiert sich an 12 Sprechproben, die nach einem standardisierten Schema erhoben und beurteilt werden
–
nichtsprachliche motorische Aufgaben haben für die Beschreibung des Profils der Sprechstörung keine Bedeutung
–
Standardnormierung anhand einer Stichprobe von 200 Dysarthriepatienten unterschiedlicher Ätiologien
-
•
„Frenchay Dysarthrie Assessment“ (FDA, Enderby und Palmer 2008)Frenchay Dysarthrie Assessment (FDA)
–
7 Funktionsbereiche (Reflexe, Respiration, Lippen, Gaumensegel, Stimme, Zunge, Verständlichkeit) werden durch 28 Subtests abgeprüft, die unterschiedliche Aufgabentypen (z. B. Beobachtung in Ruhe, mundmotorische Aufgaben, Nachsprechsätze) und eine Vielzahl an Analysemethoden (z. B. Ratingskalen, Messungen von Dauern, auditive Urteile) beinhalten; keine einheitliche Bewertung der Störungsschwerpunkte möglich
–
nur 8 der 28 Subtests beziehen sich auf das Sprechen, alle anderen prüfen nichtsprachliche motorische Leistungen des Vokaltrakts (z. B. Husten, Lippen breitziehen)
-
•
„Untersuchung neurologisch bedingter Sprech- und Stimmstörungen“ (UNS, Breitbach-Snowdon 2003): Aufgabensammlung zur Prüfung unterschiedlichster Untersuchung neurologisch bedingter Sprech- und Stimmstörungen (UNS)Vokaltraktfunktionen
–
7 Funktionsbereiche (Spontansprache, Artikulation, Diadochokinese, Prosodie, Atmung, Muskulatur Mundinnenraum, Phonation) werden mit zahlreichen Subtests geprüft, wobei unterschiedlichste Analysemethoden zum Einsatz kommen (z. B. Beobachtung, Messung von Dauern, auditive Urteile); keine einheitliche Bewertung der Störungsschwerpunkte möglich, keine Ermittlung eines Gesamtschweregrads
–
zahlreiche Subtests prüfen nichtsprachliche motorische Leistungen des Vokaltrakts
-
•
Syndromdiagnose: traditionelle Einteilung dysarthrischer Störungsmuster basierend auf Darley, Aronson and Brown (1969)
–
die auditive Erfassung der dysarthrischen Symptome anhand unterschiedlicher Sprechproben (z. B. Spontansprache, Lesetexte) kann der Syndromdiagnose dienen (Leitsymptome der verschiedenen Dysarthriesyndrome Tab. 10.1)
Akustische Analysen
-
•
computergestützte Signalanalyseverfahren zur Dysarthrie:akustische Analysenquantitativen Beschreibung von Sprechtempo, Sprechstimmlage, Stimmqualität und artikulatorischen Parametern
-
•
objektive, reliable Analyse möglich, die jedoch ein hohes Maß an phonetisch-akustischer Expertise und Erfahrung im Umgang mit Analysesoftware erfordert (Schölderle, Staiger, Hoffmann und Ziegler 2015)
Apparative Verfahren
-
•
z. B. elektromagnetische Artikulographie, Dysarthrie:apparative VerfahrenElektropalatographie etc.; diese Verfahren spielen wegen ihres invasiven Charakters und ihres hohen Untersuchungsaufwands in der klinischen Diagnostik eine untergeordnete Rolle
-
•
die video-laryngoskopische Untersuchung im Rahmen der phoniatrischen/HNO-ärztlichen Testung kann Aufschluss über laryngeale Bewegungsstörungen, z. B. Stimmlippenparesen, laryngealen Tremor oder Myoklonien geben
Nichtsprachliche Aufgaben
•
isolierte Bewegungsfunktionen von Vokaltraktorganen: Prüfung des Hirnnervenstatus (z. B Beeinträchtigung des N. hypoglossus oder N. fazialis)
•
artikulatorische Diadochokinese: z. B. Dysdiadochokinese als Hinweis auf zugrunde liegende Pathologie (z. B. ataktische Bewegungsstörung bei zerebellärer Pathologie)
•
Vokalhalteaufgaben: Bestimmung der Stimmtremorfrequenz für Hinweise auf zugrunde liegende Pathologie (z. B. zerebelläre Pathologie: ca. 2–3 Hz, essenzieller Tremor, Parkinson-Syndrom, spasmodische Dysphonie: bis zu 10 Hz)
Theoretische Überlegungen und empirische Befunde von Leistungsdissoziationen legen jedoch nahe, dass nichtsprachliche Aufgaben keine validen Rückschlüsse auf den Schweregrad oder die Ausprägung der Sprechstörung erlauben (Staiger, Schölderle, Brendel und Ziegler 2017). Aussagen zur Dysarthrie lassen sich nur zuverlässig durch die Beobachtung des Sprechens ableiten!
Beurteilung der kommunikativen und psychosozialen Folgen
-
•
gängige Diagnostikverfahren beinhalten Rating-Skalen Dysarthrie:kommunikative und psychosoziale Folgen, Beurteilungzur Einschätzung der Verständlichkeit (z. B. Frenchay Dysarthrie Assessment), die jedoch rein subjektiv und somit oft wenig reliabel sind (z. B. hängt das Urteil maßgeblich von der Vertrautheit der Therapeutin mit dem Patienten ab)Dysarthrie:Verständlichkeit (intelligibility)
-
•
ein objektives und standardisiertes Verfahren zur Verständlichkeitsmessung ist das „Münchner Verständlichkeits-Profil (MVP)“, Münchner Verständlichkeits-Profil (MVP)das als Online-Anwendung zur Verfügung steht (Ziegler und Zierdt 2008)
-
•
Einschränkung der sozialen Partizipation können durch Selbstauskunftsbögen erfragt werden (Baylor et al. 2013; Schmich et al. 2010; Walshe, Peach und Miller 2009)
10.1.4
Differenzialdiagnose
Dysglossie
-
•
DysglossienVeränderungen/Verletzungen der peripheren Sprechorgane (z. B. nach Tumorresektion, Kieferfraktur), keine neurologische Grunderkrankung
-
•
klar abgrenzbare Merkmale, z. B. Artikulationsstörung nach Teilresektion der Zunge
-
•
bei SHT mit zusätzlichen Schädelverletzungen (z. B. Kieferfrakturen) können Dysarthrie und Dysglossie koexistieren
Sprechapraxie (Kap. 10.2)
-
•
betroffen Sprechapraxiesind die Planung und Programmierung sprechmotorischer Abläufe
-
•
Störungsmerkmale variieren in ihrer Charakteristik und ihrem Ausprägungsgrad
-
•
„Inseln störungsfreien Sprechens“
-
•
Suchbewegungen, Fehlversuche, Neustarts und Selbstkorrekturen
-
•
phonematische Fehler
-
•
die Artikulationsstörung steht gegenüber stimmlichen und respiratorischen Beeinträchtigungen im Vordergrund
Aphasie (Kap. 8.1)
-
•
i. d. R. Aphasienicht auf die mündliche Sprachproduktion beschränkt, betrifft meist auch Sprachverstehen und Schriftsprache
-
•
beinhaltet Störungen semantischer, syntaktischer, lexikalischer und phonologischer Aspekte der Sprachverarbeitung
-
•
in mündlicher Sprachproduktion treten Wortfindungsstörungen, morphematische Veränderungen, phonematischen Paraphasien oder Neologismen auf
Psychogene Sprechstörungen
-
•
stimmliche und Sprechstörungen:psychogeneartikulatorische Probleme auch bei psychiatrischen Erkrankungen möglich (z. B. verlangsamte, monotone Sprechweise bei Depression)
-
•
Mutismus, Stottern oder Stimmtremor auch als Konversionsstörungen möglich. Hinweise auf psychische Genese bei Konversionssymptomen sind:
–
psychische Belastungssituationen als Auslöser der Störung erkennbar
–
spontane Remission nach wenigen Wochen oder Monaten
10.1.5
Therapie
Übungsbehandlung
-
•
durch intensives motorisches Lernen soll eine zumindest teilweise Restitution verloren gegangener motorischer Fertigkeiten erreicht werden
-
•
außerdem sollen Fehlanpassungen abgebaut und die verbliebenen Möglichkeiten für eine möglichst effiziente Kompensation der Störung genutzt werden
-
•
Analyse des Störungsschwerpunkts: Sprechatmung, Stimme, velopharyngeale Luftstromkontrolle, linguo-mandibuläre und labio-mandibuläre Bewegungskontrolle
-
•
Training verloren gegangener Bewegungsmuster, gezielte Stimulation durch systematisches und häufiges Üben
-
•
Zurückdrängung von Fehlanpassungen und Verbesserung der Sprechökonomie durch Haltungskorrekturen oder eine bewusste Kontrolle von Sprechatmung, Kieferöffnung, Sprechtempo oder Sprechrhythmus
-
•
Berücksichtigung sprechmotorischer Lernprinzipien (Kap. 10.2.5)
-
•
einziges Lee Silverman Voice Treatment (LSVT):DysarthrieDysarthrie:Lee Silverman Voice Treatment (LSVT)Übungsverfahren, für das systematische Wirksamkeitsanalysen mit hinreichend großen Stichproben vorliegen; Leitlinienempfehlung (Kap. 10.3)
-
•
ursprünglicher Einsatzbereich war die Behandlung der Dysarthrie beim Parkinson-Syndrom (Benecke und Penner 2017), mittlerweile wurde das Verfahren auch für andere ätiologische Gruppen evaluiert (z. B. für Kinder mit Cerebralparese, Fox und Boliek 2012)
-
•
durch hierarchischen Aufbau von Stimm- und Atmungsübungen Kräftigung der Kehlkopfadduktion zur Erhöhung des respiratorischen Anblasedrucks, um die Stimmqualität zu verbessern und die Sprechlautstärke zu steigern
Hilfsmittel und prothetische Maßnahmen
-
•
Gaumensegelprothese: bei vorherrschender Symptomatik durch Gaumensegelinsuffizienz (z. B. bei zentraler Gaumensegelparese); Leitlinienempfehlung (Kap. 10.3); begleitend intensive Übungsbehandlung erforderlich
Neurochirurgische und neuropharmakologische Ansätze
-
•
Dysarthrie:TiefenhirnstimulationTiefenhirnstimulation: positive Effekte einer Stimulation der subthalamischen Kerne wurden nicht nachgewiesen (Nebel 2017)
-
•
Dysarthrie:DopaminergikaDopaminergika: positive Einflüsse auf Stimmparameter bei M. Parkinson wurden berichtet. Im Vergleich zu den allgemein-motorischen Verbesserungen Modulation der dysarthrischen Störung durch dopaminerge Substanzen allerdings wenig überzeugend (Nebel 2017)
-
•
Botulinumtoxin-InjektionenDysphonie:spastische bei spasmodischer Dysphonie: v. a. bei hyperadduktorischer Variante wirksam; Leitlinienempfehlung (Kap. 10.3). Reinjektionen im Abstand weniger Monate erforderlich (Rubin, Wodchis, Spak, Kileny, und Hogikyan 2004). Erfolgreiche Behandlungsversuche mit Botulinumtoxin wurden bei Stimmtremor berichtet (Adler et al. 2004). Mögliche Nebenwirkungen: behauchte Stimmqualität, Schluckstörungen
Unterstützte Kommunikation und Angehörigenarbeit
-
•
alternative Kommunikationshilfen bei stark eingeschränkter mündlicher Kommunikationsfähigkeit: vorübergehender oder dauerhafter Einsatz von Gesten, Buchstaben- oder Bildtafeln, individuellen Kommunikationsbüchern; Anpassung einfacher oder komplexer elektronischer Sprachausgabegeräte mit individuell geeigneter Ansteuerung (z. B. Talker mit Augensteuerung)
-
•
Training effizienter Kommunikationsstrategien mit Patienten und möglichst auch den Angehörigen. Transfer des Therapieerfolgs wird erreicht, wenn die erworbenen Funktionen und Strategien in alltagsnahen und für den Patienten relevanten Situationen geübt und überprüft werden
10.2
Sprechapraxie
Die Bezeichnungen „Störung der Planung von Sprechbewegungen“, „Störung der Programmierung von Sprechbewegungen“ oder „Störung der phonetischen Enkodierung“ werden im Wesentlichen synonym verwendet.
10.2.1
Ursachen
-
•
vaskuläre Sprechapraxie:UrsachenErkrankungen (z. B. Infarkt, Blutung) mit Läsionen im Versorgungsgebiet der A. cerebri media der sprachdominanten (meist linken) Großhirnhemisphäre, insbesondere im inferioren dorsolateralen präfrontalen Kortex (Broca-Areal), im angrenzenden ventralen prämotorischen und primärmotorischen Kortex sowie in der vorderen Inselrinde mit darunter liegendem Marklager (Ziegler und Staiger 2016)
-
•
Schädel-Hirn-Traumen
-
•
Tumorerkrankungen
-
•
auch bei neurodegenerativen Erkrankungen beschrieben, z. B. corticobasales Syndrom (CBS), progressive supranukleäre Blickparese (PSP), nichtflüssige Variante der primär progredienten Aphasie (PPA; Duffy, Strand und Josephs 2014)
Erklärungsansätze
10.2.2
Erscheinungsbild
•
segmentale Ebene, d. h. die einzelnen Sprachlaute betreffend
•
suprasegmentale (prosodische) Ebene, d. h. rhythmische und melodische Aspekte betreffend
•
Ebene des Sprechverhaltens
Störungen der segmentalen Ebene
-
•
phonematische Fehler: kategoriale („wohlartikulierte“) Fehler wie Lautauslassung (v. a. bei Konsonantenverbindungen), -ersetzung und -hinzufügung
–
Beispiel: „Bett“ → [gɛt]
-
•
phonetische Entstellungen: graduelle Lautveränderungen wie Lautdehnungen, (De-)Nasalierungen, Labialisierung, Überspiration etc.
–
Beispiel: „Tasse“ → [thhasə]
-
•
entstellte phonematische Fehler: z. B. wird ein Laut ersetzt und gleichzeitig graduell verändert
–
Beispiel: „Balken“ → [balөən] (Erklärung: Ersetzung des velaren Plosivs /k/ durch apikalen Frikativ [d. h. kategoriale/phonematische Veränderung], zusätzlich interdentale Fehlbildung des ersetzten Lauts [d. h. phonetische Entstellung])
-
•
häufiger Einfluss des phonetisch-phonologischen Kontexts zu beobachten
–
Antizipationen: Vorwegnahme nachfolgender Laute; Beispiel: „Flasche“ → [ʃlaʃə]
–
Perseverationen: Wiederholung vorangegangener Laute; Beispiel: „Knecht“ → [knɛkt]
–
Metathesen: Vertauschung von Lauten; Beispiel: „Besen“ → [ze:bən]
-
•
gestörte Lautübergänge (Störung koartikulatorischer Prozesse), z. B fehlende Lippenrundungsgeste bei /m/ im Wort „Mutter“
-
•
Einflussfaktoren auf das Fehlermuster (Aichert, Wunderlich und Ziegler 2012), z. B.
–
Positionseffekt: Silbenanlaute häufiger betroffen als Coda-Konsonanten
–
Komplexitätseffekt: Konsonantenverbindungen fehleranfälliger als Einzelkonsonanten
–
Wortlängeneffekt: überproportionaler Fehleranstieg mit zunehmender Äußerungslänge
–
Silbenfrequenzeffekt: höhere Fehlerwahrscheinlichkeit bei nieder- als bei hochfrequenten Silben
-
•
Variabilität des Fehlermusters: Laute können bei wiederholter Produktion eines Wortes fehlerhaft oder korrekt gebildet werden; die segmentale Struktur eines Wortes kann zu verschiedenen Zeitpunkten auf sehr unterschiedliche Weise fehlgebildet werden (Staiger, Finger-Berg, Aichert und Ziegler 2012)
-
•
„Inseln“ störungsfreier Produktion: auch bei mittelschwerer oder schwerer Sprechapraxie können vereinzelt völlig störungsfreie Intervalle auftreten
Störungen der suprasegmentalen Ebene
-
•
langsames Sprechen, verlängerte Lautübergänge
-
•
inadäquate und/oder zu lange Pausen
-
•
silbisches („skandierendes“) Sprechen
-
•
Laut-, Silben- und/oder Wortiterationen
-
•
Nivellierung von Akzentkontrasten und Intonationsmustern (monotone Sprechweise)
-
•
Unterbrechungen des Redeflusses durch Fehlversuche und Selbstkorrekturen
Störungen des Sprechverhaltens
-
•
stumme und/oder Sprechverhaltensstörungenhörbare Suchbewegungen (artikulatorisches Suchverhalten)
-
•
sicht- und hörbare Sprechanstrengung:
–
erhöhter Tonus und/oder Mitbewegungen der orofazialen Muskulatur
–
erhöhte Sprechstimmlage
–
Hochatmung
-
•
erkennbare Unzufriedenheit mit der eigenen Leistung
Einschränkungen im Alltag
-
•
in Abhängigkeit vom Schweregrad: Verständlichkeitsminderung, Veränderung der Sprechnatürlichkeit, hoher zeitlicher Aufwand beim Sprechen, Anstrengung beim Sprechen → können zu erheblichen Beeinträchtigungen der Kommunikation führen
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bei schwersten Störungen („apraktischer Mutismus“): völlig aufgehobene Fähigkeit zur mündlichen Kommunikation
10.2.3
Diagnostik
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Nachweis des Vorliegens einer Sprechapraxie
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Bestimmung des sprechapraktischen Störungsanteils am Gesamtbild der Kommunikationsstörung
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Abgrenzung zu anderen Sprech- und Sprachstörungen (insbesondere zur aphasisch-phonologischen Störung und zur Dysarthrie)
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Ermittlung des Schweregrades und des Störungsschwerpunktes
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Ableitung geeigneter Therapieansätze
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Verlaufskontrolle bzw. Qualitätssicherung der Therapie
Vorgehen
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Einsicht in neurologische und neuropsychologische Vorbefunde: bei Sprechapraxie meist Infarkt oder Blutung der linken mittleren Hirnarterie
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orientierende Analyse der Spontansprache und des AAT-Profils:
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alle Modalitäten der mündlichen Sprachproduktion sind betroffen (möglicherweise in unterschiedlichem Ausmaß)
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Sprachverständnis ist relativ gut erhalten
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schriftsprachliche Fähigkeiten vergleichsweise besser erhalten als mündliche Sprachproduktionsleistungen
Diese Beobachtungen können Hinweise auf eine Sprechapraxie liefern, sofern aphasische Störungen nicht im Vordergrund der kommunikativen Beeinträchtigung stehen. Treffen die Beobachtungen nicht zu, kann das Vorliegen einer Sprechapraxie nicht ausgeschlossen werden!
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Untersuchung von Sprechatmung und -stimme:
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keine primäre Störung von Sprechatmung oder -stimme bei Sprechapraxie (jedoch als Sekundärsymptomatik infolge erhöhter Sprechanstrengung möglich!)
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Bestimmung von möglichen dysarthrischen Störungsanteilen (Kap. 10.1)
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systematische Diagnostik der Sprechapraxie (z. B. mittels phonetisch kontrollierter Wortlisten oder systematischer Analyse der Spontansprache)
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Beurteilung der segmentalen Struktur (phonematische und phonetische Struktur)
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Beurteilung der suprasegmentalen (prosodischen) Struktur
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Beurteilung des Sprechverhaltens
Diagnostische Ansätze (Tab. 10.2)
Hierarchische Wortlisten (Liepold, Ziegler und Brendel 2003)
1
Erhältlich unter: www.ekn.phonetik.uni-muenchen.de/diagnostik_therapie/hwl/index.html
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bestehend aus 16 Wortlisten à 6 Wörtern (bzw. Pseudowörtern)
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Wortlisten eignen sich zur Überprüfung des Lautinventars des Deutschen
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Konsonanten: Variation von Artikulationsart, Artikulationsort, Stimmhaftigkeit
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Vokale: Variation von Kurz-/Langvokalen, Diphthonge
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Wortlisten systematisch kontrolliert nach
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Silbenanzahl: systematische Zunahme der Silbenanzahl ermöglicht Erkennen von Wortlängeneffekten (höhere Fehlerrate bei ansteigender Silbenanzahl)
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Silbenstruktur: einfache Silbenstrukturen mit Konsonant-Vokal-Verbindungen vs. komplexe Silbenstrukturen mit Konsonant-Konsonant-Verbindungen; erlaubt systematische Beurteilung von Komplexitätseffekten (höhere Fehlerrate bei zunehmender Komplexität)
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Lexikalität: bedeutungshaltige Wörter vs. Pseudowörter; erhöhte Anforderungen durch Pseudowörter, damit erhöhte Testsensitivität bei leichteren Ausprägungsformen. Achtung: Die Interpretation von Fehlern beim Nachsprechen von Pseudowörtern kann schwierig sein (Einfluss des Arbeitsgedächtnisses, Lexikalisierung) und einen Verzicht auf die Analyse von Pseudowörtern erfordern!
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für jedes Prüfitem werden phonetische Struktur, phonematische Struktur sowie der Redefluss beurteilt → Bewertungen über alle Prüfitems münden in ein Sprechapraxie-Profil
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darüber hinaus wird eine qualitative Auswertung weiterer Merkmale vorgenommen: Sprechanstrengung, Suchverhalten, silbisches Sprechen, veränderter Wortakzent
Beurteilung der kommunikativen Beeinträchtigung
Verwendung nichtsprachlicher Aufgaben in der Diagnostik
10.2.4
Differenzialdiagnose
Es gibt keine Symptome, die exklusiv für die Sprechapraxie sind. Die Differenzialdiagnose stützt sich auf charakteristische Symptomkombinationen. Je mehr Merkmale zu beobachten sind, die charakteristisch für die Sprechapraxie sind, desto wahrscheinlicher ist das Vorliegen einer Sprechapraxie.
10.2.5
Therapie
Ziele
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Therapieziele sollten alle Störungsaspekte der Sprechapraxie:TherapieSprechapraxie berücksichtigen und die Verbesserung der segmantalen Struktur (Artikulation), der suprasegmentalen Struktur (Prosodie) sowie des Sprechverhaltens umfassen
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in Anlehnung an das ICF-Modell der WHO lassen sich die Ziele auf verschiedenen Ebenen definieren (WHO 2005)
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Ebene der Funktion: Verbesserung der sprechmotorischen Funktionen (Beispiel: Patient soll stimmhafte und stimmlose Laute bei der Produktion von Minimalpaaren differenzieren können)
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Ebene der Aktivität: Verbesserung der Verständlichkeit und des Redeflusses, Steigerung der Natürlichkeit des Sprechens (Beispiel: Patient soll bei Wörtern mit komplexer Silbenstruktur das Sprechtempo lokal reduzieren, um die Äußerung verständlicher und ohne Korrekturverhalten zu produzieren)
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Ebene der Partizipation/Teilhabe: Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit im Alltag (Beispiel: Patient soll bei Telefongesprächen mit unvertrauten Gesprächspartnern in kurzen und syntaktisch einfachen Sätzen antworten, um Kapazitäten für die sprechmotorische Planung zu schonen und den kommunikativen Erfolg zu sichern)
Planung
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Definition individuell angepasster Therapie-/Teilziele
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Erstellen einer Aufgabenhierarchie unter Beachtung der individuellen Fähigkeiten des Patienten
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regelmäßige Überprüfung der Teilziele, ggf. Anpassung der Ziele
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Auswahl geeigneter therapeutischer Ansätze und Verfahren: Aufgabenstellung, sprachliches Stimulusmaterial, Vermittlungstechniken (Aichert und Staiger 2015; Staiger und Aichert 2010b; Ziegler et al. 2010)
Aufgabenstellungen
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Beispiele: Nachsprechen (auch: Mitsprechen, verzögertes Nachsprechen), lautes Lesen, mündliches Benennen, Lückensatzergänzung, Dialoge
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jede Aufgabenstellung verfügt über implizite Hilfestellungen (z. B. audio-visuelle Stimulation beim Nachsprechen), aber auch spezifische Anforderungen (z. B. Arbeitsgedächtnisleistung beim Nachsprechen) → Ermittlung individueller Anforderungs- bzw. Schwierigkeitshierarchien
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über Variation der Aufgabenstellungen kann der Abbau von Hilfestellungen und die Anregung zu selbstständigerer Produktion von Sprachäußerungen erzielt werden (Beispiel: „Acht-Stufen-Kontinuum“; Rosenbek, Lemme, Ahern, Harris und Wertz 1973)
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von der Verwendung nichtsprachlicher Aufgaben (mundmotorischer Übungen) wird aufgrund fehlender theoretischer Argumente und Wirksamkeitsnachweise abgeraten (Aichert und Staiger 2015)
Sprachliches Stimulusmaterial
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Auswahl orientiert sich Sprechapraxie:sprachliches Stimulusmaterialan Schweregrad und individuellem Störungsprofil sowie an den Bedürfnissen des Patienten (z. B. individuell bedeutsames Sprachmaterial)
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Berücksichtigung individueller Einflussfaktoren auf das Fehlermuster (z. B. Silbenkomplexität)
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segmentale Verfahren: Sprechapraxie:segmentale VerfahrenVorgehensweise orientiert sich an der Vermittlung einzelner Sprachlaute, die sprechmotorische Übungseinheit stellt das einzelne Phonem dar
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Beispiele: phonetische Ableitung, progressive Lautannäherung, Phonetic-Placement-Technik (Square-Storer 1989)
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Bewertung: segmentale Verfahren können bei Patienten mit ausgeprägteren Störungen zur Vermittlung von lautlichen Bewegungsaspekten eingesetzt werden. Eine Einbettung in größere sprachliche Einheiten (einfache Silben) sollte, wenn möglich, noch in der gleichen Übungssequenz erfolgen. Nachteil: mit Ausnahme von Vokalen (z. B. „Ei“) stellen Einzellaute höchst artifizielle sprechmotorische Einheiten dar. Möglicherweise wird die Produktion von Einzellauten über nichtsprachliche Mechanismen gesteuert (hier Interferenz mit bukkofazialer Apraxie!). Bei der Einzellautvermittlung werden „starre“ Artikulationsmuster ohne koartikulatorische Anpassung angebahnt. Dies kann den späteren Transfer in größere Einheiten behindern (Aichert und Ziegler 2013)
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wortstrukturelle Verfahren: Sprechapraxie:wortstrukturelle VerfahrenBegriff umfasst alle Vorgehensweisen, die größere Einheiten als den Einzellaut verwenden (insbesondere Silben, Wörter)
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Beispiele: Minimalpaar-Sprechapraxie:MinimalpaartherapieMinimalpaartherapie:SprechapraxieTraining (Wambaugh 2004), Schlüsselworttechnik (Wertz, La Pointe und Rosenbek 1984), Metrischer Übungsansatz (Jaeger und Ziegler 1993; Ziegler und Jaeger 1993)
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Bewertung: Silben und Wörter stellen natürliche sprechmotorische Einheiten dar. Koartikulatorische Anpassungen werden von Beginn an mit berücksichtigt. Die Produktion von Lauten erfolgt mit variabler Anpassung an den phonetischen Kontext (z. B. Produktion des Lauts /d/ in den Silbe /di:/ vs. /du:/). In Einzelfällen kann es notwendig sein, zur Verdeutlichung spezifischer Aspekte der Lautproduktion auf die Ebene des Einzellauts zu gehen (z. B. Verdeutlichung der hinteren Artikulationszone bei der Produktion von /k/). Die Einbettung in den Silbenkontext sollte jedoch noch in der gleichen Übungssequenz erfolgen (z. B. /k/ → /ku:/)
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angepasst an die Leistungsfähigkeit des Patienten sollten geübte Strukturen stets in größere sprachliche Einheiten transferiert werden (z. B. Phrasen, Sätze, Texte)
Vermittlungstechniken
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artikulatorische Techniken: nutzen unterschiedliche Sinnesmodalitäten
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auditive Vermittlungstechniken: auditives Modell des Therapeuten, Erklärung von BewegungsabläufenBewertung: das auditive Modell ist eine äußerst wirksame Hilfe. Die Wirksamkeit wird in neuronalen Verbindungen zwischen auditiven Repräsentations- und sprechmotorischen Planungsarealen vermutet
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visuelle Vermittlungstechniken: Mundbild des Therapeuten, visuelle Eigenkontrolle mit dem Spiegel, Einsatz schematischer Mundbilder (z. B. Sagittalschnitte des Vokaltrakts)Bewertung: das Mundbild des Therapeuten stellt eine äußerst wirksame Hilfe dar. Es liegt die Annahme zugrunde, dass sprechmotorische Zentren mit Arealen der visuellen Informationsverarbeitung von Sprechbewegungen assoziiert sind. Von Verfahren, die eine Übertragung komplexer graphischer Informationen (z. B. schematische Mundbilder) auf den eigenen Vokaltrakt erfordern, können viele Patienten nicht profitieren. Achtung: Sprecher besitzen keine natürliche visuelle Repräsentation der eigenen Sprechbewegungen. Der Einsatz des Spiegels wird von Patienten nicht selten abgelehnt.
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taktil-kinästhetische Vermittlungstechnik: Artikulationsbewegungen werden durch Berührungsreize (z. B. Finger, Spatel, Wattestäbchen) an spezifischen Stellen intraoral und im Gesichtsbereich fazilitiert, z. B. Stimulation des Zahndamms mit dem Spatel zur Verdeutlichung der alveolaren Lautbildung. Ein bekanntes Verfahren stellt das sog. PROMPT-System (Square-Storer und Hayden 1989) und dessen deutsche Adaptation TAKTKIN (Birner-Janusch 2001) dar.Bewertung: Die Wirksamkeit des PROMPT-Systems wurde in zahlreichen Studien bestätigt (Kap. 10.3). Manche Patienten lehnen Manipulationen im fazio-oralen Bereich ab
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prosodische Sprechapraxie:prosodische TechnikenTechniken: nutzen das Prinzip der rhythmisch-melodischen Strukturierung zur Fazilitierung von Artikulationsbewegungen (Wertz et al. 1984)
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externe und interne Taktgeber: die sprachlichen Reaktionen werden an einen vorgegebenen oder intern generierten Takt gekoppelt, z. B. Einsatz eines Metronoms (externer Taktgeber) oder eines Pacingboards (interner Taktgeber).Bewertung: Taktgeber-Techniken sind effektive Hilfen zur Steigerung der artikulatorischen Präzision. Die Natürlichkeit des Sprechens kann durch die starre rhythmische Gliederung jedoch erheblich leiden. Von einem Einsatz als Sprechtechnik wird aus diesem Grund abgeraten
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Verfahren der Kontrastiven Akzentuierung:Sprechapraxie:kontrastive Akzentuierung Kontrastive Akzentuierung:SprechapraxieÄußerungen werden mit unterschiedlicher prosodischer Fokussierung realisiert, wobei rhythmische Struktur und melodische Aspekte verstärkt werden. Beispiel: „Anna spielt Tennis.“: „Wer spielt Tennis?“ → „Anna spielt Tennis.“; „Was spielt Anna?“ → „Anna spielt Tennis.“Bewertung: Die prosodische Hervorhebung begünstigt die artikulatorische Präzision. Bei Patienten mit monotoner Sprechweise kann die Technik zudem die Natürlichkeit des Sprechens fördern
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Es existieren nur wenige Verfahren, die die Verbesserung prosodischer Störungsaspekte primär fokussieren. Zur Steigerung der Redeflüssigkeit empfiehlt sich die Verwendung von rhythmisch strukturiertem Sprachmaterial. Insbesondere die Verwendung des trochäischen Fußmusters scheint sich begünstigend auszuwirken (Beispiele: „'Kei.ne , 'Sor.ge“, „'Vie.le , 'Grü.ße“, „'Mei.ne 'Tan.te 'lieb.te 'Blu.men“). Metrisch strukturiertes Material bieten z. B. Gedichte und Kinderreime. Wörter mit „Silbengelenk“ (z. B. „Kis.sen“, „Wan.ne“) eignen sich zur Reduktion intersilbischer Pausen. Zur Verbesserung monotonen Sprechens bieten sich Techniken an, die melodische Aspekte fokussierenBeispiel: Einsatz von „übertriebener“ Intonation im Rollenspiel, Kopplung von betonten Äußerungsteilen an Bewegungen (z. B. Ball prellen, stampfen, „Sprechzeichnen“). Lauer and Birner-Janusch (2010) verweisen auf den Einsatz der Akzentmethode in der Sprechapraxietherapie
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gestische Vermittlungstechniken: nutzen Gesten (meist Handgesten), um artikulatorische Bewegungsprogramme (z. B. einzelne Laute) anzubahnen bzw. zu fazilitieren. Ein bekanntes Verfahren stellt die Erweiterte Mediationstechnik für Sprechapraxie (EMS) dar (Shell 2001)
Bewertung: die Techniken eignen sich insbesondere zur Deblockierung bei Patienten mit Initiierungsstörungen. Der Ansatz erfordert die Fähigkeit, neue (Hand-)bewegungen zu erlernen und diese mit Sprachlauten zu koppeln. Das Vorliegen einer Gliedmaßenapraxie muss ausgeschlossen werden.
Es gilt das therapeutische Prinzip, nur so viele Hilfen einzusetzen, wie unbedingt erforderlich. Die Therapie sollte stets den Abbau von Hilfen und die Förderung von selbst initiierten sprachlichen Äußerungen anstreben (Staiger und Aichert 2010b).
Sprechmotorische Lernprinzipien
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Übungsfrequenz: eine große Zahl an Wiederholungen ist entscheidend für den (Wieder-)erwerb sprechmotorischer Bewegungsmuster. Als geeignete Behandlungsform bietet sich die Intensivtherapie (Intervalltherapie) an (Aichert und Staiger 2017; Aichert und Ziegler 2010)
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Setgröße sprachlicher Übungseinheiten: das Üben mehrerer verschiedener Stimuli führt, bei etwas geringerem Erwerbstempo, zu besseren Generalisierungs- und Nachhaltigkeitseffekten. Yorkston, Beukelman, Strand and Bell (1999) empfehlen bei schwerer Sprechapraxie Setgrößen von ca. 5–7 Äußerungen
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geblockte vs. abwechselnde Stimulusdarbietung: das Üben mit abwechselnden sprachlichen Stimuli ist dem blockweisen Lernen beim Erwerb sprechmotorischer Muster überlegen (Knock, Ballard, Robin und Schmidt 2000). Übergeneralisierungen und Perseverationstendenzen kann effektiver entgegengewirkt werden (Wambaugh, Martinez, McNeil und Rogers 1999)
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Variabilität der Übung: sprechmotorisches Lernen wird unterstützt, wenn die geforderten Bewegungsmuster und -sequenzen in unterschiedlichen sprachlichen Kontexten produziert werden (Maas, Barlow, Robin und Shapiro 2002). Beispiel: Veränderung des koartikulatorischen Kontexts (z. B. Variation der Vokalumgebung /b/ in /ba:/, /bi:/, /bu:/)
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Therapeutisches Feedback: sprechmotorisches Lernen wird begünstigt, wenn therapeutisches Feedback nicht zu häufig, nicht zu spezifisch und nicht unmittelbar nach der Reaktion angeboten wird (Yorkston et al. 1999)
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Aufmerksamkeitsfokus: für motorisches Lernen erscheint es günstiger, die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Bewegungsvorgang (z. B. Kontrolle der Zungenposition) hin zum Resultat der Bewegung (das auditive Ergebnis) zu lenken (Wulf und Schmidt 1989)
Therapieverfahren
10.3
Leitlinien
10.3.1
Dysarthrie
10.3.2
Sprechapraxie
Fehlende Wirksamkeitsnachweise bedeuten nicht zwangsläufig, dass Verfahren unwirksam sind!