In diesem Beitrag wird der Fall eines bilingual russisch-deutschen Kindes mit einer Sprachentwicklungsstörung:semantisch-lexikalischeSprachentwicklungsstörung dargestellt. Die Diagnostik:semantisch-lexikalische EntwicklungsstörungDiagnostik ergab, dass der Schwerpunkt der Störung in der Zweitsprache Deutsch auf der lexikalischen Ebene lag, obwohl in der Erstsprache Russisch nur eine phonologische phonologische StörungStörung bestand. Die Therapie:semantisch-lexikalische EntwicklungsstörungTherapie zielte auf die Erweiterung des Wortschatzes im Deutschen ab, wobei ein bilinguales Vorgehen gewählt wurde. Vorteile und Probleme dieser Herangehensweise werden diskutiert.
14.1
Anamnese und Sprachbiografie
Artur
1 wurde im Alter von 5;1 Jahren erstmals wegen Problemen im Erwerb der deutschen Sprache im Potsdamer Zentrum für angewandte Patho- und Psycholinguistik (ZAPP) vorgestellt.
Arturs Erstsprache ist Russisch. Beide Eltern sind russische Muttersprachler, die in Russland aufgewachsen sind. Der Vater wuchs als Russlanddeutscher bilingual russisch-deutsch auf. Zu Hause wird ausschließlich Russisch gesprochen; Artur erwarb diese Sprache nach Angaben der Eltern problemlos. Über den Erwerb von wichtigen Meilensteinen, wie die Produktion der ersten Wörter und erster Zweiwortäußerungen, konnten sie keine Angaben machen. Ihnen waren keine Verzögerungen aufgefallen. Zum Zeitpunkt der Vorstellung gaben die Eltern an, dass Artur sehr gut Russisch spreche, so dass eine Unterhaltung über viele Themen und auch Erzählen möglich sei.
Der regelmäßige und frequente Kontakt mit dem Deutschen begann für Artur mit dem Eintritt in den Kindergarten im Alter von 3;0 Jahren. Somit erwarb er zum Zeitpunkt der Anmeldung im ZAPP das Deutsche seit 25 Monaten. Den Kindergarten besucht er relativ regelmäßig für ca. 6 Stunden täglich, nimmt dort jedoch keinen Kontakt mit Deutsch sprechenden Kindern auf. Sein Kontakt beschränkt sich auf die zwei anderen Kinder mit russischer Erstsprache, mit denen er ausschließlich Russisch spricht. Gegenüber der Erzieherin verwendet er einzelne deutsche Wörter. Ihr fiel außerdem sein schlechtes Sprachverständnis auf. Die Großeltern und der Vater – Russlanddeutsche aus der Wolgaregion, die fließend ihre Varietät des Deutschen sprechen – haben zu Hause gelegentlich in Alltags- und Spielsituationen versucht, mit Artur Deutsch zu sprechen, um die Entwicklung dieser Sprache zu unterstützen. Darauf reagierte Artur mit starkem AbwehrverhaltenAbwehrverhalten: Er hielt sich z. B. die Ohren zu oder verbot ihnen explizit, Deutsch zu sprechen. Die Familie und die Erzieherin interpretieren es so, dass Artur kein Deutsch lernen möchte.
Die Mutter spricht selbst sehr schlecht Deutsch und hat kaum Kontakt zur deutschen Umgebung, da sie sich überwiegend in der russischen „Community“ bewegt. Da die Eltern zum Zeitpunkt der Anmeldung vor einer Trennung standen, könnte Arturs starke Fixierung auf das Russische auch als emotionale Reaktion gewertet werden: möglicherweise empfindet er Russisch als eine Art „Sprache der Geborgenheit“.
14.2
Befunderhebung
14.2.1
Symptomatik im Russischen
Die Überprüfung der Fähigkeiten im Russischen wurde durch eine Sprachtherapeutin (Annegret Klassert), die Russisch als Fremdsprache erworben hat, in Zusammenarbeit mit der Mutter durchgeführt. Verwendet wurde der „Sprachstandstest
Sprachstandstest RussischRussisch“ (
Gagarina, Klassert & Topaj 2010). Dieses Verfahren erfasst die lexikalischen und grammatischen Fähigkeiten im Russischen und stellt Vergleichsdaten bilingualer Kinder zur Verfügung. Die Items der rezeptiven Tests wurden von der Mutter vorgegeben, auch die Elizitierungstests „Kasus“ und „Verbflexion“ führte die Mutter nach Instruktion durch die Therapeutin durch.
Folgende Testergebnisse zeigten sich im Einzelnen:
•
In den Untertests „Verständnis grammatischer Strukturen“, „Verbflexion“ und „Kasus“ erzielte Artur Ergebnisse im durchschnittlichen Bereich.
•
Das rezeptive Lexikon für Nomen und Verben lag im überdurchschnittlichen Bereich, das produktive Lexikon für beide Wortarten im durchschnittlichen Bereich, gemessen an den Vergleichsdaten von bilingualen Kindern.
•
Zudem wurden das Verstehen und die Produktion von russischen Nomen und Verben mit Hilfe der Items und Abbildungen aus der PDSS (patholinguistische Diagnostik von Sprachstörungen)PDSS (Kauschke & Siegmüller 2009) überprüft (Rohwerte Tab. 14.1). Aus der PDSS wurde auch der Untertest Begriffsklassifikation auf Russisch durch die Mutter durchgeführt. Hier zeigten sich altersgerechte semantische Fähigkeiten.
Beim produktiven
LexikontestLexikontest aus dem „Sprachstandstest Russisch“ zeigten sich außerdem deutliche phonologische Auffälligkeiten. Da die Laute des Russischen im Lexikontest nicht systematisch überprüft werden, liegt kein vollständiger phonologischer Befund vor. Anhand der Reaktionen im Lexikontest ergab sich folgendes Bild:
•
Reduktionen der meisten Konsonantencluster
•
/r/ tritt nicht auf, als Ersatzlaute werden /l/ und /g/ verwendet.
•
Inkonstante Substitutionen von /s/, /z/, /ʃ/ und /l/; als Ersatzlaute wurden verwendet: /v/ für /l/ und /z/, /f/ für /s/, /s/ für /ʃ/.
Bislang fehlen repräsentative Ergebnisse zum
PhonologieerwerbPhonologieerwerb des Russischen im kindlichen mono- und bilingualen Spracherwerb (vgl.
Soultanian, Mihaylov & Reich 2008). Für verschiedene Sprachen wurde jedoch festgestellt, dass das phonologische System im ungestörten monolingualen Spracherwerb bis zum Ende des 4. Lebensjahres in den Grundzügen erworben wird und phonologische Prozesse außer Unsicherheiten bei Sibilanten ab 5 Jahren nicht mehr altersgerecht sind (zum Deutschen siehe
Fox 2003,
Fox & Dodd 1999). Bei bilingualen Kindern können Unterschiede zwischen den phonologischen Systemen beider Sprachen zwar zu einer Verlangsamung der Ausspracheentwicklung führen (
Chilla, Rothweiler & Babur 2010;
Fabiano-Smith & Barlow 2010), die von Artur gezeigten Auffälligkeiten betrafen jedoch Bereiche und Laute, in denen sich das Deutsche und das Russische nicht unterscheiden. Aus diesen Gründen schätzte die Therapeutin Arturs phonologische Auffälligkeiten als Symptom einer Sprachentwicklungsstörung auf phonologischer Ebene ein.
Zusammenfassend sind Arturs sprachliche Fähigkeiten im Russischen im Vergleich zu anderen bilingualen Kindern auf grammatischer und lexikalischer Ebene als unauffällig einzustufen. Es besteht jedoch eine ausgeprägte phonologische phonologische StörungStörung.
14.2.2
Symptomatik im Deutschen
Die Fähigkeiten in der deutschen Sprache wurden mit der
PDSS (patholinguistische Diagnostik von Sprachstörungen)PDSS erfasst (
Kauschke & Siegmüller 2009). Spezifische Verfahren für Deutsch als Zweitsprache, z. B. LiSe-DaZ (
Schulz & Tracy 2011) waren zum Zeitpunkt der Testung noch nicht verfügbar.
•
Der Untertest „Verständnis syntaktischer Strukturen“ war nicht durchführbar. Auf die Satzvorgaben reagierte Artur mit wahllosem Spielen. Weitere Tests zu grammatischen Fähigkeiten waren ebenfalls nicht durchführbar.
•
In einer Spielsituation äußerte Artur nur Einzelwörter und Zweiwortkombinationen (z. B. „Auto kaputt“, „gemachen fah[ren]“, „Vogel“, „Haus“). Flektierte Verben, Artikel oder morphologische Markierungen an Nomen kamen nicht vor. Die grammatische Entwicklung im Deutschen ist somit im Vergleich zu entwicklungsunauffälligen sukzessiv-bilingualen Kindern mit gleich langer Kontaktdauer deutlich verzögert. Diese erwerben die deutsche Hauptsatzstruktur spätestens nach 12–18 Monaten Kontaktdauer (Chilla 2008, Rothweiler 2006).
•
Die rezeptiven lexikalischen lexikalische Fähigkeiten:rezeptive/produktiveFähigkeiten waren deutlich besser als die produktiven (Tab. 14.1). Gegenüber Nomen waren das Verstehen und die Produktion von Verben stärker eingeschränkt. In allen lexikalischen Untertests erreichte Artur deutlich unterdurchschnittliche T-Werte im Vergleich zu gleichaltrigen monolingual deutschen Kindern. Rezeptiv entsprachen seine Fähigkeiten denen 2-jähriger monolingual deutscher Kinder, produktiv lagen sie unter denen Zweijähriger. Der alleinige Vergleich mit den Normwerten monolingualer Kinder erlaubt nicht die eindeutige Schlussfolgerung, dass eine lexikalische Entwicklungsstörung vorliegt, da bilinguale Kinder in der L2 häufig über geringere lexikalische lexikalische FähigkeitenFähigkeiten als einsprachige Kinder verfügen (Kap. 8.3; vgl. Cobo-Lewis et al. 2002a; Golberg, Paradis & Crago 2008; Klassert 2011). In Bezug zu Erwerbsdauer (25 Monate) und Inputmenge (regelmäßiger Kontakt mit dem Deutschen im Kindergarten ca. 6 Stunden am Tag) mussten Arturs lexikalische Fähigkeiten im Deutschen jedoch als deutlich auffällig eingestuft werden, da der Abstand zu monolingualen Kindern erheblich war2
.
Der Lautbefund wurde fast ausschließlich über Nachsprechen erhoben. Es zeigten sich folgende phonologische Auffälligkeiten:
•
Reduktionen bzw. Auslassungen der meisten Konsonantencluster
•
Meist inkonstante Substitutionen von /v/, /s/, /z/, /ʃ/, /ç/, /l/; als Ersatzlaute wurden /b/ für /l/ und /v/, /f/ für /s/, /z/ und /ç/, /v/ für /z/, /s/ für /ʃ/ verwendet.
•
Der Subtest zur Phonemdifferenzierung war aufgrund der starken lexikalischen Einschränkungen nicht durchführbar.
Im Deutschen zeigt sich zusammenfassend eine deutliche Beeinträchtigung im Erwerb des Lexikons, wenn man die lexikalischen Fähigkeiten in Bezug zu Erwerbsdauer und Inputmenge setzt. Das LexikonLexikon ist so stark eingeschränkt, dass der Erwerb der syntaktischen Meilensteine noch nicht erfolgen konnte. Auch die phonologische Entwicklung wird als deutlich auffällig eingestuft.
14.2.3
Gesamtwortschatz
Das
GesamtwortschatzVerstehen und Benennen von Nomen und Verben wurde mit Hilfe der lexikalischen Tests aus der
PDSS (patholinguistische Diagnostik von Sprachstörungen)PDSS für beide Sprachen überprüft, um auf dieser Basis das konzeptuelle
Vokabular:konzeptuellesVokabular zu ermitteln. Dabei wurde bewertet, wie viele von jeweils 20 Bildern das Kind in mindestens einer Sprache korrekt benennen bzw. erkennen kann (
Kap. 8.3). Die detaillierten Ergebnisse sind in
Tabelle 14.1 dargestellt. Rezeptiv erreichte Artur im konzeptuellen
Vokabular:rezeptives konzeptuellesVokabular T-Werte im unauffälligen Bereich der monolingualen deutschen Altersnorm. Produktiv lagen seine Fähigkeiten für Nomen im durchschnittlichen Bereich im Vergleich zu gleichaltrigen monolingualen Kindern, für Verben deutlich im unterdurchschnittlichen Bereich. Aus der Betrachtung des konzeptuellen Vokabulars ergibt sich im Hinblick auf die
BenennfähigkeitenBenennfähigkeiten für Verben ein klarer Hinweis auf eine lexikalische Entwicklungsstörung für diese Wortart, wenn man davon ausgeht, dass bilinguale Kinder im konzeptuellen Vokabular, also unter Berücksichtigung beider Sprachen, einen ähnlichen Entwicklungsstand wie monolinguale Kinder in ihrer Muttersprache aufweisen (
Kap. 8.3 zur Diskussion dieser Frage). Das Benennen von
Verben:BenennfähigkeitVerben ist auch im Russischen eher schwach, während die lexikalischen Fähigkeiten im Deutschen wortart- und modalitätsübergreifend stark eingeschränkt sind.
14.2.4
Diagnosestellung
Bei Artur zeigt sich eine spezifische SSES (spezifische Sprachentwicklungsstörung):DiagnosestellungSprachentwicklungsstörung, die beide Sprachen in unterschiedlicher Weise betrifft. Hinweise auf eine Intelligenzminderung oder sonstige Entwicklungsbeeinträchtigungen gab es nicht, wobei dies nicht eigens durch nonverbale Testverfahren überprüft wurde. Während im Deutschen eine übergreifende Sprachentwicklungsstörung:übergreifende (auf allen Ebenen)Sprachentwicklungsstörung vorliegt, die sich auf alle sprachlichen Ebenen auswirkt, zeigt sich die Symptomatik im Russischen vorrangig auf phonologischer Ebene.
Im Deutschen sind die Ebenen Phonologie, Lexikon und Syntax betroffen, wobei auf allen Ebenen massive Rückstände zu finden sind. Da erst durch ein ausreichend entwickeltes Lexikon ein Einstieg in den
GrammatikerwerbGrammatikerwerb (
Dale et al. 2000,
Devescovi et al. 2005) und eine Ausdifferenzierung des phonologischen Systems (
McKean, Letts & Howard 2013) erfolgen kann, ist auch in diesem Fall davon auszugehen, dass die Symptome auf der phonologischen und grammatischen Ebene Folgen der erheblichen Einschränkung der lexikalischen Fähigkeiten darstellen. Die produktive phonologische
phonologische StörungStörung ist im Russischen und Deutschen ähnlich ausgeprägt. In beiden Sprachen gibt es Probleme im Erwerb der Konsonantencluster sowie Substitutionen der Zischlaute und von /l/.
Aus der Gesamtheit der Befunde lassen sich Hypothesen über die funktionale Ursache der starken lexikalischen Erwerbsstörung im Deutschen ableiten. Die phonologische Störung in beiden Sprachen erlaubt den Rückschluss, dass schwache phonologische Verarbeitungsfähigkeiten den Aufbau ausdifferenzierter Wortformen:AusdifferenzierungWortformen im Deutschen behindern. Aus der Diskrepanz zwischen rezeptiven und produktiven Fähigkeiten im konzeptuellen Vokabular sowie im Deutschen kann außerdem geschlossen werden, dass Wortformen im Deutschen bereits partiell aufgebaut wurden und daher verstanden werden, jedoch nicht ausdifferenziert genug für eine sichere Produktion sind. In den semantischen Fähigkeiten ist kein Störungsschwerpunkt zu sehen, der sich auf den WortzugriffWortzugriff negativ auswirken könnte.
14.3
Therapeutisches Vorgehen
Das Therapieziel war die Erweiterung des Wortschatzes im Deutschen
3. Der Schwerpunkt lag im Aufbau neuer Wortformen und in der genauen Ausdifferenzierung bereits vorhandener Wortformen durch eine phonologische
phonologische ExplorationstherapieExplorationstherapie (vgl.
Glück 2003) mit hochfrequenten Wiederholungen.
Die WortschatzarbeitWortschatzarbeit umfasste Bedeutungs- sowie Wortformaspekte. Für die Verknüpfung mit den Konzepten sollte direkt auf die gut entwickelten lexikalischen Fähigkeiten im Russischen zurückgegriffen werden. Dies wurde durch eine Übersetzung der Zielitems ins Russische erreicht. Verben wurden außerdem stets mit ihrer Argumentstruktur angeboten, um das Satzverstehen und die spätere Produktion der Verben auf Satzebene zu ermöglichen.
Als Methoden der phonologischen
Exploration:phonologischeExploration wurden eine verlangsamte, gedehnte und segmentierte Vorgabe der Zielitems sowie die Arbeit mit Minimalpaaren eingesetzt. Die
MinimalpaararbeitMinimalpaararbeit diente dabei nicht der Behandlung der phonologischen Prozesse. Vielmehr zielte die Therapie darauf ab, von einer ganzheitlichen, ungenauen Abspeicherung der
Wortformen:AusdifferenzierungWortformen zu einer Ausdifferenzierung phonologischer Details zu gelangen. Diese Vorgehensweise lehnt sich an Mechanismen an, die aus dem frühen Lexikonerwerb bekannt sind. Für den ungestörten monolingualen Spracherwerb wurde gezeigt, dass die phonologische Nachbarschaft das Lernen von Wörtern bei 2-jährigen Kindern begünstigt, da durch eine hohe Anzahl von Wörtern mit phonologischer Nachbarschaft die Ausdifferenzierung phonetischer Details ausgelöst und so eine akkurate Abspeicherung und Reproduktion ermöglicht wird (
Grimm 2012).
Da Artur aus der Diagnostik und aus der Kommunikation zwischen Mutter und Therapeutin wusste, dass die Therapeutin das Russische beherrschte, benutzte er diese Sprache gleich vom Erstkontakt an. Eine wichtige Frage für die Gestaltung des therapeutischen TherapiesettingSettings war daher, wie mit Äußerungen des Kindes umzugehen ist, die in der L1 erfolgen (Kap. 8.3). Für die Therapie mit Artur wurde festgelegt, dass seine russischen Äußerungen unmittelbar von der Therapeutin auf Deutsch wiederholt wurden. Obwohl die Therapeutin Russisch als Fremdsprache erworben hat, sprach sie in der Therapie ausschließlich Deutsch, außer bei der Einzelwortvorgabe der Zielitems auf Russisch, um sie mit bereits vorhandenen Konzepten zu verknüpfen. Wenn die erarbeiteten Wörter sicher verstanden und produziert wurden, konnten die nächsten Items eingeführt werden.
Der Aufbau der Therapie (
Tab. 14.2) orientierte sich an den Methoden und Techniken des Patholinguistischen Ansatzes für
PLAN (patholinguistischer Ansatz für Sprachentwicklungsstörungen)Sprachentwicklungsstörungen (PLAN,
Siegmüller & Kauschke 2006).
14.4
Therapieverlauf
Die Therapie wurde meist 2× (teilweise 1×) wöchentlich über 35 Sitzungen durchgeführt. Die Auswahl der Themenfelder orientierte sich an den Interessen des Kindes. Es wurde in den Themenfeldern „Gebäude“, „Lebensmittel“, „Kleidung und Körperteile“ sowie „Fahrzeuge“ gearbeitet.
In der Regel waren 2–4 Sitzungen erforderlich, bis neue Zielitems sicher produziert werden konnten. Bei einem Teil der Zielitems konnte sehr schnell zur Produktion übergegangen werden. Dies waren vermutlich Wörter, für die bereits eine rudimentäre Wortform abgespeichert war.
14.4.1
Veränderung von Arturs Sprachverhalten in und außerhalb der Therapie
In freien Gesprächen sprach Artur mit der Therapeutin ausschließlich Russisch. Die Therapeutin wiederholte seine Aussagen grundsätzlich auf Deutsch und antwortete auf Deutsch. Auch im freien Spiel und in Gesellschaftsspielen war eine starke SprachpräferenzSprachpräferenz für das Russische zu sehen. Nach den ersten 10 Sitzungen ging Artur allmählich dazu über, in sehr strukturierten Spielen (vorzugsweise Brettspielen) teilweise Äußerungen auf Deutsch zu produzieren. Der Anteil stieg kontinuierlich. Bei einigen Brettspielen und auch beim Einkaufsspiel äußerte er sich nun vollständig auf Deutsch. Sobald Artur also im Deutschen über ausreichende sprachliche Fähigkeiten verfügte, um eine Kommunikationssituation zu bewältigen, verwendete er diese Sprache auch. Nach ca. 20 Sitzungen berichteten die Angehörigen, dass er jetzt im Kindergarten und auf dem Spielplatz mit deutschen Kindern spielte und sich auch in anderen Situationen mit monolingual deutschen Erwachsenen unterhielt.
Nach 30 Sitzungen war Artur zwei Wochen lang krank. Während dieser Zeit spitzte sich der Konflikt zwischen den Eltern so zu, dass sie auseinander zogen. Nach der Krankheit sprach Artur mit der Therapeutin auch in Spielsituationen, in denen er vorher Deutsch gesprochen hatte, nur noch Russisch. Rezeptive Übungen waren weiterhin möglich, doch produktive Übungen lehnte er ab. Seine deutlichen Abwehrreaktionen legen die Vermutung nahe, dass sein Festhalten an der Muttersprache aus der problematischen Familiensituation erklärbar sein könnte. Auf diese Problematik sollte in interdisziplinärer Zusammenarbeit, z. B. in Form einer Familien- oder Spieltherapie, eingegangen werden.
14.4.2
Die Angehörigen
Mit den Angehörigen wurde von Anfang an besprochen, warum es wichtig war, das Russische in die Therapie einzubeziehen. Von Zeit zu Zeit äußerten sie ihre Unzufriedenheit mit der Tatsache, dass Artur in der Therapie so viel Russisch sprach. Diese Unzufriedenheit steigerte sich noch, als Artur nach seiner Krankheit innerhalb der Therapie wieder völlig zur russischen Sprache zurückkehrte, obwohl er in Situationen, in denen er deutsch sprechen musste (z. B. mit seiner Erzieherin in der Kita) über gute kommunikative Fähigkeiten verfügte. Deshalb musste mit den Angehörigen immer wieder erörtert werden, welche Gründe es gibt, das Russische in der Sprachtherapie zu akzeptieren:
•
dass Artur wesentlich schneller deutsche Wörter lernt, wenn man ihm durch direkte Übersetzung die Verknüpfung zum vorhandenen Wortschatz im Russischen ermöglicht und
•
dass das direkte Feedback auf Deutsch zu seinen russischen Äußerungen ihm die sprachlichen Mittel zur Verfügung stellt, über die er aktuell noch nicht verfügt.
Dadurch böte man ihm die Möglichkeit, in allen Situationen sprachlich zu interagieren, während eine Beschränkung auf das Deutsche in vielen Situationen nur eine sehr begrenzte Kommunikation bedeutet hätte. Den Angehörigen wurde deutlich gemacht, dass Artur nur in der Therapie (einer bilingualen Situation) von der Option der Sprachwahl Gebrauch machte, während er in monolingualen Situationen (z. B. bei der Ergotherapeutin) beim Deutschen blieb.
Nach 35 Sitzungen brachen die Angehörigen die Therapie jedoch abrupt ab. Obwohl sie organisatorische Gründe angaben, ist zu vermuten, dass sie sich einen monolingualen Therapierahmen suchen wollten. Wegen des Abbruchs konnte leider auch keine Verlaufsdiagnostik erfolgen.
14.4.3
Resultate der Therapie
Eine Erfolgskontrolle durch Testverfahren war aus dem oben geschilderten Grund nicht möglich. Es gibt jedoch deutliche Hinweise auf eine
Wirksamkeit:WortschatztherapieWirksamkeit der
Therapie:WirksamkeitTherapie. So zeigte sich, dass Artur die Zielitems und einige thematisch in der
InputspezifizierungInputspezifizierung und im Spiel zusätzlich verwendete Wörter stabil in seinen Wortschatz übernahm. Sein sprachliches Verhalten außerhalb der Therapie spricht außerdem dafür, dass Artur im Deutschen in einen
WortschatzspurtWortschatzspurt eingetreten war sowie Hemmungen in der Verwendung dieser Sprache abgebaut hatte. Zusätzlich produzierte er im Deutschen (zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem er in der Therapie noch Deutsch sprach) zunehmend Sätze mit Verbzweitstellung und flektierten Verben. Dieser Fortschritt im Bereich der Syntax spricht dafür, dass durch die wachsenden lexikalischen
lexikalische Fähigkeiten:und grammatische Fähigkeiten, WechselwirkungFähigkeiten auch grammatische Entwicklungsschritte angestoßen werden konnten. Wechselwirkungen zwischen lexikalischen und grammatischen Fähigkeiten sind auch für bilinguale Kinder durch Studien belegt (
Marchman, Martínez-Sussmann & Dale 2004;
Simon-Cereijido & Gutierrez-Clellen 2009).
14.5
Schlussfolgerungen über den Einzelfall hinaus
Der dargestellte Fall zeigt, dass sich lexikalische
lexikalische StörungenStörungen bei bilingualen Kindern nicht immer in beiden Sprachen manifestieren müssen. Artur verfügte im Russischen, d. h. in der Sprache, in der er eine gute Inputsituation und eine hohe Erwerbsmotivation hatte, über gute lexikalische Fähigkeiten. Im Deutschen fiel jedoch eine starke lexikalische Erwerbsstörung auf, obwohl die Inputsituation für den Spracherwerb ausreichend sein sollte. Die genaue Diagnostik deutet darauf hin, dass die emotional ablehnende Haltung nicht die alleinige Ursache für die Erwerbsstörung im Deutschen sein konnte. Vielmehr bestanden offensichtlich Defizite in der phonologischen Verarbeitung.
•
In der Sprache mit guten ErwerbsbedingungenErwerbsbedingungen (Russisch) äußerten sich diese ausschließlich in einer ausgeprägten phonologischen Störung.
•
Im Deutschen, der Sprache mit weniger günstigen Erwerbsumständen, führten sie zu einer übergreifenden Sprachentwicklungsstörung:übergreifende (auf allen Ebenen)Sprachentwicklungsstörung, bei der nicht nur die phonologische, sondern auch die lexikalische Entwicklung massiv beeinträchtigt war, was wiederum ein Entwicklungshindernis für die Grammatikentwicklung darstellte.
In Bezug auf das therapeutische Setting kann davon ausgegangen werden, dass die Einbeziehung der Erstsprache in die Therapie:Einbeziehung der ErstspracheTherapie den Aufbau des Lexikons in der Zweitsprache (hier im Deutschen) beschleunigt. Die Übersetzung verkürzt die Bedeutungserschließung im Deutschen durch den direkten Bezug zur L1, in der entsprechende Bedeutungen bereits erworben wurden. Das Kind kann sich somit auf die Zuordnung der deutschen Wortform zu einer bereits im Russischen erworbenen Bedeutung konzentrieren. Zudem können so auch sprachspezifische Unterschiede deutlich gemacht werden. Durch die Konzentration auf die phonologische phonologische ExplorationstherapieExploration:phonologischeExploration der deutschen Zielitems und die Bezugnahme auf das Russische konnte die Wortschatzentwicklung im vorliegenden Fall entscheidend vorangebracht werden. Eine semantische Exploration:semantischeExploration im Deutschen, die durch die geringen Sprachverständnisfähigkeiten ohnehin erschwert gewesen wäre, ist nur dann erforderlich, wenn es Unterschiede zwischen den Bedeutungskonzepten beider Sprachen gibt (Kap. 8.3). Das dargestellte Vorgehen war nur möglich, weil die lexikalischen Fähigkeiten im Russischen und auch die allgemeinen semantischen Fähigkeiten so gut entwickelt waren. Andernfalls wäre natürlich eine ausführlichere semantische semantische ExplorationExploration notwendig.
Weitere interessante Beobachtungen ergeben sich aus der Sprachwahl im vorgestellten Fall. Das Kind durfte in der Therapie die Sprache verwenden, in der es adäquat kommunizieren kann, wobei die Therapeutin konsequent Deutsch sprach (bis auf die Übersetzung der Zielitems in der Übungssituation). Dieses Vorgehen ermöglicht es, Hemmungen gegenüber der deutschen Sprache abzubauen. Zumindest im geschützten Rahmen der Therapie muss das Kind das Deutsche nur dann verwenden, wenn seine Fähigkeiten ausreichend sind, um die Kommunikationssituation zu bewältigen. Damit hat es Erfolgserlebnisse, d. h. es erlebt sich selbst als in der Lage, in zumindest einer Sprache erfolgreich zu kommunizieren. Eine Generalisierung dieses Erlebens zeigte sich bei Artur in der Kontaktaufnahme zu deutsch sprechenden Kindern im Kindergarten. Die direkte Bezugnahme auf die russischen Äußerungen des Kindes durch die Therapeutin auf Deutsch stärkt zusätzlich die Verbindung zwischen den Sprachen. So fällt es dem Kind leichter, Wortformen in der L2 zu Bedeutungen, die bereits in der L1 erworben wurden, zuzuordnen. Die Therapeutin musste jedoch in Kauf nehmen, dass Artur durch die Möglichkeit der Sprachwahl in der Therapie nur eingeschränkt die deutsche Sprache verwendete.
Der dargestellte Fall zeigt auch, wie wichtig und schwierig es ist, der Umgebung deutlich zu machen, dass ein bilinguales Kind davon profitiert, wenn man die L1 in die Therapie der L2 einbezieht. Verbreitet wird die Ansicht vertreten, dass ein mehrsprachiges Kind, das in einer Sprache Probleme hat, nur noch diese Sprache verwenden sollte. Auch Ärzte und Erzieher empfehlen häufig, die L1 zu vernachlässigen, um das Deutsche zu stärken. Dabei ist es kaum möglich und nicht wünschenswert, ein Kind zu einem von der Außenwelt gewählten Sprachgebrauch zu zwingen. Vielmehr trifft es die Sprachwahl selbst, sofern die Situation eine Auswahl erlaubt. Diese Möglichkeit stärkt die Eigenverantwortung und die Persönlichkeit des Kindes als bilingualer Sprecher. Für die Schaffung eines bilingualen Therapiesetting:bilingualesTherapiesettings gab es, wie oben dargestellt, vielfältige Gründe, die den Angehörigen immer wieder transparent gemacht wurden. Trotzdem überwog bei ihnen wahrscheinlich der Eindruck, das Kind würde nicht ausreichend therapeutisch unterstützt, wenn es weiter Russisch sprechen darf. Die Vermittlung des bilingualen Vorgehens in der Therapie bleibt somit eine große Herausforderung, vor der man in jedem einzelnen Fall wieder steht.