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978-3-437-44506-4
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Laut- und Schriftspracherwerb von gehörlosen und schwerhörigen Kindern
20.1
Einleitung
•
Als sprachliche Entwicklungsverzögerung:sprachlicheEntwicklungsverzögerung lässt sich ein Erwerbsverlauf charakterisieren, bei dem ein eigentlich altersentsprechender Entwicklungsprozess zeitlich verzögert abläuft, der Abstand zur Altersnorm aber irgendwann wieder aufgeholt wird.
•
Wenn sich Erwerbsverläufe nicht nur verzögert, sondern qualitativ anders vollziehen, muss von sprachlichen Entwicklungsstörungen:sprachlicheEntwicklungsstörungen gesprochen werden.
20.2
Den Spracherwerb beeinflussende Faktoren
20.2.1
Intake und Input
20.2.2
Art und Grad der Hörbeeinträchtigung sowie technische Versorgung
20.2.3
Einfluss der gebärdensprachlichen Mehrsprachigkeit
•
Deren Befürworterinnen argumentieren, eine frühe Förderung Frühförderung:Gebärdensprachemit einer Gebärdensprache wie der DGS könne auch den Erwerb der Lautsprache unterstützen, und verweisen auf Studien, denen zufolge gehörlose Schülerinnen mit guten Gebärdensprachkenntnissen auch bessere schriftsprachliche Kompetenzen erwerben (Günther et al. 2009, Becker 2012).
•
Ihnen stehen Vertreterinnen einer konsequent hörgerichteten (auralen oder auditiv verbalen) Frühförderung:hörgerichteteFrühförderung gegenüber, die keine Gebärden oder Gebärdensprache einbeziehen wollen. Sie verweisen auf Studien, denen zufolge hörgeschädigte Kinder in rein lautsprachlichen Förderzusammenhängen bessere lautsprachliche Kompetenzen haben als Kinder, die zusätzlich durch Gebärden oder Gebärdensprache gefördert werden (Geers 2006).Allerdings sind diese Vergleichsstudien nicht kontrolliert. Daher kann weder von merkmalsgleichen Gruppen noch von einem gebärdensprachlichen Angebot hoher Qualität ausgegangen werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die sprachliche Erwerbssituation von gehörlosen und schwerhörigen Kindern vielschichtig ist und von einer Reihe interagierender Faktoren beeinflusst wird. Etliche der Faktoren sind jedoch umstritten und wissenschaftlich nicht eindeutig belegt. Zugleich erwirbt bekanntlich ein großer Teil der gehörlosen und schwerhörigen Kinder und Jugendlichen keine altersgemäßen Laut- und Schriftsprachkompetenzen. Deshalb ist eine besondere Förderung notwendig; das Beharren auf einer Methode für alle diese Kinder und Jugendlichen erscheint aber nicht gerechtfertigt. Eine den verschiedenen Sprachen gegenüber offene Herangehensweise, bei der der eingeschlagene Weg immer wieder überprüft und ggf. korrigiert wird, dürfte der empirischen Ausgangslage und den vielfältigen Lebensmodellen von hörgeschädigten Menschen am ehesten gerecht werden.
Intake
Art und Grad des Hörverlusts
•
SchallleitungsschwerhörigkeitSchallleitungsschwerhörigkeit: betroffen ist die Übertragung des Schalls im Mittelohr.
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SchallempfindungsschwerhörigkeitSchallempfindungsschwerhörigkeit: betroffen ist die Umwandlung des Schalls in neuronale Impulse im Innenohr bzw. die Weiterleitung durch den Hörnerv.
•
Kombinierte Schwerhörigkeit:kombinierteSchwerhörigkeit: mit Schallleitungs- und Schallempfindungskomponente
•
Der Hörverlust wird zudem nach dem Durchschnittswert über die Frequenzen 500, 1.000, 2.000 und 4.000 Hz klassifiziert (Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie 2005)
–
40–60 dB = mittelgradige Schwerhörigkeit
–
60–90 dB = hochgradige Schwerhörigkeit
–
ab 90 dB = Gehörlosigkeit oder Taubheit
Alter beim Erwerb/bei der Diagnose der Hörbeeinträchtigung
•
Bereits von Geburt an und damit vor Beginn des Spracherwerbs im engeren Sinne bestehende (prä- oder postlinguale Hörbeeinträchtigungprälinguale) Hörbeeinträchtigung:prä- oder postlingualeHörbeeinträchtigung
•
Nach Erwerb der Sprache auftretende (postlinguale) Hörbeeinträchtigung (Leonhardt 1999)
•
Kinder mit früh erkannten Hörschädigungen zeigen tendenziell oder eine signifikant bessere lautsprachliche Entwicklung als Kinder mit späterer Diagnose (Kennedy et al. 2006, Yoshinaga-Itano et al. 2001). Dieser Effekt lässt sich bei leicht bis mittelgradig schwerhörigen Kindern nicht immer eindeutig nachweisen (Norbury et al. 2001).
Art der Versorgung (Hörgeräte oder CI)
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Kinder mit einem Hörverlust von mehr als 35 dB werden üblicherweise direkt nach der Diagnose mit Hörgeräten versorgt, z. T. bereits im Alter von wenigen Monaten.
•
Die ein- oder beidseitige Cochlea-Cochlea-Implantat (CI)Implantat-Versorgung hängt von der Familiensituation und der jeweiligen ärztlichen Beratungspraxis ab. Die klassische Indikation ist ein Hörverlust von mehr als 95 dB (Schattke 2012), wobei empirische Untersuchungen in Schulen zeigen, dass auch Kinder mit einem Hörverlust von 70–90 dB zunehmend mit CIs versorgt werden (Hintermair 2005).
Zusätzliche Aspekte
•
Bei früher Diagnose finden die meisten Implantationen im 2. Lebensjahr statt (Aschendorff et al. 2009), es gibt aber eine zunehmende Tendenz zu Implantationen bei Kindern unter 12 Monaten (Lesinski-Schiedat et al. 2005). Noch ist nicht abschließend geklärt, ab welchem Alter eine CI-Versorgung die beste Entwicklung verspricht. Eine Implantation im Alter unter 24 Monaten scheint in Bezug auf die Sprachentwicklung leichte Vorzüge gegenüber einer späteren Implantation zu haben; für die Notwendigkeit einer sehr viel früheren Implantation gibt es aber derzeit keine überzeugenden wissenschaftlichen Belege (Szagun 2010).
•
Bei 21–43 % der Kinder mit einer Beeinträchtigung des Hörens liegen weitere Entwicklungsproblematiken vor (Hintermair & Strauß 2008). Über die sprachlichen Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kinder lassen sich keine pauschalen Aussagen treffen. Es ist aber anzunehmen, dass mehrfache Beeinträchtigungen eine sprachliche Entwicklungsverzögerung verstärken können.
Input
Familiensituation
•
Sozialer sozialer HintergrundHintergrund: Bei Kindern mit einem CI erweisen sich das Bildungsniveau der Mütter (und vermutlich das dadurch bedingte Förderverhalten) und das Familieneinkommen als sicherste Prädiktoren für eine gelingende Lautsprachentwicklung (Szagun 2010, Niparko et al. 2010).
•
Mehr- oder einsprachiger Familienhintergrund (lautsprachlich): Die Situation von gehörlosen und schwerhörigen Kindern, die mit mehreren Lautsprachen aufwachsen und einen Migrationshintergrund haben, ist nur ungenügend erforscht (Große 2004). Studien zeigen jedoch, dass diese Kinder häufig signifikant schwächere Ergebnisse in der Laut- und Schriftsprache erreichen als gleichaltrige monolinguale hörgeschädigte Kinder (Hennies 2010a, Teschendorf et al. 2011). Unklar ist, ob die zusätzlichen Lautsprachen oder mit einem Migrationshintergrund einhergehende soziale Voraussetzungen dafür verantwortlich sind.
•
Mehr- oder einsprachiger Familienhintergrund (gebärdensprachlich): Bei etwa 8 % der Kinder mit Beeinträchtigungen des Hörens ist mindestens ein Elternteil selbst gehörlos oder schwerhörig (Mitchell & Karchmer 2004). Zahlreiche Studien haben nachgewiesen, dass gehörlose Kinder von gehörlosen Eltern deutlich höhere Schriftsprachkompetenzen erreichen als gehörlose Kinder von hörenden Eltern und dass eine höhere Gebärdensprachkompetenz mit einer höheren Schriftsprachkompetenz korreliert (Chamberlain & Mayberry 2000).
Frühförderung
•
Es gibt hörgerichtete (rein lautsprachliche), bilinguale (gebärden- und lautsprachliche) und lautsprachliche Frühförderung:hörgerichteteFrühförderung:bilingualeFrühförderung mit dem Einsatz einzelner Gebärden. Welche Auswirkung die Art der Frühförderung hat, wird kontrovers diskutiert (siehe oben).
20.3
Lautspracherwerb gehörloser und schwerhöriger Kinder
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass es unmöglich ist, über den Sprachentwicklungsstand von gehörlosen und schwerhörigen Kindern pauschale Aussagen zu treffen.
20.3.1
Ebenen des Lautspracherwerbs
Entsprechend der Vielschichtigkeit der Lebensumstände gehörloser und schwerhöriger Kinder verläuft auch ihr Spracherwerb nicht einheitlich. In verschiedenen sprachlichen Kompetenzbereichen zeigt sich eine große Bandbreite der Ergebnisse, die nicht eindeutig auf einzelne Indikatoren zurückgeführt werden kann. Für die Förderung ist deswegen eine umfassende und methodisch vielschichtige Diagnostik notwendig, deren Ergebnisse zudem kritisch reflektiert und sensibel verwendet werden müssen.
20.3.2
Förderkonzepte im Lautspracherwerb
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es mehr Übereinstimmungen bezüglich der Erwerbsmechanismen der Lautsprache bei gehörlosen und schwerhörigen Kindern in den verschiedenen Ansätzen der Frühförderung gibt, als die Unterteilung in bilinguale oder hörgerichtete Methoden vermuten lässt. Insbesondere die Hörförderung und ein natürlicher elternsprachlicher Input, der zugleich den besonderen Bedürfnissen von Kindern mit Hörbeeinträchtigungen entgegenkommt, gelten als förderlich. Durch spezifische Förderung können zudem Artikulation, Wortschatz und Grammatik verbessert werden. Alle diese Aspekte lassen sich ohne Schwierigkeiten auch in einer mehrsprachigen Fördersituation, die die deutsche Lautsprache und die DGS einbezieht, berücksichtigen.
20.4
Schriftspracherwerb gehörloser und schwerhöriger Kinder
20.4.1
Lesemodelle
•
„direkte“ Dekodierung Dekodierenüber die orthographische Form und
•
„indirekte“ Rekodierung mit Hilfe des phonologischen Systems, bei dem die Bedeutung über Entschlüsselung der lautsprachlichen Form gefunden wird (etwa durch die Anwendung der Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln)
Zusammenfassend wird also deutlich, dass es für gehörlose und schwerhörige Kinder sehr unterschiedliche Wege zu einer funktionalen Schriftsprachkompetenz gibt, wie aufgrund der Diversität ihrer Erwerbsbedingungen und der methodischen Anleitungen auch nicht anders zu erwarten ist. Eine hohe Kompetenz in einer GebärdensprachkompetenzGebärdensprache ist eine der sichersten Voraussetzungen, um den Erwerb der Schriftsprache zu unterstützen.
20.4.2
Förderkonzepte im Schriftspracherwerb
Der Schriftspracherwerb:gehörlose/schwerhörige KinderSchriftspracherwerb gehörloser und schwerhöriger Kinder wird ebenso wie ihr Lautspracherwerb von zahlreichen Faktoren beeinflusst, weshalb sich auch hier eine hohe Variabilität in den Ergebnissen findet. Frühe und lebendige Schriftspracherfahrung, gemeinsames Lesen, frühes und nicht sanktioniertes Schreiben sowie die Konzentration auf inhaltliche Aspekte scheinen hierbei förderlich zu sein, eine einseitige Fokussierung auf Lautproduktion und -zuordnungen dagegen eher nicht.
Insbesondere für den Schriftspracherwerb dieser Kinder gilt, dass er umso erfolgreicher verläuft, je mehr sie ihn als bedeutungsvoll und motivierend erleben.
20.5
Zusammenfassung
20.6
Ausblick
Literatur
Archbold et al., 2008
Aschendorff et al., 2009
Banner and Wang, 2011
Batliner, 2012
Becker, 2012
Briscoe et al., 2001
Calderon, 2000
Carey-Sargeant and Brown, 2005
Chamberlain and Mayberry, 2000
Coltheart et al., 2001
Dehn et al., 1999
Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie, 2005
Diller, 2009
Diller et al., 2000
Eisenberg, 2007
Elliott et al., 2012
Emmorey and Petrich, 2012
Farran et al., 2009
Fleischer and Hess, 2008
Fung et al., 2005
Geers, 2006
Girardet, 2012
Große, 2004
Günther, 1985
Günther et al., 2011
Günther et al., 2009
Harris and Terlektsi, 2011
Hennies, 2010a
Hennies, 2010b
Hintermair, 2005
Hintermair and Strauß, 2008
Holt, 1993
Jeanes et al., 2000
Jerger, 2007
Jussen and Krüger, 1975
Kennedy et al., 2006
Kiese-Himmel, 2006
Kollien and Fischer, 2001
Leonhardt, 1999
Leonhardt, 2012a
Leonhardt, 2012b
Lesinski-Schiedat et al., 2005
Luckner and Cooke, 2010
Luckner and Handley, 2008
Marschark and Spencer, 2009
Mayberry et al., 2011
Mayberry et al., 2002
Mitchell and Karchmer, 2004
Moeller et al., 2007
Mollink et al., 2008
Motsch, 2010
Müller and Leonhardt, 2012
Musselman, 2000
Niparko et al., 2010
Norbury et al., 2001
Preisler et al., 2002
Roberts et al., 2004
Schäfke, 2005
Schattke, 2012
Schulte, 1980
Seidenberg and McClelland, 1989
Siebeck, 2012
Souvignier and Rühl, 2005
Spencer, 2004
Stecher and Scheub, 2009
Stocker, 2003
Svirsky et al., 2002
Swanwick and Watson, 2005
Szagun, 2010
Taft, 1979
Teschendorf et al., 2011
Thiel, 2000
Tur-Kaspa and Dromi, 2001
van Uden, 1982
Vereinte Nationen, 2006
Vogel, 2012
Vohr et al., 2008
Volpato and Adani, 2009
Wiegand and Hintermair, 2011
Whitehurst et al., 1988
Yoshinaga-Itano, 2003
Yoshinaga-Itano et al., 2001